FYI.

This story is over 5 years old.

Sex

Ich war bei einem Piss-Workshop und kann jetzt nie wieder in Ruhe pinkeln

Toiletten sind viel kompliziertere Orte, als du denkst.

Nach fünf langen Minuten will ich nur noch, dass der dicke, masturbierende Mann in der Toilettenkabine endlich zum Höhepunkt kommt. Ständig wird er von anderen gestört, die auch in die Kabine wollen. Die Tür kann er nicht abschließen.

Der Berliner Künstler Mischa Badasyan hat den Mann durch ein kleines Loch in der Kabinenwand, durch ein Peephole, irgendwo in Albanien gefilmt. Und jetzt sitze ich hier mit dreißig weiteren Teilnehmern des "Piss-Manifest-Workshops" in einem kleinen, abgedunkelten Raum in Neukölln und schaue dem ahnungslosen Mann wie der letzte Voyeur beim Wichsen zu.

Anzeige

Wenn die Toilette für dich ein Ort der Ruhe, der Entspannung und Privatsphäre ist, und du willst, dass das so bleibt, dann solltest du diesen Text lieber nicht lesen. Du wirst dich ab jetzt auf öffentlichen Toiletten beobachtet fühlen, wirst nach Dingen gucken, die du vielleicht nicht sehen willst.

Das verdankst du Badasyan, der die letzten drei Jahre ausgiebig öffentliche Toiletten und ihre Besucher studiert hat. An manchen Tagen verbrachte er fünf bis sechs Stunden auf den Klos von Universitäten, Theatern, Museen, Stadien oder Clubs. Seine Beobachtungen stellt er uns in seinem Workshop vor, der im Rahmen des Porn Film Festivals Berlin stattfindet. Laut Veranstaltungstext soll es um "Sexualität und Space, Macht und Dominanz, Angst und Freiheit" gehen.

Der Berliner Künstler Mischa Badasyan | Foto: Ivo Hofsté

Zugegeben: Ich weiß nicht, was ich von diesem Workshop erwarten soll. Meine Vorstellungen bewegen sich irgendwo zwischen "Gleich setzt sich jemand in eine Wanne und alle pinkeln mal drauf" bis hin zu "Wir bauen Gloryholes und … naja, wie erkläre ich das später meiner Freundin?" Letztes Jahr hatte Mischa Badasyan für sein Kunstprojekt "Save The Date" noch 365 Tage lang jeden Tag mit einem anderen Mann Sex. Kann ich da erwarten, dass er auf meine Grenzen Rücksicht nimmt?

Ich bin ein paar Minuten zu spät. Als ich hereinkomme und nach einem freien Platz Ausschau halte, lauschen alle schon andächtig dem Schnarchen eines Obdachlosen, der sich für die Nacht mit einer öffentlichen Toilette begnügen musste. Das tiefe Sägen tönt durch unseren kleinen Raum—klare, hallende Toiletten-Akustik.

Anzeige

Ein auffällig unauffälliges Peephole

Für die nächste Tonaufnahme brauche ich kurz, um zu verstehen, was passiert. Nach ein paar Sekunden höre ich aus all den Stimmen, dem Lachen und den sprudelnden Klospülungen das Stöhnen einer Frau heraus. Nach einer weiteren Minute hört man auch den dazugehörigen Mann, erst leise, dann immer lauter. Als der Mann seufzend und hörbar erlöst zum Höhepunkt kommt, tritt Mischa Badasyan vor uns und erklärt, dass er die Aufnahmen im Berliner Club "Gretchen" gemacht hat. "Wie ihr seht, ist die Toilette ein multifunktionaler Raum", sagt er.

Die Toilette ist auch in meinem Leben vieles. In erster Linie eine Oase der Ruhe, dann eine Ort der Erlösung und ja, vielleicht auch mal der nächstliegendste Platz, um Sex zu haben.

DIE CRUISING-ZONE BEIM MADONNA-KONZERT

"Ihr pinkelt im Schnitt sieben Mal am Tag, habt einen sieben Sekunden langen Strahl und pinkelt jedes Mal 300 bis 500 Milliliter", erklärt uns der Künstler und ich frage mich kurz, ob ich bei Eckhardt von Hirschhausen oder einer Lesung von Blase mit Charme gelandet bin. Badasyan erklärt, dass Klappen sein Interesse für die öffentliche Toilette weckten. Klappen sind Toiletten, in denen sich Männer treffen, die auf der Suche nach Sex sind, die also cruisen. Badasyan fiel vor ein paar Jahren auf, dass die Klappen langsam aus dem Stadtbild verschwinden—weil Sexverabredungen durch das Internet und Apps wie Grindr und GayRomeo einfacher werden und weil der Zugang zu City-Toiletten oder Bahnhofklos mittlerweile oft Geld kostet.

Badasyan zeigt jetzt seine Fotos von öffentlichen Toiletten und Klappen. "Wer hat viel Sahne?", steht an einer Kabinenwand der Grimm-Bibliothek der HU Berlin. Auch am Flughafen Schönefeld und in Museen gibt es Klappen.

Anzeige

Großer Andrang auf dem Herrenklo beim Konzert von Madonna

Ein anderes Foto zeigt eine Reihe Männer am Pissoir. Dazu erklärt der Künstler: "Letztes Jahr war ich auf der Herrentoilette während eines Madonna-Konzerts. Ohne Klischees bedienen zu wollen, ist die Mehrzahl der Madonna-Fans schwul. Die Toilette hat sich für zwei Stunden in eine Cruising-Zone verwandelt." Das sei für ihn ein Aha-Moment gewesen, weil es zeigt, wie wandelbar Toiletten seien.

WIR BASTELN UNSERE EIGENEN PEEPHOLES

Dann geht es weiter mit Videos. Im ersten pinkelt ein Mann an einem Pissoir in der Grimm-Bibliothek, die durchsichtige Tüte mit seinen Büchern steht neben ihm. Badasyan filmt ihn vom Boden seiner Kabine aus wie er nur einen kurzen Strahl pinkelt, dann wringt er mit seinen Fingern die letzten Tropfen aus seiner Harnröhre. Das macht er dann nochmal. Und nochmal. Und nochmal. Und irgendwann sieht es dann eher aus, als würde er an sich rumspielen. Erst als ein anderer Mann sich neben ihn stellt, packt er den Dödel ein und geht.

Als nächstes wird der dicke Mann in Albanien gezeigt, der nicht wusste, dass er durch ein Peephole gefilmt wird. Nach einer halben Ewigkeit, in der alle schweigend auf die Leinwand starren, schafft auch er es zum Orgasmus. Er kommt auf die Klobrille, tupft dann aber leider nur seinen Penis trocken. Man muss gut hinschauen, wenn man sich irgendwo hinsetzt, das habe ich jetzt nochmal eindrücklich gelernt.

Der Autor beim Basteln eines Peepholes

Weil die ganze Peephole-Sache so schöne Ausblicke mit sich bringt, sollen wir selbst lernen, wie man das kleine Guckloch in eine Kabinenwand bohrt und es passend verzirt. Ich bekomme ein Messer und hab das Holz bald durchlöchert. Das ging mir ein bisschen zu leicht. Wenn es so einfach geht, erhöht das die Peephole-Produktivität und damit die Wahrscheinlichkeit, bei meinem Toilettengang nicht mehr unbeobachtet zu sein.

Anzeige

Theoretisch gibt es da natürlich noch den deutschen Staat, der einen vor ungewolltem Publikum schützt. Öffentliche Toiletten sind "der Verrichtung der Notdurft gewidmet". Eine Zweckentfremdung stellt also einen Hausfriedensbruch dar. Und wer Löcher in eine Kabinenwand bohrt, der begeht Sachbeschädigung. Das hält viele aber nicht davon ab, es doch zu tun.

PLÖTZLICH FORDERT EINE FRAU GRUPPEN-PINKELN

Durch all die Stunden auf öffentliche Toiletten ist Mischa Badasyan aufgefallen, dass es unter Männern verschiedene Pinkel-Typen gibt. Daraus hat er ein kleines Booklet gemacht, in dem er die 38 Archetypen des Pissens vorstellt. Die verschiedenen Pinkler werden dann auch von einer Teilnehmerin nacheinander in Szene gesetzt, während Mischa ihr das Pissoir hinhält—natürlich alles rein pantomimisch. Es wird gekichert, als die Frau ihren imaginären Penis herausholt und dann in die Schüssel rotzt ("18 - Shot - Spucken beim Pinkeln / in der Regel am Anfang oder am Ende").

Ich selbst erkenne mich auch wieder, bei "7 - Run Boy Run - Männer versuchen zu pinkeln, es klappt nicht und sie verlassen den Raum, ohne ihr Geschäft zu erledigen". Die schüchterne Blase ist meiner Erfahrung nach ziemlich weit verbreitet unter Männern. Der Tipp eines Teilnehmers: "Stell dich ans Pissoir, schließ die Augen und denk an einen Indianer, der mit seinem Tomahawk auf seinem Delfin durchs Wasser reitet, dann läuft es von alleine". Das find ich witzig, weil ich seit Jahren eine ganz ähnliche Strategie habe: Wenn es bei mir nicht läuft, denke ich an Sheriff Woody und Buzz Lightyear aus Toy Story. Und magischerweise plätschert es dann kurz darauf fröhlich in die Schüssel. Ich hab keine Ahnung warum.

Die pantomimische Aufführung ist einer der Teilnehmerinnen viel zu soft. Sie unterbricht die Vorstellung: "Sag mal, hast du denn hier nicht noch irgendwo ne richtige Schüssel rumstehen? Dann können wir auch mal live pissen. Ich habe mir heute extra freigenommen und bin aus Frankfurt für den Workshop angereist, weil ich dachte, es würde auch mal praktischer werden". Betretenes Schweigen. Der Künstler erklärt ihr, dass er persönlich keinen Piss-Fetisch hat und das Thema des Workshops theoretisch bleiben soll. Die Frankfurterin wendet sich daraufhin an die Runde: Sie wolle dann nochmal fragen, ob irgendwer Lust später noch was zu starten. "Ich will nicht in einem Pool voll Pisse sitzen, aber ich finde Gruppen-Pinkeln einfach nett anzuschauen." Meine Hand hebt sich nicht, aber einige andere.

Nach zwei Stunden ist der Workshop vorbei. Er hinterlässt mich mit dem Wissen, dass öffentliche Toiletten sehr komplexe Orte sind. Und für mich als "Run Boy Run"-Pisser bleibt noch ein andere Erkenntnis: Ich werde auf öffentlichen Toiletten nie wieder in Ruhe pinkeln können, werde mich sowohl am Pissoir als auch in der Kabine beobachtet fühlen. Peepholes gibt es überall.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.