Selfies in den 70ern: Wie eine Künstlerin ihre Sexualität entdeckte
Alle Fotos: Meryl Meisler

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Selfies in den 70ern: Wie eine Künstlerin ihre Sexualität entdeckte

Zwischen Vorstadt-Tristesse und einem Hang zur Theatralik fand die Fotografin Meryl Meisler zu sich selbst – mit Hilfe einer Kamera als Umschnalldildo.

Pfadfindermitgliedschaft, Ballet, Abschlussball. Eigentlich lebte die Fotografin Meryl Meisler in den 50er und 60er Jahren ein typisches Leben eines Mädchens aus einer US-amerikanischen Vorstadt. Doch ihr wurde schnell klar, dass sie später mal keine Hausfrau, Lehrerin, Krankenschwester oder Sekretärin sein will.

Als Meisler erwachsen wurde, entdeckte sie sowohl ihre lesbische Neigung als auch ihre künstlerische Seite. "Fotografieren liegt mir in den Genen", sagt sie. Ihr Opa, ihr Onkel und ihr Vater waren alle begeisterte Fotografen.

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Ihre erste Kamera bekam Meisler in der zweiten Klasse, aber erst während ihres Studiums Mitte der 70er Jahre begeisterte sie sich richtig für die Fotografie. In den Semesterferien kehrte sie immer wieder in ihr Elternhaus zurück, wo sie sich mithilfe von Selbstporträts mit ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft auseinandersetzte.

Eine Auswahl dieser Selbstporträts ist im Werk Purgatory & Paradise: SASSY 70s Suburbia & The City erschienen, andere werden in Meislers kommendem Buch zu sehen sein. Wir haben uns mit der 66-Jährigen darüber unterhalten, wie sie als junge Frau ihren Weg fand:

The Girl Scout Oath, North Massapequa, NY, January 1975 ©Meryl Meisler

VICE: Wie war es, in den 50er und 60er Jahren aufzuwachsen?
Meryl Meisler: Ich bin auf Long Island großgeworden, einer Insel vor New York City. Die Familien dort kamen aus aller Herren Länder. In meiner Heimatstadt Massapequa blieben aber alle eher unter sich. Dank staatlicher Zuschüsse konnte man dort damals Häuser für nicht mal 15.000 Dollar kaufen.


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Meine Eltern gingen im Lebensstil der Vorstadt richtig auf. Sie stellten sicher, dass meine Brüder und ich all das hatten, was ihnen in ihrer Kindheit verwehrt geblieben war. Und zum Glück unternahmen wir oft Ausflüge nach New York. Meine Mutter liebte Theater, weshalb wir uns ständig Broadway-Shows ansahen. Meine sehr theatralischen Arbeiten sind davon beeinflusst.

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The Ballerina, North Massapequa, NY, June 1975 ©Meryl Meisler

Wann wurde dir klar, dass du anders warst?
Falls du damit auf meine Homosexualität anspielst: Ich datete als Teenagerin auch Jungs und ging zu meinem Abschlussball. Das alles gefiel mir auch. Trotzdem wusste ich, dass ich anders war. Ich hatte bloß noch keine Ahnung, auf welche Art.

Smoking Dishwasher, North Massapequa, NY, 1973 ©Meryl Meisler

Wie hast du zur Fotografie gefunden?
Die Fotografie ist wegen meines Opas und meines Vaters von Anfang an ein Teil meines Lebens gewesen. Mein Vater hat meinen Stil auch sehr geprägt. Während des Studiums belegte ich einen Fotokurs und fing an, meine Freunde und mich selbst abzulichten. Eines meiner ersten Bilder ist das, auf dem ich neben der Spülmaschine auf dem Boden rauche.

Dieses Foto hat mich richtig schockiert. Ich trage darauf ja nur ein Hauskleid meiner Mutter und rauche, obwohl ich eigentlich Nichtraucherin bin. In diesem sehr privaten Moment habe mich gefragt, ob ich eine zukünftige Hausfrau sei oder nicht.

Shaving, North Massapequa, NY, 1973 ©Meryl Meisler

Wie haben dir die Selbstporträts in dieser Phase deines Lebens weitergeholfen?
Ich wollte das einzige Leben festhalten, das ich bis dahin kannte. Ich war 21, als ich die Fotos schoss. Mein Coming Out hatte ich noch nicht gehabt, auf vielen der Bilder wusste ich nicht so recht, wo ich hingehörte.

Für die Shootings habe ich dann alle Schränke und den Dachboden in meinem Elternhaus nach besonderen alten Sachen durchsucht. In den Fotos dreht sich alles um den Lebensabschnitt zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, in dem ich mich fragte, wer ich sei und wer ich sein wolle. Ich stellte meine Zukunft in der Vorstadt in Frage, weil ich da nicht reinpasste.

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Siehst du die Fotos rückblickend mit anderen Augen?
Ich finde sie inzwischen extrem mutig. Ich habe sie ja sogar drucken lassen. Ich bin überrascht, wie zielstrebig ich damals war.

Untitled Film Still, North Massapequa, NY, Thanksgiving 1976 ©Meryl Meisler

Wie kam es zu deinem radikalsten Selbstporträt, bei dem du eine Kamera als eine Art Umschnalldildo benutzt?
In einem Uni-Gebäude hing ein Poster für eine Ausstellung der Künstlerin Lynda Benglis, auf dem sie – abgesehen von einem riesigen Dildo – komplett nackt ist. Das muss mich unterbewusst inspiriert haben.

Meine Kamera war damals meine Waffe. Ich habe das Bild auch mehrmals geschossen. Es hat mich auch viel Überwindung gekostet, es anderen Leute zu zeigen. Für mich ist ein Foto erst dann ein Foto, wenn alle Faktoren da sind – vom Schockfaktor und Aufbau bis hin zum richtigen Licht und zum Platz in der Geschichte. Als ich das besagte Selbstporträt betrachtete, sagte ich zu mir: "Das hat alles!" Es ist das perfekte Foto.

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My Childhood Bedroom Mirror, North Massapequa, NY, February 1976 ©Meryl Meisler

Girl Scout Applying Lipstick, North Massapequa, NY, January 1975 ©Meryl Meisler

A Falling Star, North Massapequa, NY, January 1975 ©Meryl Meisler

Dancing with my Brother Mitch, North Massapequa, NY, January 1975 ©Meryl Meisler

Playmate Hostess, NY, NY, December 1978 ©Meryl Meisler

Tap Dancing with Mom, North Massapequa, NY, January 1975 ©Meryl Meisler

Whopping it up with Leslie After Chauffeuring Mitch to the Prom, Huntington, NY, June 1976 ©Meryl Meisler

Dining Room Table, North Massapequa, NY, January 1975 ©Meryl Meisler