Sex

Diese Störung verursacht unkontrollierbare Orgasmen – Für Betroffene ein Albtraum

Während des fast sechsstündigen Flugs hatte Noras Körper einen Orgasmus nach dem anderen – etwa alle fünf Minuten einen.
Eine Frau liegt mit angezogenen Beinen auf einem Bett, PGAD oder persistierende genitale Erregung betrifft etwa ein Prozent aller Menschen und kann unkontrollierbare Orgasmen verursachen
Symbolfoto: Marjan Apostolovic | Shutterstock

Als Nora vergangenes Jahr zu ihrer Familie nach Calgary, Kanada, flog, ging sie durch die Hölle. Während des fast sechsstündigen Flugs von Halifax spannte sie ihren Beckenboden an und konzentrierte sich auf ihre Atmung, während ihr Körper einen Orgasmus nach dem anderen durchlebte – etwa alle fünf Minuten einen. Wenn sie einen besonders intensiven Höhepunkt nicht länger zurückhalten konnte, ging sie auf die Toilette. Das passierte etwa alle halbe Stunde. 

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"Es war ziemlich schmerzhaft, die großen zu unterdrücken. Ich habe versucht, mich nicht zu bewegen und aufzufallen", sagt Nora, die in Wahrheit anders heißt. Sie ist 20 und studiert in Halifax am östlichen Ende von Kanada.

Als sie endlich bei ihrem Elternhaus ankam, wo ihr Vater, ihre Stiefmutter, zwei Schwestern und zwei Stiefschwestern leben, verbrachte sie die erste Woche vor allem alleine in ihrem Zimmer, obwohl sie ihre Familie seit acht Monaten nicht gesehen hatte. Die Orgasmen hörten nicht auf.

"Es war schwer, weil wir uns so lange nicht gesehen hatten und Zeit miteinander verbringen wollten. Aber ich fühlte mich einfach nicht wohl dabei", sagt sie. 


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Während Nora einen Orgasmus nach dem anderen durchlebte, war sie mental überhaupt nicht sexuell erregt. Sie hat eine noch relativ unerforschte Störung mit dem Namen Persistent Genital Arousal Disorder oder kurz PGAD – zu Deutsch: persistierende genitale Erregung. Sie kann eine Reihe von Symptomen auslösen wie spontane Orgasmen, ein Kribbeln und Pulsieren der Genitalien, inklusive der Brüste, Lubrikation und ein Gefühl, als wäre man konstant erregt. Bei manchen kommt es sogar zur Milchbildung. Diese Symptome gehen häufig nicht mit sexuellem Verlangen einher. Die Ursache für die Störung ist weitestgehend unbekannt, eine Therapie gibt es bislang nicht.

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Die Psychologin Caroline Pukall forscht an der kanadischen Queen's University zu sexueller Gesundheit und Dysfunktion. Sie sagt, dass PGAD im medizinischen Bereich zwar relativ unbekannt sei, allerdings rund ein Prozent aller Menschen davon betroffen sei. PGAD wird laut der Psychologin häufig mit Hypersexualität verwechselt. Eine Diagnose werde erst gemacht, wenn alle anderen Erkrankungen und Störungen ausgeschlossen sind. Die Symptome können konstant sein oder in Schüben kommen, sagt sie. Auslöser können Vibrationen wie bei einer Autofahrt sein oder sexuelle Darstellungen. Ein Drittel der Personen, die PGAD haben, erlebt laut Pukall spontane Orgasmen, die Hälfte beschreibe ihre Symptome als schmerzhaft. 

"Ich nenne sie ungern Orgasmen", sagt Pukall. "Es ist fast wie ein Krampf. Es ist nicht angenehm, es ist störend und quälend."

Da die Orgasmen jederzeit auftreten können, "kann es passieren, dass man als pervers oder sexuell übergriffig wahrgenommen wird".

Pukall sagt weiter, die Störung könne kräftezehrend sein und Ärztinnen stellten oft nicht die richtigen Fragen, was für zusätzliche Frustration bei Betroffenen sorge.

"Die sagen einem vielleicht sogar, dass man sich doch glücklich schätzen soll", sagt Pukall. 

Die Realität sieht allerdings ganz anders aus: Menschen mit PGAD leiden der Psychologin zufolge häufiger an Depressionen, Angststörungen und sogar Suizidgedanken. Da es bislang keine effektive Behandlungsmethode gebe, fühlten sich die Patientinnen hoffnungslos, sagt Pukall.

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PGAD hat Noras Leben dramatisch verändert. Manchmal schafft sie es ein paar Wochen oder einen Monat ohne Symptome. Wenn sie sich allerdings in einem besonders heftigen Schub befindet, können die Orgasmen im Zweiminutentakt kommen. Über den Tag verteilt sind es Hunderte. Aus Noras Brüsten ist dabei auch schon Milch gekommen, obwohl sie nie schwanger war.

"Wenn es so ist, kann ich mir kein Essen kochen, nicht arbeiten oder mich unterhalten. Es ist sehr isolierend", sagt sie. Masturbation schafft keine langfristige Erleichterung und kann das Problem sogar verschlimmern.

Im vergangenen Semester wählte Nora die Hälfte ihrer Kurse wieder ab, weil sie einfach nicht mit den Aufgaben hinterherkam. Sie sagt, ihr Vater habe das als "eine Art Faulheit wahrgenommen, anstatt wirklich zu verstehen, wie es ist, so zu leben".

"Ich habe gehofft, sie könnten es einfach rausschneiden und ich mein Leben dann weiterleben."

Nora ist für sich zu dem Schluss gekommen, dass für sie eine Karriere in ihrem geplanten Beruf als Wirtschaftsprüferin nicht mehr realistisch ist. Sie glaubt nicht, dass sie ihn mit der Störung ausüben kann, und denkt über andere Karriereoptionen nach.

Vom Gesundheitssystem ist Nora frustriert. Sie sagt, sie habe im vergangenen Jahr mehrere Blutuntersuchungen gemacht und sei bei sechs Ärzten gewesen, zwei davon hätten ihr ihre Symptome nicht geglaubt. Als eine MRT-Untersuchung vor Kurzem keine Auffälligkeiten ergab, war sie enttäuscht. Sie und ihre Ärztin hatten gehofft, dass er eine Wucherung an der Unterseite ihres Gehirns oder an ihrer Wirbelsäule zeigen würde, die die Symptome erklärt.

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"Ich habe gehofft, sie könnten es einfach rausschneiden und ich mein Leben dann weiterleben", sagt Nora.

Ihr ehemaliger Therapeut wollte nicht länger mit ihr arbeiten, weil ihm die Gespräche über PGAD unangenehm waren.

"Das löste in mir noch so ein Gefühl aus von 'Das ist etwas, wofür du dich schämen solltest, und du solltest nicht darüber sprechen'", sagt Nora. "Es hat dazu geführt, dass sich alles noch sexueller und schmutziger angefühlt hat."

Die Ärztin Anne Louise Oaklander hat einen einfachen Rat für Menschen mit PGAD: Geht zum Neurologen.

Oaklander, selbst Neurologin am Massachusetts General Hospital, ist Autorin einer Studie mit zehn Frauen, die von PGAD betroffen sind. In der Arbeit, die im Januar 2020 erschien,  konnte sie zwei Ursachen für die Störung festmachen: Fehlfunktionen der Nerven, die Gefühle von den Genitalien weitergeben, und Rückenmarksverletzungen.

"Weder die Patientinnen noch die Ärzte denken an neurologische Ursachen. Ich hoffe sehr, sie darauf aufmerksam zu machen", sagt Oaklander. Sie empfiehlt Patientinnen, die Studie auszudrucken und zur Untersuchung mitzubringen.

"Ärztinnen und Ärzte können nicht viel sagen, wenn es Schwarz auf Weiß in einer führenden medizinischen Fachzeitschrift steht."

Die zehn Frauen in der Studie waren, zwischen elf und siebzig Jahre alt. Bei ihnen seien Beschädigungen an den Nervenenden die gängigste Ursache gewesen, sagt Oaklander. Bei einer Frau hatte die Störung eingesetzt, nachdem sie ein Medikament abgesetzt hatte. Auch Psychologin Pukall ist das als Auslöser für die Symptome aufgefallen, insbesondere beim Absetzen Selektiver-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, sogenannter SSRIs.

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"Stell dir vor, du hast den ganzen Tag das Gefühl, niesen zu müssen, aber kannst nicht niesen."

Oaklander sagt, sobald eine neurologische Ursache bestimmt wurde, könnten die Ärzte versuchen, das Problem zu lösen: potenziell mit Medikamenten oder anderen medizinischen Eingriffen. Selbst wenn erst mal keine passende Therapie in Aussicht ist, würden Patientinnen "vor Erleichterung weinen", wenn eine Ursache für ihre Störung gefunden werde.

Daniella ist 29 und lebt in den USA im Bundesstaat Indiana. Ihren Familiennamen möchte sie hier nicht nennen. Sie hat vor Kurzem eine Behandlung gegen ihre PGAD-Symptome begonnen.

Die zweifache Mutter bekommt zwar keine spontanen Orgasmen, aber ihre Genitalien erleben Phasen durchgehender Erregung, die sie nicht unterbrechen kann – selbst durch Masturbation nicht.

"Stell dir vor, du hast den ganzen Tag das Gefühl, niesen zu müssen, aber kannst nicht niesen", sagt sie. "Da fühle ich mich triebgesteuert und ruhelos."

Daniella hat Depressionen und eine Angststörung. Die Ursache für ihr PGAD kennt sie nicht aber sie glaubt, dass SSRI-Antidepressiva ihre Symptome verschlimmert haben.

Die Symptome habe sie schon seit der High School, sagt sie. Da sie in einer christlichen Täufer-Gemeinde aufwuchs, habe sie stets eingetrichtert bekommen: "Nur eine reine, jungfräuliche, liebevolle, glückliche Frau, die sich um ihre Familie kümmert, ist eine gute Frau." Sie schämte sich für ihre Sexualität.

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"Es hat mein Leben immens verbessert, die Sache als medizinisches Problem zu sehen", sagt sie.

In den vergangenen Monaten war Daniella bei mehreren Spezialistinnen, darunter auch einer in Michigan, die ihr sechs Spritzen mit dem Lokalanästhetikum Lidocain und Steroiden verabreichte. Sie lässt sich auch behandeln, um die Spannungen in ihrem Beckenboden zu lösen. Die Übungen zeigten bereits Verbesserungen, sagt sie. Sie habe weniger Schmerzen.

Ob die Spritzen geholfen haben, könne sie nicht sagen. Insgesamt hat Daniella in den vergangenen Monaten knapp 5.000 US-Dollar für die Behandlungen ausgegeben. Abgesehen davon helfe es ihr, mehr mit ihrem Mann über ihre Probleme zu reden. Das sei anfangs schwer gewesen, da beide in einem sehr restriktiven Umfeld aufgewachsen sind. Aber "wir machen Fortschritte", sagt sie.

Auf Facebook haben Daniella und Nora in PGAD-Selbsthilfegruppen Rückhalt gefunden. Dort tauschen sich Menschen über ihre Symptome aus, über Behandlungsmöglichkeiten und teilen die Namen von Ärzten, die mit der Störung vertraut sind. 

Nora sagt, sie bekomme viel Unterstützung aus ihrem Freundeskreis und ihr psychischer Zustand habe sich gebessert.

"Ich bin nicht mehr wütend, dass ich das für den Rest meines Lebens haben werde. Stattdessen kümmere ich mich jetzt darum, wie ich damit klarkomme", sagt sie.

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