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Occupy Turkey

Die Demonstranten in Istanbul sind die aufstrebende Bourgeoisie

Warum sind die Türken eigentlich so wütend auf Erdogan, der noch 2011 von fast 50 Prozent der Bevölkerung gewählt wurde? Es sind nicht die Armen, die gegen ihn auf die Straße gehen, sondern die neue Mittelklasse. Sie wollen sich nicht vom Premier...

Der friedliche Schein in Istanbul trügt. Der Gezi-Park, in dem die Demonstranten zwei Wochen lang gezeltet, gefeiert, gekämpft und diskutiert hatten, ist immer noch eine verbotene Zone. Auf dem Taksim-Platz patrouilliert die Polizei, und letzten Samstag verwandelte sich eine Demonstration hier noch einmal in ein stundenlanges Gefecht mit Gas- und Wasserwerfern.

Am Sonntag wurde die lang vorher geplante „Trans-Pride Parade“ zu einem weiteren Anlass für Demonstranten, ihrer Wut auf  Tayyip Erdoğan Luft zu machen („Schulter an Schulter gegen den Faschismus“ wurde dafür umgedichtet zu „Mit den Beinen über den Schultern gegen der Faschismus“, um auf Sexstellungen anzuspielen).

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Am Dienstag wurde bekannt, dass der Polizist, der den Demonstranten Ethem Sarısülük am 1. Juni in Ankara erschossen hatte, frei gelassen wurde. Am Abend gingen deshalb wieder einige tausend Leute auf den Taksim, um zu demonstrieren—diesmal konnte die Polizei sich aber zurückhalten.

Aber woher kommen diese Demonstranten, wer sind sie und was wollen sie? Woher kommt diese Wut gegen ihren Premier, der zuletzt 2011 mit immerhin 49,84 Prozent aller Stimmen demokratisch gewählt wurde?

Anders als auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder auch bei Occupy Wall Street ist diese Bewegung nicht entstanden, weil es den Leuten wirtschaftlich schlecht geht. Eher im Gegenteil. Tatsächlich hat sich das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei unter Erdoğan deutlich erhöht, so dass es zum ersten Mal in der türkischen Geschichte eine breite Mittelklasse gibt. Und genau aus der hat sich auch der größte Teil der Demonstranten rekrutiert.

In den vergangenen Wochen habe ich mit Börsenhändlern, Arbeitslosen, Ingenieuren, Porsche-Händlern, Grafikdesignern, Soldaten, Hotelangestellten und Management-Assistenten und vor allem immer und immer wieder Studenten gesprochen. Und alle sagten mir, sie seien da, um „für ihre Freiheit“ und „gegen Erdoğan“ zu demonstrieren.

Was sie an ihrem gewählten Premier so aufregt, ist vor allem sein Führungsstil.

Diese neue Bourgeoisie, die zum allergrößten Teil viel zu jung ist, um sich an eine Zeit vor Erdoğan zu erinnern (der allergrößte Teil der Demonstranten war zwischen 18 und 30 Jahre alt), gehört auch nicht unbedingt zu der alten säkularen Garde, die sich die frommen Massen am liebsten mit einer Panzerbrigade vom Hals halten würde. Die meisten akzeptieren, dass sie wohl oder übel in einem muslimischen Land leben, in dem der Großteil der Bevölkerung eben ungern Alkohol trinkt und die Frisuren seiner Frauen als Privatsache ansieht.

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Erdem Gündüz zum Beispiel, der seit Montag für seinen stehenden Protest auf dem Taksim-Platz international Berühmtheit erlangte, demonstrierte vor Jahren auch für das Recht muslimischer Frauen, mit Kopftuch in die Universität zu gehen.

Gleichzeitig sind sie sehr empfindlich, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Regierung ihnen dieselbe sunnitische Frömmigkeit aufzwingen will. Und da hat sich Erdoğan in letzter Zeit zunehmend verdächtig gemacht, etwa wenn er Abtreibung als Mord bestrafen will (Kaiserschnitt will er auch verbieten) und fordert, dass jede türkische Frau drei Kinder bekommen soll, um der Türkei zu Ruhm und Ehre zu verhelfen.

Das geht den jungen Bewohnern der Istanbuler Innenstadt gegen den Strich, genauso wie wenn ihr Premier sie als „Saufköpfe“ beschimpft, nur weil sie sich ab und zu mal abends betrinken wollen.

Aber die jungen Bewohner der Innenstadt wollen sich abends ungestört betrinken, ohne dauernd als „Saufköpfe“ tituliert zu werden.

Erdoğan geht der gebildeten Schicht aber nicht nur mit seiner kruden Gesellschaftspolitik auf die Nerven. Auch seine größenwahnsinnigen Bauprojekte bringen die Leute in Rage. Zwar hat Justinian wahrscheinlich auch nicht den örtlichen Kleintierzüchterverein gefragt, bevor er die Hagia Sophia bauen ließ, doch mangelt es  Erdoğan leider an der Fantasie der römischen Kaiser: Wenn es nach ihm ginge, würde er überall entweder Einkaufszentren oder Moscheen errichten lassen. Istanbul hat die meisten und größten Malls Europas, aber eine Oper oder ein Staatstheater sucht man im Stadtzentrum vergeblich. Historische Stadtviertel wie Sulukule (schon verschwunden) oder Tarlabaşı (zur Hälfte noch da) müssen charakterlosen Residenzen weichen, und wenn der Premier eine dritte Bosporus-Brücke oder einen weiteren Flughafen bauen will, dann passiert das auch, egal was die Umweltschützer oder sonst wer dazu sagen. Hauptsache groß, konsumgesteuert und hässlich.

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Um zu verstehen, wieso er sich so benimmt, muss man einmal kurz ausholen. Seit die türkische Armee 1961 den ersten demokratisch gewählten Premierminister Adnan Menderes nach einem blutigen Putsch aufgeknüpft hatte, weil er ihnen zu sehr vom Kurs des Republikgründers Atatürk abgekommen war, war die Türkei eigentlich durchgehend von laschen säkularen Politikern regiert worden, die sich ganz dem von der Armee und der alten Elite forcierten laizistischen Kurs unterordneten.

Im Laufe der Neunziger erwiesen sich die säkularen Parteien jedoch als dermaßen inkompetent, dass islamische Parteien mehr und mehr an Einfluss gewannen. Als Erdoğan mit der AKP schließlich 2002 einen massiven Wahlsieg errang, gab er zum ersten Mal den sogenannten „schwarzen Türken“ ein Mitbestimmungsrecht. Die „schwarzen Türken“ sind die, von denen sich die gebildeten, säkularen „weißen Türken“ gerne distanzieren: die frommen, ungebildeten Bauerntölpel aus Anatolien, die aber peinlicherweise den Großteil des türkischen Volkes ausmachen.

Seit er an der Macht ist, macht Erdoğan also ziemlich viele Leute nervös, weil sie Angst haben, er wolle die Türkei islamisieren und Istanbul zu einer Art Teheran am Bosporus machen.

Aus dem Grund ist Biertrinken hier auch eine sehr viel politischere Angelegenheit als bei uns: Erdoğan hat schon ein paar Einschränkungen des Alkoholkonsums durchgesetzt, zu guter Letzt wollte er Kiosken verbieten, nach zehn Uhr noch Alkohol zu verkaufen (einer der beliebtesten Gesänge in den ersten Tagen der Demonstration war deshalb auch „Prost, Tayyip!“).

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Tatsächlich ist der Premierminister mit jedem Wahlsieg selbstherrlicher geworden, so dass man mittlerweile das Gefühl hat, er hält sich für den personifizierten Volkswillen. In mehreren Showdowns mit der Armeeführung hat er bewiesen, dass er die alte Macht der Generäle ein für alle Mal gebrochen hat.

Deshalb kann er sich einerseits Sachen erlauben, die von jeher von den Streitkräften blockiert wurden, wie zum Beispiel Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK anzugehen oder die EU-Integration voranzutreiben (das macht er natürlich nicht, weil er doch laizistische Züge hat, sondern die EU ist einfach wichtig für die Türkei ist, um den Handel und die Wirtschaft anzutreiben).

Andererseits ist das Problem dabei, dass es mittlerweile überhaupt kein Korrektiv mehr gibt: Die anderen politischen Parteien sind entweder völlig verkrustet oder zu marginal, um für die neue Bourgeoisie als Alternative zu gelten. Erdogan fährt also weiter einen Wahlsieg nach dem anderen ein, gestützt auf seine Mehrheit, und überzeugt, dass er nur ihnen Rechtschaffenheit schuldig ist. Laut einer Umfrage im Gezi-Park gehören die meisten Demonstranten zu der anderen Hälfte des türkischen Volks, die, die ihn nicht gewählt hat.

Und das ist das Problem: Erdoğan verwechselt Demokratie mit Majoritarismus, in dem er dank seiner Mehrheit machen kann, was er will, ohne sich je um Konsens bemühen zu müssen. Als die Bagger anrückten, um den Gezi-Park abzutragen, wurde es den Istanbulern schließlich zuviel. Als dann die ersten Demonstranten mit Tränengas aus dem Park gejagt wurden, da wurde deutlich, dass der Premierminister auch diesmal nicht von selbst darauf kommen würde, dass er Widerspruch ernst nehmen muss. Weil sie keine andere Möglichkeit sahen, ihn darauf aufmerksam zu machen, ging die Bourgeoisie auf die Straße.

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Dort gesellten sich schnell alle diejenigen dazu, die sowieso schon mit Erdoğan unzufrieden sind: die Kommunisten, die Schwulenrechtler, die Aleviten, die Fußballfans, die kurdischen Separatisten und die Ultranationalisten. Diese neue Einheit wurde oft beschworen und im Gezi-Park gefeiert (auch wenn es ein paar Mal zu Übergriffen von Ultranationalisten auf Kurden kam, die aber von der Mehrheit verurteilt wurden). Der neue Mittelstand traf sich im Park und versuchte, einen Gegenentwurf zu Erdoğans homogener Gesellschaft zu leben, in dem alle Gruppen einen Platz hatten und sich an dem Projekt beteiligten. Man versuchte vor allem, sich auch den Gläubigen gegenüber inklusiv zu zeigen, indem zum Beispiel in der heiligen Nacht Miraç Kandil am 5. Juni kein Alkohol im Park getrunken wurde. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass nur sehr wenige Konservative (z.B. Frauen mit Kopftuch) sich dem Protest anschlossen.

Was hielten also die „50 Prozent“ von der ganzen Sache? Jene, die die AKP tatsächlich gewählt haben?

Zuerst einmal mussten sie überhaupt erstmal davon erfahren. Von Anfang an wurde sich sehr viel Mühe gegeben, die ganze Angelegenheit in den Medien herunterzuspielen. Die Pinguin-Dokumentation, die auf CNN Türk gezeigt wurde, als die Innenstadt sich bereits in eine gasvernebelte Kampfzone verwandelt hatte, ist zum Symbol für die peinliche Selbstzensur der türkischen Medien geworden.

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In einem Land, in dem mehr Journalisten im Gefängnis sitzen als sonst irgendwo auf der Welt, ist es sehr schwierig, unabhängige Informationen zu bekommen. Die Demonstranten informierten und organisierten sich hauptsächlich über Twitter und Facebook (die auch schnell deswegen zum Staatsfeind Nummer Eins wurden). Die meisten Menschen in den Außenbezirken verließen sich aber auf die regierungstreuen Fernsehsender, die zwar am zweiten Tag begannen, über die Proteste zu berichten, dann allerdings mit ungefähr genauso viel Objektivität wie die Presseabteilung von Enron.

Erdoğan selbst war offensichtlich ziemlich überrascht von dem breiten Widerstand, den seine gewohnte Bulldozer-Politik diesmal hervorgerufen hatte. Die ersten Male, wo er die Protestierenden „Çapulcus“, also Plünderer, nannte, hat er wahrscheinlich selbst noch daran geglaubt. Nachdem er ein paar Mal etwas versöhnlichere Töne anschlug, schien er sich aber bei seiner Rückkehr aus Nordafrika entschieden zu haben, die Demonstration einfach wegzubrüllen. Wie ein Volkstribun der alten Schule absolvierte er einen regelrechten Rede-Marathon, auf dem er seinen Anhängern ein giftiges Potpourri aus verdrehten Fakten, Herunterspielungen und Nationalstolz auftischte.

Am erfolgreichsten bleibt bis jetzt seine Idee, den Grund für das ganze Tohuwabohu auf „ein paar Bäume“ zu reduzieren.

Der Premier hat mit seinen rhetorischen Kniffen offensichtlich Erfolg. In den traditionelleren Vierteln scheinen die Leute oft zu glauben, dass ein solcher Aufstand für Bäume entweder bescheuert oder von ausländischen Mächten gesteuert sein muss. Aber bei manchen der Frommen beginnt sich das Bild Erdoğans zu wandeln. Als er am Montag drohte, die Armee einzusetzen, rief das zu viele schlechte Erinnerungen hervor. Eine Lehrerin an einer islamischen Universität erzählte mir, dass ihre Studenten immer öfter kritisierten, dass ihr Premier sich in genau die Art autoritären Politiker verwandelt hatte, gegen die er einmal selbst angetreten war.

Die Demonstranten selber muteten mit ihrem Glauben an die Kraft ihrer neuen, basisdemokratischen Bewegung und ihrem Unwillen, klare Positionen zu formulieren, etwas Naivität an, genauso wie ihre Verklärung des ultra-autoritären Atatürk zum demokratischen Ideal. Aber immerhin machen sie das zum ersten Mal.

Der Wahlsieg der AKP 2002 war wichtig für die türkische Demokratie, weil der Wille des Volkes, also der Menschen, die nun mal die Mehrheit in der Türkei ausmachen, zu seinem Recht kam. Die Aufstände um den Gezi-Park sind ebenfalls wichtig, weil diese Menschen ihrem machtbesoffenen Führer zeigen, dass er die Anliegen all seiner Bürger ernst nehmen muss. „Vielleicht geht es einfach nur darum, wie er mit uns redet, um seine Arroganz. Wir wollen respektiert und nicht wie unartige Kinder behandelt werden“, hatte mir der Geschichtsstudent Noyan vor zwei Wochen auf dem Dach des Atatürk-Kulturzentrums gesagt. Unter uns wimmelte der Taksim-Platz vor Menschen, die vielleicht noch gar nicht wissen, dass sie die neue Avantgarde der türkischen Demokratie bilden. Ob sie Erfolg haben, wird aber auch davon abhängen, ob Erdoğan irgendwann bereit ist, ihnen zuzuhören. Wenn er das schafft, könnte er zum wahren Vater der demokratischen Türkei werden. Wenn nicht, dann wird der Gasmaskenverkäufer dem Istanbuler Straßenbild wohl noch eine Weile erhalten bleiben.