Hitlergrüße, durch die Straßen gejagte Geflüchtete, mehrere Tausend gewaltbereite Rechtsextreme und eine Polizei, die zusieht – was in Chemnitz seit Sonntag passiert ist, zeigt, dass die Hemmschwelle für rechtsextremen Hass und Gewalt in einem Ausmaß gesunken ist. Und dass Chemnitz Deutschland langfristig verändern könnte. Nicht-weiße Menschen, aber auch Journalisten und Journalistinnen, fühlen sich derzeit auf den Straßen der sächsischen Stadt nicht sicher.
Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn lehrt Antisemitismusforschung an der TU Berlin und warnt seit langem vor den Folgen, wenn Regierung und Verwaltung auf dem rechten Auge blind sind. Der 41-Jährige bezeichnete Sachsen in der Vergangenheit sogar als “failed state”, also als gescheiterten Staat. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, warum immer wieder der Freistaat so besonders negativ auffällt – und ob Sachsen überhaupt noch zu retten ist.
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VICE: Sie bezeichnen Sachsen als einen “failed state”. Was heißt das?
Professor Salzborn: Man spricht bei Nationalstaaten von einem “failed state”, wenn der Staat bestimmte Funktionen nicht mehr garantieren kann, etwa die Freiheit und die Sicherheit seiner Bürger. Übertragen auf Sachsen bedeutet das, dass ein wesentlicher Teil der staatlichen Institutionen und der Verwaltung, zum Beispiel Staatsanwaltschaft oder Polizei strukturell seit Jahren Ausfälle hat. Das Leben der Menschen zu sichern und Gewalt zu verhindern geschieht in Sachsen seit geraumer Zeit nur in rudimentärem Maß, sehr unzuverlässig und – das fällt auf – gerade nicht, wenn es um rassistische und rechtsextreme Gewalt geht.
In der Schule habe ich gelernt, dass es genau für solche Fälle die Gewaltenteilung gibt. Warum funktioniert das hier nicht?
Das langfristige Versagen der Regierung wird von anderen Gewalten, den Institutionen des Rechtsstaats oder der Opposition im Landtag, nur rudimentär aufgefangen. Es gibt in Sachsen eine Laissez-faire-Haltung gerade gegenüber rassistischer, völkischer Alltagsgewalt und ein bewusstes Wegsehen, Tolerieren, vielleicht sogar Gutheißen des Erstarkens rechtsextremer Strukturen.
Muss man die sächsische Polizei entnazifizieren?
Das ist eine schwierige Frage, da die Polizei eine Institution ist, die sich ungerne beforschen lässt. Um zu wissen, wie es in den Polizeidienststellen vor Ort aussieht, müssten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Langzeitbeobachtungen machen und sich die Arbeit in einzelnen Polizeidienststellen genau anschauen. Wir wissen bisher einige Schlaglichter über die Polizei in Sachsen, es ist aber offen, inwiefern es sich um einzelne Dienststellen handelt, oder ob es ein strukturelles Problem ist. Sollte es Sachsen ernst meinen und sich dem Problem stellen, könnten sie sich entsprechender Forschung öffnen und der Wissenschaft Zugang zu den Polizeidienststellen gewähren.
“In anderen Bundesländern formt sich Widerstand gegen Rechtsextremismus auch aus der Politik”
Inwiefern ist Chemnitz exemplarisch für das Versagen des Freistaats Sachsen?
Wir sehen in Chemnitz und Sachsen im Brennglas, was für massive Probleme mit Rechtsextremismus es in ganz Deutschland gibt. Die anderen Länder und Kommunen gehen unterschiedlich damit um. In Sachsen besteht das Umgehen mit dem Problem darin, es seit Jahren kleinzureden, es zu verschweigen, es zu bagatellisieren sowie selbst rassistische und völkische Äußerungen zu formulieren.
Warum fällt gerade immer wieder Sachsen so besonders negativ auf?
Wenn Rechtsextremismus erstarkt, müssen wir uns nicht nur fragen: Wie agieren die rechtsextremen Strukturen selbst? Sondern auch: Wie agiert die demokratische Mehrheitsgesellschaft? Da haben wir auf Ebene der offiziellen Politik ein Totalversagen in Sachsen. In Sachsen hat die damalige Regierung unter Kurt Biedenkopf schon direkt nach der Wiedervereinigung die Existenz von Rechtsextremismus weit von sich gewiesen. Die frühen Wahlerfolge rechtsextremer Parteien haben dann dazu geführt, dass die rechtsextreme Szene ihre Schwerpunkte nach Sachsen verlegte und sich lokale Strukturen bildeten. In anderen Ost- wie Westdeutschen Bundesländern kann sich der Rechtsextremismus nicht so gut entfalten, weil sich dort der Widerstand nicht nur aus der kleinen lokalen Zivilgesellschaft formt, sondern auch aus der Politik.
“Die sächsische Regierung muss Selbstkritik üben. Alles andere ist eine gefährliche Verharmlosung der Lage”
Was nun aber passiert, ist das Sachsen-Bashing?
Ich finde wichtiger, zu schauen, dass die Kritik von vielen Seiten gegenüber Sachsen, seit Jahren von den Verantwortlichen banalisiert und abgewertet wird. In Sachsen setzen sie sich nicht mit inhaltlichen Argumenten auseinander, sondern versuchen, sich der Kritik zu entziehen. Die Verantwortlichen bemühen sich, eine Fassade für das Ansehen des eigenen Landes zu wahren. Zusätzlich stilisiert man sich selbst als Opfer. Insofern ist es dringend geboten, dass die Kritik an Sachsen endlich auch von der sächsischen Regierung als Selbstkritik formuliert wird. Alles andere ist eine gefährliche und in Gewalteskalation mündende Verharmlosung der Lage.
Kann man Sachsen noch retten?
Es ist nie zu spät für eine Einsicht der demokratischen Parteien in Sachsen um zu begreifen, dass sie über Jahre Fehler gemacht haben. Aber ich glaube, dass die Bundesregierung aber auch die anderen Bundesländer es sich nicht gefallen lassen sollten, wie Sachsen agiert. Das alltägliche Klima dort macht den Menschen Angst vor dem rassistischen Mob und diese Stimmung zieht sich durch das ganze Land. Es hat mittlerweile eine Eskalationsebene angenommen, in dem Todesopfer die Folge sein können. Das dürfen demokratische Parteien nicht tolerieren.
Was könnte die Bundesregierung machen?
Die Verfassung der Bundesrepublik sieht den Fall, dass eines seiner föderalen Mitglieder zum Totalausfall wird, nicht vor. Im Zweifel müsste man sogar eine Änderung der Verfassung diskutieren, um auf diesen Fall reagieren zu können. Man sollte aber noch darauf hoffen, dass die sächsische Landesregierung einen Funken von Erkenntnis und Verstand aufbringt und von ihrer Abwehr- und Opferrhetorik abrückt.
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