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Deutschland braucht mehr Gratis-Heroin

Bis jetzt bekommen 400 Abhängige in sechs Bundesländern Heroin vom Staat. Warum nicht alle?
Foto: imago/imagebroker

Während des Deutsch-Österreichischen Aids-Kongresses (DOEAK) hat die Deutsche Aidshilfe e.V. symbolisch einen Spritzenautomaten am Veranstaltungsort, dem Düsseldorfer Kongresszentrum, aufgestellt. Der Automat soll darauf aufmerksam machen, dass Konsumakzeptanz und niederschwellige Hilfsangebote einzelner Bundesländer große Erfolge erzielen. Im Gegenzug haben Bundesländer wie Bayern, in denen die „Überlebenshilfe" neben „Repression, Prävention und Therapie" nicht als vierte Säule der Drogenpolitik gefördert wird, die meisten Drogentoten. Überlenbenshilfe heißt das Bereitstellen von Drogenkonsumräumen, Spritzeanautomaten und bestenfalls auch Heroin-Ambulanzen.

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„Drogenkonsumräume retten Leben und verhindern Infektionen mit HIV und Hepatitis C", sagt DAH-Vorstandsmitglied Sylvia Urban in einer Pressemitteilung. „Trotzdem weigern sich zehn Bundesländer, solche Hilfsangebote für Heroinkonsumenten einzurichten. Sie gehen im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen und produzieren vermeidbare Infektionen. Auch Spritzenautomaten gibt es noch nicht überall. Wir fordern die Regierungen der betroffenen Bundesländer auf, endlich die Scheuklappen abzulegen und das Leben und die Gesundheit drogenabhängiger Menschen zu schützen. Zugang zu Hilfe und Prävention sind ein Menschenrecht!"

Drogenkonsumräume gibt es in Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland, während alle anderen Bundesländer darauf verzichten. Auch Spritzenautomaten gibt es längst nicht überall: In Berlin gibt es 15, in NRW können Heroin-Konsumenten an über 100 Standorten sauber Spritzen ziehen. Eine Spritze kostet zwischen 50 Cent und einem Euro.

In den neuen Bundesländern gibt es mit Ausnahme von Berlin gar keine Automaten, aber auch das rot-grüne Rheinland Pfalz sowie Hamburg lassen die Heroin-Nutzer alleine, wenn es um sauberes Spritzbesteck geht. Da ist selbst München, wo es keine Drogenkonsumräume gibt, fortschrittlicher. In Bayerns Hauptstadt gibt es zwei Automaten—allerdings sollte man sich in München nicht beim Benutzen des Bestecks erwischen lassen. Genauso gefährlich ist es für Ärzte, die im Rahmen des Substitutionsprogramms allzu menschlich anstatt stur nach dem Gesetz handeln. „Drogenärzte" verlieren im Südosten schnell die Zulassung.

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Wo bleiben eigentlich die Heroin-Ambulanzen?

Eigentlich müsste Deutschland schon drei Schritte weiter sein als derzeit. Hatte die Bundesregierung nicht 2009 die Echtstoffvergabe an Schwerstabhängige gesetzlich verankert? Schließlich hat es die Schweiz vorgemacht, danach haben es Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Bonn, Hannover, München und Karlsruhe als Modellprojekt erfolgreich ausprobiert. 2006 war klar: Die Ergebnisse der Studie sprechen für Heroin. Mit echtem Stoff nahmen die Teilnehmenden deutlich weniger andere Drogen und werden kaum mehr straffällig. Doch seit der gesetzlichen Verankerung 2009 gibt es kaum Fortschritte. Nur Berlin hat 2013 eine Heroin-Ambulanz neu eröffnet, ansonsten arbeiten die aus dem ehemaligen Modellprojekt jetzt als feste Einrichtungen. In vielen Bundesländern mit Drogenkonsumräumen gibt es aber noch keine Heroin-Ambulanzen, in denen Langzeit- und Schwerstabhängige unter staatlicher Aufsicht mit Heroin versorgt werden.

Diamorphin. Foto: imago/Thorsten Leukert

Derzeit bekommen 400 Abhängige Heroin vom Staat, der Hamburger Suchtforscher Uwe Verthein schätzt den deutschlandweiten Bedarf auf 1500-3000. Der Stoff aus der Heroin-Ambulanz ist übrigens kein künstliches Heroin oder ein Ersatzstoff, wie regelmäßig behauptet wird. Diamorphin ist ein halb-synthetisches Opiod und im Prinzip genau das gleiche Pulver, das es in gestreckter Form am Kottbusser Tor oder im Frankfurter Bahnhofsviertel gibt. Eben nur in Reinform. Geliefert wird das Heroin für die Ambulanzen übrigens von der DiaMo GmbH&Co KG im schwäbischen Pfullingen.

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Wir haben Holger Wicht, den Pressesprecher der Deutschen Aids-Hilfe, angerufen, um uns von ihm erklären zu lassen, was durch die Aktion erreicht werden soll.

VICE: Hallo Herr Wicht. Weshalb haben Sie einen Spritzenautomaten mitten ins Düsseldorfer Kongresszentrum gestellt? Gibt es in so einem Zentrum viele Fixer?
Holger Wicht: Wir wollten eine Botschaft in die Welt tragen: Drogenkonsumenten müssen Zugang zu allem bekommen, was ihre Gesundheit und ihr Leben schützt. Spritzenautomaten und Drogenkonsumräume gibt es noch längst nicht überall in Deutschland.

Helfen die Automaten wirklich?
Unter Experten wie Suchtberatern und Medizinern herrscht Konsens: Drogenkonsumräume und saubere Spritzen bedeuten weniger Tote, weniger Infektionen, weniger Drogenkonsum in der Öffentlichkeit—das ist gut für alle Bürgerinnen und Bürger. Statt davon zu profitieren, entscheidet sich ein Land wie Bayern für eine beständig steigende Zahl von Drogentoten.

Sind die Bayern die einzigen, die das nicht einsehen wollen?
Nein, Drogenkonsumräume gibt es bisher nur in sechs Bundesländern. Baden-Württemberg zum Beispiel könnte hier endlich mal ein Zeichen setzen. Dort regiert schließlich ein grüner Ministerpräsident. Drogenkonsumräume sind Maßnahmen ohne Risiko und Nebenwirkungen. Ganz im Gegenteil: Sie entlasten den öffentlichen Raum. In den neuen Bundesländern gibt es weder Drogenkonsumräume noch Spritzenautomaten, obwohl Brandenburg und Thüringen „linke" Gesundheitsministerinnen haben.

Wieso klafft die Lücke im Osten?
Da fragen sie am besten die jeweilige Landesregierung selbst.

Was ist mit den Diamorphin-Ambulanzen?
Für nicht wenige Menschen sind sie der einzige Ausweg, aber sie haben viel zu geringe Kapazitäten und die Zugangshürden zur Behandlung mit Diamorphin, also pharmazeutisch erzeugtem Heroin, sind sehr hoch. Wir sollten uns ein Beispiel an der Schweiz nehmen. Dort hat man sich vom vorrangigen Ziel der Abstinenz verabschiedet und gibt den Leuten, was ihnen hilft. Das schafft oft die Grundlage für spätere Abstinenz.