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Von Crunk bis Nu Metal—Tote Musik und was sie uns hinterlassen hat

Lernen, die Leiche zu lieben? Unser Autor hat sich letzte Nacht auf den Musikfriedhof geschlichen, um tote Musik auszubuddeln.

Vor ein paar Monaten brachte der Guardian einen Artikel, in dem das Ende der einzelnen Musikgenres verkündet wurde. Laut einer dort zitierten Umfrage sagten 79 Prozent der 13- bis 32-Jährigen, dass sich ihr Musikgeschmack nicht mit einem Genre abdecken ließe. Als Beispiel für die neue Grenzenlosigkeit im Pop wird dieser moderne EDM-Klassiker angeführt.

Machen wir uns nichts vor: Menschen werden Trends in der Musik weiterhin pseudo-deskriptive Begriffe zuordnen. Doch es scheint, als würden diese Wörter an Relevanz verlieren: Nur 11 Prozent der Befragten beschränken ihre Hörgewohnheiten immer noch auf eine einzige Musikrichtung. Vorbei scheinen also die Schulhof- und SchülerVZ-Zeiten als „Hopper“, „Skater“ oder „Rocker“ noch bewusst gedachte Kategorien waren.

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Doch nicht alle Musikstile dürfen beim neuen, bunten Genremix auf den Smartphones dieser Welt mitspielen—weil sie schon lange vor der heutigen Ich-höre-irgendwie-alles-Zeit von uns gegangen sind. Aber was sind das eigentlich für Genres, die es heute nicht mehr gibt? Wie läuft so ein „Tod“ ab und „sterben“ Genres wirklich? Ich nähere mich dieser Frage anhand von 5 Beispielen.

LOUNGE

Ein gutes Beispiel für ein verstorbenes Genre wäre wohl Lounge aka dieser seichte House-Hip-Hop-Ambient-Hybrid á la „Café del Mar“. Die bekannte Compilation-Reihe, die tatsächlich heute noch erscheint, verknüpfte Jazz mit einem mediterranen Vibe, Trip-Hop und einer einlullenden Art House, die man heute wohl im weitesten Sinne „deep“ nennen würde. Heraus kam eine Art Fahrstuhlmusik 2.0 á la Moby oder Dido für Besucher von teuren Cocktailbars, für Touristen, und eben für Fahrstühle—trotzdem war das alles eine große Sache, manche Leute hörten ausschließlich „Café Del Mar“. Gestützt war das damals auf eine Art Swing-Revival, welches dabei half, Saxophonsolos und Frauenstimmen mit Drumbreaks zu einer weichen, klebrigen Masse, („Future Jazz“) zu verknoten. Heute redet niemand mehr über Kruder & Dorfmeister oder Thievery Corporation. Zu Recht?

INDUSTRIAL

Übermäßige Seichtigkeit wird dem zweiten Genre wohl niemand vorwerfen, denn Industrial definiert sich nicht zuletzt darüber, dass es teils schwerer durchzustehen ist als eine über eine Schiefertafel kratzende Nagelschere. Ursprünglich entstand die Bewegung und ihr Name Ende der Siebziger durch das Label Industrial Records der Band Throbbing Gristle. Industrial war anfangs ein Sammelbegriff für meist auf Kassette veröffentlichte experimentelle elektronische Musik mit einer besonders dunklen Note: bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Gitarrenklänge, die jenseits von Rhythmus und Melodie über befremdliche, maschinell klingende Samples hinwegziehen. Mal orientierte man sich an Sechziger-Krautrock á la Cluster, mal an Free Jazz, mal an Punk und manchmal an Kraftwerk. Mit den Achtzigern zog auch der Drumcomputer in die mittlerweile international boomende Industrial-Szene ein, in der die Maschinen kreativer eingesetzt wurden als sonst irgendwo. Immer mit dabei: eine bedrückende Ästhetik und ständige Bezugnahme zur Massenproduktion, Faschismus und Genozid—Industrial hat einen wichtigen Beitrag geleistet, elektronische Musik zu politisieren. Im Laufe der Jahrzehnte ist Industrial untergegangen, doch das Nachbeben dauert an. Von Industrial inspirierte Sounds sind vor allem im Rock und der elektronischen Musik zu hören—auch weil Acts wie Marilyn Manson, Nine Inch Nails, Rammstein oder Portishead sich bewusst auf diese wichtige Epoche beziehen.

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HIP-HOUSE

Das dritte Genre im Bunde schlägt heute noch Wellen, obwohl es auch schon länger tot ist … irgendwie. Hip-House ist genau das, wonach es klingt, nämlich Hip-Hop auf housigen Beats. Das erscheint vielen Menschen wie einer schlechten Idee—auch wenn der Großteil des Stadion-Partyraps á la Deichkind oder Kraftklub nach diesem Prinzip funktioniert. Hip-Hop und elektronische Musik werden einfach intuitiv als zwei isolierte Lager wahrgenommen. Dabei muss man nicht weit in der Zeit zurück gehen, um den gemeinsamen Ursprung der beiden zu sehen. Sowohl Hip-Hop als auch House berufen sich auf Disco und Funk. Wer kann schon sagen, ob Afrika Bambaata, Grandmaster Flash, Newcleus oder die Jonzun Crew Hip-Hop oder House machen wollte—höchstwahrscheinlich sagten ihnen beide Begriffe nichts. Jedenfalls war Rap auf House in den achtzigern völlig normal, schließlich war beides Party-Mucke: Klassische Hip-Hop-Acts in wie die Jungle Brothers oder T La Rock hatten House-Tracks auf ihren Alben, legendäre House-Labels wie Trax aus Chicago veröffentlichten massig partykompatiblen Hip-Hop über Acid-Beats. Das ganze erreichte in Kombination mit poppigem Eurohouse Ende der Achtziger einen Höhepunkt (siehe Marky Mark oder „Pump up the Jam“). Wer einmal auf dem Flohmarkt eine nach Rap aussehende Platte gekauft hat und zu Hause von Kitsch enttäuscht wurde, weiß wie viel Müll damals in die Stratosphäre geschossen wurde. Glücklicherweise war dieser Höhepunkt dann auch recht schnell vorbei und das Zeitalter von langsamem Hip-Hop und Rave-Mucke brach an. Der Glaube an einen guten Hip-House aber lebt weiter).

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CRUNK

Das vierte Genre unserer Liste kommt auch aus dem Hip-Hop-Umfeld, es handelt sich um nichts anderes als Crunk! Dieses Genre stellte dem an East- und Westcoast gewöhnten Hip-Hop-Publikum den Dirty South vor. Vorreiter aus Atlanta mischten den Gangsta Rap von so Südstaaten-Rappern wie der Three 6 Mafia, UGK, Kingpin Skinny Pimp oder Tommy Wright mit Einflüssen aus R’n’B und Miami Bass, um einen tanzbaren Sound zu erhalten. Das Genre durfte vor allem in den frühen Zweitausendern angeführt durch Schreihals Lil Jon eine Hochphase feiern, „Get Low“ von Lil Jon und den Eastside Boyz oder natürlich der Crunk-R'n'B-Smasher „Yeah“ mit Usher waren von keiner Party wegzudenken. Und bei all dem Hate, lüg nicht: ohne Crunk würdest du nicht wissen, was ein Pimp’s Cup oder Grillz sind. Darüber hinaus liefern Crunk und Lil Jon die Vorlage für einen der zitierbarsten Dave Chappelle-Sketche ever. Ähnlich wie bei dem verwandten Sub-Genre Dipset ist wohl die größte Errungenschaft von Crunk, dass es den Südstaatenrap der Neunziger popularisiert hat. Nicht umsonst bezieht sich der heutige Trap so stark auf die Memphis-Soundästhetik und nicht umsonst tragen so viele Trapper Grillz und sippen Lean. Außerdem: Wer Crunk für ein frauenverachtendes Macho-Genre hält, liegt wahrscheinlich richtig, ABER: Es gibt auch Crunk-Feminismus.

NU-METAL

Der fünfte und letzte Musikstil unserer Liste ist ein Klassiker der gestorbenen Genres. Gerne wird mit Spott auf Nu Metal zurückgeblickt und nur wirklich mutige Menschen würden sagen, dass es sich hier um wirklich gute Musik handelt. Aber tu nicht so, als hättest du Linkin Park nicht auch bis zum Umfallen gefeiert. Auch wenn nicht jeder sie richtig angeht, hat die Kombi aus Rap und Rock einfach Potenzial. Nu-Metal vereinte in den späten Neunzigern und frühen Zweitausendern verzerrtes Hard-Rock-Geschrammel und Einflüsse aus Hip-Hop, elektronischer Musik oder sogar Funk und Jazz. Dass Rap und rockige Elemente gut funktionieren zeigt nämlich nicht nur das Lebenswerk von Rick Rubin oder Ice-T’s Heavy-Metal-Band Body Count, die diesen Song „Cop Killer“ gemacht haben. Auch das Nu-Metal-Revival, das seit einer Weile umzugehen scheint, lässt eine Renaissance vermuten. Nu-Metal ist also nicht „tot“ per se, aber mal ehrlich: ein besseres Bild für tote Genres als Fred Durst mit falsch herum aufgesetzter New-Era-Kappe fällt mir nicht ein. Gott sei Dank gibt es die Death Grips.

Das waren nur fünf von hunderten verstorbenen Genres, aber sie verdeutlichen eines: Genres „leben“ und „sterben“ nicht isoliert. Es gibt einen stetigen Austausch zwischen Musikstilen und gerade in unserer schnelllebigen Zeit können Trends schneller kommen, absorbiert werden und verschwinden, als es einem lieb ist. Doch nur weil „Cloud-Rap“ in ein paar Monaten ein alter Hut sein wird, muss man nicht gleich den Kopf in den Sand stecken. Vielmehr ist das ganze doch eine gute Gelegenheit, unser aller Genre-Obsessionen á la „Ich höre nur Tech-House zwischen 122 und 126 BpM“ zu überdenken. Das Kommen und Gehen von Stilen ist doch erstmal nichts schlechtes, schließlich geht dem „Tod“ eines Musikstils ja eine gewisse Wechselwirkung voraus:

Funk und Soul sind sicher nicht mehr so relevant wie früher, aber ihr Einfluss in HipHop und House unverkennbar; Hip-House sagt heute keiner mehr, aber DJ-kompatible Rap-Musik ist wieder im kommen. Ebenso gibt es keine große Industrial-Szene mehr, aber abgedrehter Synth-Pop und experimentelle elektronische Musik bedienen sich an inustriellen Klängen. Electronic Body Music (EBM) hat in den 80ern den Grundstein für europäischen Techno gelegt und Lounge ist tot, aber niemand kann mir ernsthaft erzählen, dass das Wort Chillhop nicht loungige Vibes heraufbeschwört.

Die Sterblichkeit von Genres zu akzeptieren, scheint unausweichlich. Genres müssen sterben, damit Musik weiterlebt. Interessanterweise sind die Genres, die am längsten überleben diejenigen, die am wenigsten mit anderer Musik kompatibel sind und deren Szene tendenziell isoliert ist. Wer dafür einen Beweis braucht, möge sich die zur Rave-Explosion der Neunziger entstandenen Elektro-Stile jenseits der 140 BpM anschauen. Es mag aktive Goa-, Trance- oder Gabber-Szenen geben—allerdings stehen diese Stile vor allem für verzweifelte, verschlossene Communities, in denen sich die 50 immer gleichen Freaks treffen, um auf die immer gleichen 20 Standard-Remixe abzuschmieren. Statt Wachkoma dann doch lieber den Tod.

„Die gute alte Zeit verschwindet niemals und hält ewig!“ „Diejenigen, die denken, dass wir Mongolen sind, sind selbst Mongolen! Hardcore ist Leben, wir sind Hardcore, Hardcore will never die!“