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Kultur

Warum man Armut nicht im Selbstversuch lernen kann

Arm zu sein bedeutet oft Existenzangst und jeden Cent zweimal umzudrehen. Es bedeutet etwa, nicht schlafen zu können, weil der Kopf voller Zukunftsängste ist.

Foto: mcstudio79 | Pixabay | CC0 Public Domain

Vorsicht! Ein Trend geht um. Du brauchst Veränderung. Mediengruppe Telekommander wusste es schon immer, Trends sind mit Vorsicht zu genießen. Der neue heiße Scheiß ist offenbar, einen auf FakemindestsicherungsbezieherIn zu machen. Immer mehr Glückskinder, die von der Bedürftigkeit verschont blieben, möchten die Armutsgrenze in sich entdecken, um dann darüber in Videos oder Blogspots zu berichten.

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Die häufige Verwendung von Worten wie „Selbstversuch" oder „Selbstexperiment" in derartigen Beiträgen sagt eigentlich schon sehr viel aus. Es geht um Selbsterfahrung zum Zwecke der Selbstdarstellung. Es geht aber sicher nicht darum, nachvollziehen zu wollen, wie es wirklich ist „arm" zu sein.

So ein Experiment kommt der Realität zirka so nahe, wie ein Politiker, der in einer Talkshow behauptet, er wisse, wie sich eine 3-fache, alleinstehende Mutter mit Teilzeitjob und Mindestsicherung fühlt, weil er während seines Studiums auch mal einen finanziellen Engpass hatte. Moment, das gab es ja wirklich. Danke Herr Haimbuchner, Sie sind wirklich down to earth.

Der grüne Landessprecher Joachim Kovacs forderte in einer „Mindestsicherungs- bzw. Armuts-Challenge" (das Fugen-s wurde wohl vollends seiner einzigen Funktion beraubt) den Wiener VP-Chef Gernot Blümel heraus. Blümel sollte einen Monat von der Mindestsicherung leben, um auf den Boden der Tatsachen anzukommen, der lehnte wie zu erwarten ab und lud seinerseits zu einem Streitgespräch. Natürlich ÜBER die Betroffenen, nicht mit, ganz klar. Trotzdem, same shit in Grün: Kovacs macht den Mindestsicherungsmärz jetzt alleine.

Natürlich bloggt auch er über seine Erfahrungen. Existiert so eine Challenge überhaupt, wenn man sie für sich behält? Kovacs will nicht „arm spielen", sondern zeigen, „wie hart es wirklich ist". Aber wie hart es wirklich ist, wissen nur jene, die tatsächlich nicht mehr Budget in der Hinterhand haben. Alle anderen spielen nur. Ob man es mit Tagebucheinträgen schafft, Richkids für Armut zu sensibilisieren, wird sich zeigen.

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Armut ist so viel mehr als eine kleine Herausforderung zwischen politischen Rivalen. Arm zu sein bedeutet oft Existenzangst und jeden Cent zweimal umzudrehen. Es bedeutet etwa, nicht schlafen zu können, weil der Kopf voller Zukunftsängste ist. Es bedeutet mitunter, sich nicht einmal mehr Scham leisten zu können. Augen zu und durch ist zwar gratis, kostet aber viel Mut und Kraft. Und es bedeutet, in Bezug auf Geld, vorausschauend denken zu lernen. Was ist, wenn nächsten Monat plötzlich die Waschmaschine oder der Herd schlapp macht? Was, wenn man eine(n) HandwerkerIn braucht? Dann doch vorbeugend lieber beim Essen mehr abzwacken—wenn sich das überhaupt ausgeht, man weiß ja nie.

All das kann man nicht durch solche Experimente simulieren. Nach einem Monat ist ja alles wieder vorbei; so verschiebt man die aktuell aufkeimenden Herzenswünsche einfach. Müssen die hübschen Lederschuhe aus dem Schaufenster, der Mehr-als-100-Euro-Frisörbesuch oder der Wochenendtrip nach Bad Aussee eben ein paar Tage warten.

Der Hinterkopf ist ja da. Er lässt dich gut schlafen. Er flüstert dir immer wieder beruhigend zu, dass das alles doch nur eine Simulation ist. Wenn man sich verzettelt oder doch mal nicht widerstehen kann, hebt man eben heimlich ein paar Hunderter zusätzlich ab. Das tut man natürlich nicht wirklich, aber die Möglichkeit ist da. Das macht das Leben in Armut gleich wesentlich lebenswerter.

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Die Band Pulp hat dieses Szenario schon vor über 20 Jahren viel schöner in Worte gefasst, als ich es jemals könnte:

„But still you'll never get it right
'cos when you're laid in bed at night watching roaches climb the wall If you call your Dad he could stop it all.
You'll never live like common people
You'll never do what common people do
You'll never fail like common people"

Einen besonders absurden Armutsfail leistete sich die besonders ernährungsbewusste Gwyneth Paltrow: Sie wollte im Rahmen einer Facebook-Challenge mal ausprobieren, wie es ist, für Essen nur 29 Dollar die Woche (das entspricht einer Essensmarke in den USA) zur Verfügung zu haben. Sie kaufte dafür unter anderem 7 Limetten, eine Süßkartoffel und etwas Lakritze. Nach einem Zusammenbruch gab sie nach 4 Tagen auf.

Den sich rege vermehrenden Nachwuchs-Jenkes und Secret Millionaires Österreichs (beides RTL-Formate, think about it) fehlt es nicht nur an Authentizität, sie laufen auch Gefahr, jene zu verspotten, die sich im realen Leben in so einer Situation befinden. Bei allem Verständnis für gut situierte BloggerInnen, die sich gerne mal so richtig extrem selbst kennenlernen wollen, sehnt man sich dann doch nach der guten, alten karitativen Tätigkeit zurück—oder was man sonst früher gemacht hat, um Armut zu erleben.

Was nämlich klar sein muss: Projekte dieser Art haben immer eine Tendenz in sich, die nicht neu, aber nach wie vor bedenklich ist: Reich ist glaubwürdig und schlau und die Armen sind arm, weil sie in ihrem Leben nichts auf die Reihe kriegen. Ihnen muss der richtige Weg aufgezeigt werden. Das ist sicherlich nicht so beabsichtigt, kann aber ganz schnell eine Eigendynamik entwickeln. Da überraschen solche Sätze nicht:

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„Es ist mir ehrlich gesagt ein wenig peinlich, so zu tun, als wären wir arm …"

„Damit wollen wir nicht den Zeigefinger erheben, schon gar nicht gegenüber von Armut betroffenen Menschen."

Schade eigentlich, dass man gleich zu Beginn von #armeleuteessen erst einmal das Bedürfnis hat, sich rechtfertigen zu müssen, aber vielleicht ist diese Klarstellung einfach auch unbedingt notwendig, um konstruktiv mit Erlebnissen und Erkenntnissen arbeiten zu können. Es geht in diesem Projekt, das über den ganzen März laufen soll, um Folgendes:

„Ist Bio wirklich nur etwas für Besserverdiener? Muss man sich Nachhaltigkeit erst einmal leisten können? Wir wollen das nicht glauben—und machen deshalb den Selbstversuch: einen Monat möglichst nachhaltig essen am Existenzminimum. Tu es uns gleich: blogge auf deiner Website oder auf www.biorama.eu—und wir vernetzten via #armeleuteessen."

Arm sein lässt sich nicht einfach auseinander dividieren. Genau das macht aber das Projekt #armeleuteessen. Den Aspekt „Essen" herauszugreifen, alles in Bio zu investieren, um dann fix zu sagen: „Das geht sich aus!"—oder auch das Gegenteil—, ist ziemlich naiv. Das sollte allen Beteiligten klar sein und auch den LeserInnen und SeherInnen deutlich gemacht werden. Dokus und Experimente, sich möglichst billig und bio zu ernähren, sind nicht neu, entsprechende Tests kennt wohl jede(r) zur Genüge, da lief doch immer gefühlt gerade was im Ersten dazu (oder wie hier im Bayerischen Fernsehen). Demgemäß wäre ein Hashtag wie #billigundbio wohl treffender gewesen, aber eben auch weniger aufsehenerregend. So funktioniert Social Media nun einmal nicht.

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Natürlich ist der Goodwill erkennbar, den Leuten Bioessen für wenig Geld näherzubringen—ob dem Schlemmerleben überdrüssige, so für den Kick für den Augenblick arm spielende Internetmenschen die ultimativen ExpertInnen für das Leben in Bioarmut sind, steht auf einem anderen Blatt Papier.

Aber schließlich kann jede(r) daran teilnehmen und ein differenzierter Zugang hilft dabei, Clickbait-Beiträge à la „Mindestsicherung hautnah, du kannst ihren Atem schon im Nacken fühlen" zu vermeiden.

Solange man sich bewusst ist, dass diese Simulation nicht mehr als eine Annäherung ist und der Zweck darin liegt, sich selbst zu erden und mehr Bewusstsein für die Armut anderer und den eigenen Reichtum zu schaffen, solange man sich nicht belehrend an die Armen richtet, solange man weiß, dass die Situation eben nicht die selbe ist und sich und anderen das auch klar macht, können Experimente wie #armeleuteessen sicherlich eine spannende Sache sein.

Die ersten Ergebnisse sind nämlich mitunter schon auch bereichernd: Manche BloggerInnen veröffentlichen schmackhafte Biorezepte für sehr wenig Geld, das kann tatsächlich auch Betroffenen in ihrem Kochalltag helfen. Auch die Idee, direkt zu helfen und die Differenz zwischen dem regulären und dem nun limitierten Budget zu spenden, geht in die richtige Richtung. Die Befürchtung, dass gleich jemand die Fiona Grasser raushängen lässt und für Selbstversorgung auf der hauseigenen Terrasse plädiert, blieb unbegründet.

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Bei all diesen Challenges steht die eine Frage wie ein riesiger rosa Elefant im Raum: Warum bezieht keine(r) der TeilnehmerInnen die ExpertInnen selbst mit ein? Man könnte ihnen, wenn sie denn wollen, im Rahmen der Bloggerei auch eine Plattform bieten und: Sie müssten nicht einmal simulieren.

Aus erster Hand etwas über das Leben mit Mindestsicherung zu erfahren ist mehr, als mich ein Monat Selbstkasteiung je bereichern könnte. Also habe ich mit zwei Menschen gesprochen, die direkt betroffen sind. Ich danke K. und G. dafür, dass sie mir ein paar Fragen zum Thema beantwortet haben.

Mein Freund K. bezieht seit ein paar Monaten Mindestsicherung (oder kurz MS). Er ist alleinstehend, wodurch er den Vorteil hat, beim Einkaufen keine Rücksicht auf andere nehmen zu müssen. Training und Ernährung sind seine Hauptgesprächsthemen, wann immer wir uns treffen. Deswegen hofft er auf einen Job in der Fitnessbranche.

VICE: Welchen Stellenwert hat Essen für dich?
K.: Seit ich trainiere einen sehr hohen. Seit der Mindestsicherung muss jetzt logischerweise viel mehr auf den Preis schauen, obwohl ich früher auch schon recht sparsam war. So weit es halt geht, wenn man so viel Fleisch isst. Aber beim Fleisch bin ich kompromisslos, da spar ich lieber alles andere ein. Vor Fleisch, das nicht bio ist, graust mir einfach, da hört man ja so einiges. Fitnessstudio ist sowieso momentan nicht leistbar, aber auf das Fleisch besteh ich.

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Einmal hatte ich am 28. des Monats nur noch 2 Euro—und das auch nur aus den Hosen in meinem Schrank.

Was ich an mir beobachtet habe: Jetzt weiß ich die Preise auswendig. Mein Tiefpunkt: Die billigsten Spaghetti kosten beim Spar 79 Cent. Das weiß ich, weil ich einmal am 28. nur mehr zwei Euro hatte. Eigentlich hatte ich nur mehr ein paar Kupferstücke. Dann habe ich mich erinnert, dass ich manchmal früher beim Einkaufen das Restgeld in die Hosentasche gesteckt habe und habe gleich angefangen, alle Hosen aus dem Schrank herauszureißen. Und in einer von ganz hinten waren dann zwei Euro drinnen.
Ich hab schon geglaubt, ich muss eine Nulldiät machen! Aber nicht, dass jetzt alle glauben, ich bin zu deppert, um richtig mit dem Geld auszukommen! Es war einfach ein Pech und ist mir auch nur einmal passiert. Ich bin mit meinem Handy über die Freiminuten gekommen, wegen meiner damaligen Freundin. Die hat weiter weg gewohnt und ich hab immer mit ihr telefoniert, weil ich nicht mehr so oft hingefahren bin, wegen dem Geld. Das ist dann eh auseinandergegangen deswegen. Das gehört zwar jetzt nicht zum Thema, aber schreib das ja rein! Damit die Leute wissen, ich bin nicht deppert.

Hast du denn das Gefühl, dass dich die Leute für blöd halten?
Ja, man wird schon öfter so behandelt, am Amt. Gott sei Dank hat man sonst ja keinen Stempel am Hirn, die Leute auf der Straße sehen es mir also nicht an.

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Was hältst du von Aktionen, bei denen eigentlich gut situierte Leute ausprobieren, wie es mit MS ist?
Da bin ich zwiegespalten. Die erste Reaktion ist, dass ich mir verarscht vorkomme. Alles wird ausgerechnet und was die da oben sagen, wie viel Geld ich am Tag ausgeben soll, das ist ja nicht in Stein gemeißelt. Wenn ich ein Monat zum Beispiel was bei der Wohnung machen oder mit dem Zug weiter weg zu einem Vorstellungsgespräch fahren muss, das hab ich schon ein paar mal müssen, dann wirkt sich das auch auf das restliche Budget aus. Und die machen das mit dem Essen zackprack, 180 Euro und dann schauen sie herum, was sich ausgeht und es macht ihnen Spaß, weil das Tüfteln ja was Neues ist. Aber ich hab oft nicht mehr den Kopf frei für sowas—mir zu überlegen, ob das jetzt biologisch wertvoll ist und wie viel das andere kosten würde und dabei stundenlang im Hofer auf- und abzugehen.

Außerdem habe ich Angst, dass da wer was dreht und als Ergebnis hat, dass man super luxusmäßig leben kann von der Mindestsicherung, was ja in der Praxis nicht stimmt. Und dann kommen wieder welche, die sie gleich kürzen wollen. Hört man ja jetzt dauernd in den Nachrichten. Auf der anderen Seite find ich gut, wenn sich welche mit dem Geld beschäftigen und sich wieder bewusst werden. Wenn sie da dankbarer werden, ist es gut. Ich bin mir ja auch erst bewusst geworden, wie ich es nicht mehr hatte.

Meinem Freund G. geht es heute gut, als Kind musste er allerdings mit seiner Mutter von Sozialhilfe leben. Er hat mir per Chat erzählt, wie es damals war:

VICE: Welchen Stellenwert hatte Essen als Kind für dich?
G.: Als ich ein Kind war, hatte Essen nichts mit Genuss zu tun, es war nur Mittel zum Zweck. Es ging nur darum, irgendwas zu essen, damit man satt ist. Die guten Sachen haben wir uns sowieso nie leisten können, damit hab ich mich irgendwann abgefunden. Ich kannte ja nichts anderes. Das billige Dosengulasch vom Discounter haben wir öfter gegessen. Ich möchte gar nicht wissen, was da drinnen war.
Wir haben immer von Montag zu Montag gelebt. Jeden Dienstag ging es dann zum Sozialamt, die Ausgaben der letzten Woche besprechen, Geldausgabeschein unterschreiben lassen, an der Amtskasse anstellen und das Geld abholen. Und ab Freitag gabs dann immer nur mehr Toastbrot und Kartoffeln. Aber das ist glaube ich heute ja nicht mehr so, das ist über 30 Jahre her.

Was hältst du von Aktionen, bei denen eigentlich gut situierte Leute ausprobieren, wie es mit MS ist?
Ich fände es gut, wenn es Bioprodukte geben würde, die preislich mit Discounterware mithalten können und umgekehrt. Mit Mindestsicherung geht sich immer nur das billigste aus, das ist Fakt. Ich glaube eher nicht, dass man mit Mindestsicherung nur bio essen kann. Wenn man komplett auf Fleisch verzichtet, immer für mehrere Tage im Voraus kocht, also auch mehrere Tage immer das gleiche isst, könnte es sich eventuell ausgehen. Danke.

Klar, die ganze Armut so richtig am eigenen Leib zu erfahren ist prickelnder als ein Interview darüber zu lesen—aber wie wäre es mit einer Kombination? Es gibt sicherlich auch MindestbezieherInnen, die nicht einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen—was auch verständlich wäre—, sondern auch welche, die gerne Mitspracherecht hätten.

Ein gemeinsamer Supermarktbesuch etwa kann sehr bereichernd sein; viele Infos und Tipps aus erster Hand zum Verbloggen sind da bestimmt auch drin. Das eigene Ego müsste man mitunter halt etwas zurückstellen. Als Dankeschön könnte man an der Kasse die Rechnung übernehmen, falls es gewünscht ist. Und eventuell macht es sogar Spaß, anschließend gemeinsam zu kochen? Aber vielleicht baue ich auch schon wieder nur Schlösser aus Gutmenschenluft.