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Der Kehlenschnitt auf dem Berliner Technostrich

Was ist da los auf der Berliner Techno-Schinkenstraße, dem RAW-Gelände? Aggressive junge Männer dealen offensiv mit Drogen, Securitys und Türsteher wollen nicht so richtig viel sehen oder wissen. Anwohner und Partygäste fragen: Wo ist die Polizei?

Screenshot von der Facebook-Seite von Jennifer Weist

Das RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain, das allnächtlich pulsierende Herzstück der Cocktail-, Koks- und MDMA-geschwängerten jungen Touristenpartygegend, erlebt derzeit unschöne Schlagzeilen. Weil die Sängerin der Gruppe Jennifer Rostock, Jennifer Weist, vor ein paar Tagen auf dem Gelände überfallen und ihr Begleiter fast getötet wurde. Per flinkem Kehlenschnitt—und sie nun ihrem Ärger über die mangelnde Sicherheit in dem Teil von Friedrichshain und die Brutalität der Täter öffentlich Luft machte.

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Wir gingen hin und hörten von Blutlachen und allgemeiner Ohnmacht, während die Polizei in ihrer Partybroschüre im Zweifel empfiehlt „Hau lieber ab".

Nur mit einem Block, einem Stift in einer Jutetasche und Selbstvertrauen dank Kampfsport, militärischer Erfahrung und guten arabischen Sprachkenntnissen gerüstet (und einem starken Begleiter), schalte ich meine Sensoren an. Dunkle Ecke rechts—drei junge Männer stehen in kleiner Gruppe, sprechen Arabisch. Weiter. Rund 20 Touristen, ein Uhr nachts, schwankend von frontal. Dunkle Ecke links—ich sage zu meinem Bodyguard Frank Künster, einem ehemaligen Bundeswehr-Einzelkämpfer, der seit Urzeiten in den undergroundigsten und elegantesten Clubs an Türen für Sicherheit sorgt und mich stets auf riskanten Missionen begleitet: „Da schau, das sind unsere. Soll ich gleich schon Kontakt machen? Oder erstmal weitergehen. Immer besser akklimatisieren!" Haubentaucher, der Beach Club im urbanen Drogen-Disneyland feiert die Europa-Filmpremierenparty zu Straight Outta Compton. Rapper Haftbefehl fährt vor.

Freunde organisieren die Party, winken uns rein, ich treffe noch mehr alte Bekannte: DJ San Gabriel, die Berliner Party-Schickimickeria, Kellnerinnen der umliegenden Clubs, Schriftsteller, Filmemacher, ein wunderbar bunt gemischtes Publikum dazu. Über 20 von uns befragte Gäste im Haubentaucher hatten Geschichten über Gewalt auf dem RAW-Gelände zu berichten. Ungefähr immer das Gleiche, wie Jennifer Weist es schrieb: Zunächst seien es Kids, die irgendwas wollten oder versuchten zu klauen, dann kamen Stärkere aus den Büschen herbeigestürzt, die den Opfern mit Schlägen auf den Kopf, Tritten, Stichen oder per Ellenbogenstoß ihre Taschen, Jacken, Telefone usw. entrissen.

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Das verwinkelte, dunkele Techno-Areal: Ein industriell anmutendes Disneyland für jährlich Hunderttausende internationale Partytouristen. Sie kommen in das vermeintlich „authentische" Berlin und erleben vermeintliche Fragmente unserer liberalen Underground-Kultur in Form von einigen Grafittis, an alte Ost-Fabrikwände gesprayt zu betrachten. Bier zu trinken, sich abzuschießen mit allem, was die Dealerbauchläden hergeben. Die Sicherheitskräfte der Clubs, die wir befragten, wollten uns nichts sagen. Als aber eine Besucherin der VIP-Party sich fix auszog, um schnell in den Pool des Haubentauchers zu hüpfen, kannten die sechs Sicherheitsmänner kein Pardon: über eine halbe Stunde lang wurde über an- und ausziehen, über „Wünsche des Veranstalters" (wie—keine Girls im Pool?) und der allgemeinen Stellung zu Nacktheit und Sex in der HipHop-Kultur diskutiert, ohne dass die Kraftprotze draußen vor der Tür aufpassten.

Allen Menschen, die wir im Haubentaucher befragten, auch den Gästen der umliegenden Läden, den Angestellten der umliegenden Clubs und Bars ist das Problem schon lange bewusst. Die sechs breitschultrigen Securitys vor dem Haubentaucher Edel-Club mit Pool stehen vor dem Eingang und verbreiten nüchtern, gutgelaunt und professionell das Gefühl von Sicherheit.

Doch nur mit Türstehern war das Problem der zunehmenden Gewalt schon vor Längerem nicht einzudämmen. Zumindest zwei Berliner Clubmacher haben Ärger auf dem RAW-Gelände kommen sehen. Wir fragten zunächst den Ur-Berliner DJ Wolle XDP, u.a. Mitbegründer der Fuckparade, der regelmäßig im Suicide Circus auflegt. Er berichtet von versuchten Angriffen, von Pöbeleien und ständiger Angst um seine Plattentaschen, wenn er den Club verließ.

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Wolle XDP lobte Ralf Brendeler, den Betreiber des „Suicide", einer der ältesten Techno-Institutionen der Szene, für seine erhöhte Sicherheitsmaßnahmen. Ralf beschloss schon vor Jahren, den Zugang zum seinem Club nur über die beleuchtete Treppe direkt von der Warschauer Straße aus zugänglich zu machen. Er wollte seinen Gästen und Künstlern den Gang über das von Berlinern „Technostrich" oder „Pillenmeile" genannte Gelände nicht mehr zumuten. „Aggressive, szenefremde Dealer gab es schon immer", sagt Wolfram Neugebauer aka Wolle XDP, DJ seit der Wendezeit, „aber immerhin gibt es bei uns noch nicht diese ganzen Schutzgeldsachen wie in Leipzig oder Hamburg. Das haben sie nur mal Anfang der 90er Jahre bei den Berliner Clubs versucht, aber da war die Polizei immer gleich am Start wenn sie gebraucht wurde."

Eine Angestellte des Astra-Clubs, vor dem Jennifer Weist bedroht wurde, berichtet, wie ihr Arbeitsweg vor einer Woche aussah: Sie musste nachmittags über eine riesige Blutlache steigen, noch frisch, an den Rändern zertreten. „Bandenkriege sind das, die stechen hier ja keine Touris ab", vermutet die Mittzwanzigerin. „Polizei wird hier nicht geholt, ich glaube, das muss eine Sache zwischen den Dealern gewesen sein." Sie selbst habe keine Angst, denn „die Dealer sind meist die Gleichen, und mich und die Kollegen sprechen die schon lange nicht mehr an."

Wer aber sind die Menschen, die den Freund von Jennifer Weist fast umgebracht hätten?

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Anwohner berichteten immer wieder von Bandenaggression gegen Passanten und auch untereinander—und einer Polizei, die sich wenn, dann immer nur um Bagatellen, aber nie um die Brutalisierung der Dealer und ihrer Machenschaften auf dem RAW zu sorgen schien.

Zig Discos, teils von glaubwürdigen Berliner Veranstaltern der ersten Stunde gemacht, laden tanz- und genusswütige Gäste ein und natürlich gibt es in der Feiermetropole sehr viele Druffis, Besoffene, Verschallerte. RAW wirkt wie Ballermann ohne Meer, mit Pillen und Puder statt mit Sonnenschirmen und Sangria und vor allem: ohne die strenge spanische Touristenpolizei.

Der kurdischstämmige bekennende Ex-Dealer Aykut Anhan, besser bekannt als Rapper Haftbefehl aus Offenbach, fuhr in schwarzem Mercedes vor, während direkt hinter ihm ein marokkanischer Teenager einen Joint drehte. Insgesamt hockten fünf Gestalten im Schatten der Bäume. Der hübsche Junge wollte uns den Joint zunächst „for free" geben, während ein deutlich älterer, deutschsprachiger, immer wieder und viel zu laut und aggressiv fragte, ob wir „denn nun was kaufen wollten".

Den Joint des Knaben gab ich nach Ansicht zurück, dann scherzte ich mit den Jungs auf Arabisch, begrüßte sie in Berlin, ob sie denn schon Papiere hätten, einen Pass, herzlich willkommen in Europa! Ob sie schon im Integrationskurs seien, Asylbewerber, was sie über Deutschland wüssten und hier machten?

Die Jungs freuten sich, mit einer Deutschen zu sprechen. In ihrer Sprache. Keiner von ihnen besaß Papiere, sie wussten gar nicht, dass sie irgendwelche Anträge in Deutschland stellen dürften, sie wussten nur: Hierbleiben geht nur mit Heirat und strahlten um die Wette.

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Bevor ich sie in ein charmantes Gespräch verwickeln konnte, fragen, wie sie nach Europa kommen konnten, bellte mich der Älteste der Gruppe an und kam einschüchternd auf mich zu: „Kaufen oder nicht, jetzt oder weg!" Auf die Frage nach seiner Herkunft antwortete er höhnisch, selbstbewusst und nahezu glaubwürdig: „Aus Nordafrika, aus keinem Land, da gibt es nur noch den einen Staat." Dann lachte er.

Nachfrage: „Dem Kalifat?" „Ja, natürlich dem Kalifat!"

Ein wenig gruselig, in diesen Zeiten, in denen Kehlenschnitt am Menschen ja nur von einigen, wenigen beherrscht und angewendet wird—wie zum Beispiel in den Videos des „IS" aus Syrien—ihrem von der Terrormiliz so genannten „Kalifat".

Marokkanische Mini-Gangs kenne ich aus eigener Erfahrung: Nur einmal wurde ich in zwölf Jahren der Berichterstattung aus arabischen Ländern überfallen. In Marrakesch, als mich eine vielleicht zehnköpfige Bande von Jungs im Alter zwischen sechs und sechszehn eng umzingelte, die Kleinen kratzten und wollten beißen, um an meine zehn Euro zu kommen. Die Großen standen herum, feuerten die Kleinen an und bildeten so einen Sichtschutz zu den anderen Passanten in der Fußgängerzone. Kein Passant sah oder hörte mich, als ich um Hilfe rief. Die Kinderbande lachte.

Ähnliche Jungs fielen mir öfter bei Recherchen in Berlin-Mitte auf. Immer wieder waren es minderjährige Marokkaner, ohne Deutschkenntnisse, die als blinde Passagiere auf Frachtern eingewandert waren. Sie hatten nur eine Nummer, bei der sie sich in Berlin melden sollten, berichteten sie mir—im Gegensatz zu denen am RAW hatten sie keinen Aufpasser dabei und schienen sich zu freuen, sich in ihrer Heimatsprache mit einer Deutschen verständigen zu können. Sie sprachen genau wie die Jugendlichen hier kein Wort Deutsch und auch kein Französisch, was in Marokko ein Zeichen für sehr bildungsferne Schichten ist, da es in der Schule gelehrt wird.

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Die Berliner Politik „wundert" sich nun, wie es zu „so einer neuen Qualität der Gewalt" kommen konnte, wie laut Polizei „vermutlich osteuropäische Banden" dort ihr Unwesen treiben könnten.

Nina Queer, Berliner TransGlam-DJ-Queen, wundert sich im Gegensatz zur Polizei kein Stück. Ich traf sie auf der Premierenparty zum Gangsta-Rapper-Film in Plauderlaune. Sie verkaufte ihre legendäre Bar „Zum Schmutzigen Hobby" und zog vor über zwei Jahren weg vom Areal. Nina, die bereits im Duett mit Jennifer Weist sang, wurde zu oft bedroht. Ihren Mitarbeiter erging es ebenso, wiederholt. „Die Ecke Berlins macht keinen Spaß mehr!", erzürnt sie sich. „Ich hatte hier immer Angst, auch wenn ich nur fünf Meter alleine laufen musste. Kaum war man allein, kamen immer zwei kleine, ein paar große Jungs und nahmen sich, auch mit vorgehaltenem Messer, alles, was sie wollten." Handy, Tasche, Jacke, Börse.

DJ San Gabriel, befreundeter West-Berliner HipHop-DJ der ersten Stunde, der maßgeblich am Aufbau der friedlichen HipHop-Szene in Berlin beteiligt war, berichtete im Haubentaucher von seinem jüngsten Erlebnis am Ende des milderen Kreuzberger Pendants zur Partymeile RAW-Gelände, auf der anderen Seite der Spree gelegen.

„Ich war mit fünf marokkanischen Freunden, darunter ein berühmter Designer, bei der Ipse am Ende der Schlesischen Straße, als uns ein paar Tunesier alle Sorten Drogen anboten, nachdem sie so taten, als seien sie ,lustig und auch betrunken'. Meine Freunde kamen mit ihnen ins Gespräch—alle schienen sich zu freuen, Arabisch zu sprechen, wir tranken Bier zusammen. Einer meiner Freunde stellte seine Tasche dabei auf einem Auto ab. Plötzlich zischte einer aus der Gruppe der Dealer, die zuvor auf Freundschaft machten, mit der Tasche ab."

Zwei Stunden später, die die Geschädigten zusammen mit den Securitys des Club der Visionäre und dem Rest der Tunesier diskutierten, um die Tasche zurückzubekommen, war sie dann auch wieder da. Ohne Inhalt. 800 Euro, Ausweis, Handy, Wochenendgepäck und alles, was das Leben ausmacht: weg. Viel Spaß als marokkanischer Tourist in Berlin—ohne Dokumente in heutiger Zeit. Obwohl Gabriel Mitgefühl für seinen Freund hat, bemerkte er als weitgereister DJ, dass wir es auch einfach so sehen könnten: „Berlin ist nun endlich eine internationale Stadt, und dann müssen wir hier genauso wie in Rio oder Rom auf uns achtgeben!" Klar. Jeder weiß, dass man in Brasilien genau einen Bikini mit an den Strand nimmt—jedoch nie Wertsachen oder viel Geld. Dementsprechend nur logisch, dass die Polizei in ihrem neuen Partyratgeber dazu aufruft, auf Partys nichts von Wert mit sich zu tragen.

Die trickreichen Tunesier waren mir wahrscheinlich schon bekannt: Ich vermute, ich habe schon ein paar Mal mit ihnen gesprochen, das erste Mal in einem wildromantischem Moment. Ich war in der Ecke unterwegs, knickte mit meinen Heels um, und sofort eilten mir—vermutlich die gleichen von San Gabriel beschriebenen—Tunesier zu Hilfe. Erst einer, der auf angetrunken tat, dann aber sehr nüchtern war. Dann vier, fünf. Sie boten mir Kiff und Kokain an, „ohne Bezahlung", wie sie mir auf Französisch versicherten. Zuvor trugen sie mich zu einem dunklen Eckchen auf dem Parkplatz, auf dem wahrscheinlich alles gehandelt wird und passieren kann, was man sich nur ansatzweise vorstellen mag, und wollten mir nun Drogen gegen Schmerzen, da ich nicht auftreten konnte, geben.

Wir kamen schnell ins Gespräch, die meisten Touristen, mit denen sie Handel treiben, seien Briten und Spanier, niemand spräche ihre Sprachen, Arabisch und Französisch. Wie es sich für einigermaßen gebildete Tunesier gehört, sprachen sie die beiden nicht ganz leichten Sprachen sehr gut. Ihr groß gewachsener offensichtlicher Rädelsführer hatte sich als Gentleman bewährt. Sie freuten sich über den Kontakt zu mir, einer Berlinerin, unverheiratet, wie sie sofort in Erfahrung brachten. Denn eines ist für alle jungen Männer aus Krisengebieten, neu in Deutschland, der wahre Hauptgewinn: eine deutsche Ehefrau.

Nebenbei erzählten sie mir noch, dass sie wüssten, dass viele Tunesier derzeit als Söldner beim IS in Syrien oder Libyen tätig seien. Das zu tun, kommt für sie natürlich nicht mehr in Frage, da sie jetzt in Europa leben, als Asylbewerber wollen sie aber keinesfalls registriert werden.

Das, weshalb Tausende geflüchtete Menschen teils wochenlang in der Mitte Berlins campieren, wollten sie nicht genießen. Ein neues sicheres, offizielles Leben in Deutschland. Die Chance auf einen sauberen Neuanfang, Integration. Natürlich wirft das viele Fragen auf, allen voran, warum ein Mensch lieber die Strapazen der Illegalität in Deutschland auf sich nehmen will, als Hartz 4 zu bekommen und dazu ein eigenes, staatlich finanziertes Dach über dem Kopf.