Wie uns das Bildungssystem kaputt macht
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Schule

Wie uns das Bildungssystem kaputt macht

"Es geht schon lange nicht mehr um ein kleines bisschen mehr Ansporn, es geht darum, dass Jugendliche mit 17 Jahren schon kaputt sind, bevor sie überhaupt erst richtig mit ihrem Leben angefangen haben."

Lilly Blaudszun ist 17 Jahre alt und beginnt nach den Sommerferien ihr letztes Jahr an einem Gymnasium in Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist Bundeskoordinatorin der Schüler*innen und Auszubildenden der Jusos und stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Mecklenburg-Vorpommern. Die letzten 11 Jahre Schule haben ihr vor allem beigebracht, sich selbst zu organisieren und Termine zu koordinieren, sagt sie. "Womit ich zumindest etwas für meine Zukunft gelernt habe."

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Wenn ich am Montagmorgen aufstehe und mich auf dem Weg zu meinem Gymnasium im beschaulichen Mecklenburg-Vorpommern mache, erwartet mich eine 38-Stunden-Woche mit bis zu zwölf Tests und zwei Klausuren. Plus Hausaufgaben, und ich muss für Klausuren lernen und Vorträge vorbereiten. Wir Schüler*innen fungieren als Manager*innen einer Ich-AG, versuchen, nebenbei noch irgendwo soziales Engagement, Sport, Familie, Hobbys und Freund*innen unterzubringen.

Als ich vor 11 Jahren anfing, in die Schule zu gehen, war ich neugierig und wissbegierig. Ich wollte alles lernen und das möglichst schnell. Damals habe ich nicht geahnt, wie Schule einmal werden würde und was sie mit uns macht.

Nicht nur mein Leben außerhalb der Schule leidet heute, auch das Leben in der Schule und Angebote neben dem regulären Unterricht kommen zu kurz. Ob Chor, Jugendrotkreuz oder Sport-AG, ich habe – genau wie meine Mitschüler*innen – einfach kaum Zeit dafür. Es ist schwierig, einen gemeinsamen Termin zu finden oder überhaupt Zeit freizuräumen. Auch Sportvereinen laufen die Mitglieder davon, viele führen das auf den Zeitmangel der Schüler seit der Schulreform zu G8 zurück.

Juso und Schülerin Lilly Blaudszun steht in Wismar auf der Straße

"Was wir lernen, soll uns auf unser Leben vorbereiten, nicht nur auf möglichst effizientes Arbeiten" || Foto: Wismarfoto

Unter G8 schließen Schüler*innen das Abitur nach zwölf statt dreizehn Jahren Schule ab. Die Reform wurde in den letzten Jahren in allen Bundesländern einzeln durchgesetzt, heute ist das G8/G9-System so unübersichtlich wie der Rest des föderalen deutschen Bildungssystems. Während es in einigen Ländern wie Hessen beide Schulformen gibt, setzen andere wie Niedersachsen und Bayern bereits eine Rückkehr zu G9 an. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es derzeit nur G8 und damit nur acht Jahre Zeit für das Abitur.

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Zu wenig Zeit. Vielleicht hätte ich gerne Zeichnen gelernt, vielleicht hätte meine beste Freundin länger Klavier gespielt oder der beste Sportler unseres Jahrgangs lieber nie mit Leichtathletik aufgehört. Vielleicht hätten wir noch mehr Talente entdeckt und ausprobiert. Druck und Zeitmangel in der Oberstufe verbieten uns das jedoch.

"Es geht schon lange nicht mehr um ein kleines bisschen mehr Ansporn, es geht darum, dass Jugendliche mit 17 Jahren schon kaputt sind, bevor sie überhaupt erst richtig mit ihrem Leben angefangen haben."

Klar, ein wenig Leistungsdruck ist manchmal nicht schlecht, er kann uns motivieren, mehr aus uns herauszuholen. Gesunder Leistungsdruck, von mir selbst und außerhalb, bringt mich dazu, mehr aus mir zu machen, als wenn mir und anderen meine Leistung egal ist. Aber darum geht es hier gar nicht mehr, denn der Druck ist seit der Schulreform ein Dauerzustand. Es geht schon lange nicht mehr um ein kleines bisschen mehr Ansporn, es geht darum, dass Jugendliche mit 17 Jahren schon kaputt sind, bevor sie überhaupt erst richtig mit ihrem Leben angefangen haben. Und das ist manchmal echt schwer auszuhalten.

Wir sind in einem Alter, in dem es darum geht, wer wir sind und was wir sein wollen. Wir müssen uns selbst erkunden und finden und Identität aufbauen. Stattdessen rennen wir von der einen Klausur zur Studienorientierung zur Agentur für Arbeit, und versuchen verzweifelt, irgendwie unseren Weg durch dieses Zukunftschaos zu finden. Ich weiß nicht, wie die Welt draußen funktioniert, wenn ich mit dem Studium anfange. Ich habe keine Ahnung von Steuern, Miete, Studienfinanzierung oder Versicherungen, die Schule bringt uns das nicht bei (daran konnte auch der Wut-Tweet der damaligen Schülerin Naina von 2015 nichts ändern). Alles, was da kommt, müssen wir uns später selbst ergoogeln, wenn unsere Familie oder Freund*innen auch nichts darüber wissen.

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Unsere Schulzeit ist nicht nur Etappenziel auf dem Weg zur beruflichen und akademischen Bildung, sondern auch prägend für unser Verhältnis zur Bildung und unsere Persönlichkeitsentwicklung. Werde ich Lernen nach der Schule für immer schrecklich finden? Warum werden wir Schüler*innen eher zu funktionierenden Arbeitskräften ausgebildet als zu kritisch denkenden Menschen?

Wir müssen nicht nur viel schneller und unter höherem Druck lernen, auch die Qualität unserer Bildung leidet massiv. Die Umstellung von G9 zu G8 erforderte natürlich, dass die Lehrpläne geschmälert wurden. Insgesamt habe ich als Schülerin im G8-System rund 180 Stunden weniger Mathe und 200 Stunden weniger Englisch in meiner Schulzeit.

Problematisch ist vor allem, dass die Zeit für Übungsstunden wegfällt. Beginnen wir in Mathe ein neues Thema, wird uns zügig der Stoff vermittelt, darauf folgt eine – wenn es zeitlich gut läuft, sind es zwei – Beispielaufgabe und dann müssen wir schon mit dem nächsten Thema beginnen. Zeit, das Gelernte zu üben, haben wir schon lange nicht mehr. Die Lehrer*innen wissen selbst nicht, wie sie die vorgegebenen Inhalte in so kurzer Zeit vermitteln sollen und das bestenfalls so, dass jede und jeder in der Klasse ihn versteht.

"Nicht alle können mithalten. Einige helfen nach. 'Nur ein bisschen Speed, um zum Lernen wach zu bleiben.'"

Nicht alle können da mithalten. Einige helfen nach. Schüler*innen aus meiner Stufe nehmen in der Woche Drogen, um sich leistungsfähiger zu machen, weil sie den Stoff nicht mehr packen. "Nur ein bisschen Speed, um zum Lernen wach zu bleiben." Die meisten in meinem Umfeld schotten sich von so gut wie allem ab, schlafen viel zu wenig und halten sich mit Kaffee und Energydrinks am Laufen. Sie haben Angst, sich selbst und ihrem Umfeld nicht gerecht zu werden, den Anforderungen nicht zu entsprechen. Wollen ihre Eltern und deren Erwartungen nicht enttäuschen, bei Klausuren nicht versagen und sich nicht ihre Zukunft verbauen. Bildung 2018 macht viele Schüler*innen so auch körperlich kaputt.

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Toll gemacht, liebe Regierung.

Nach 11 Jahren Schule, 5 Jahren G8 in unserem Land weiß ich: Die Reform des Bildungssystems ist gescheitert. Ich habe – wie viele meine Mitschüler*innen – keine Lust mehr, dass Leistungsdruck mein Leben bestimmt. Ich will nicht mehr, dass Schüler*innen aufgrund von Bildung zusammenbrechen. Was wir lernen, soll uns auf unser Leben vorbereiten, nicht nur auf möglichst effizientes Arbeiten. Aber diesen Anspruch kann unser G8-Schulsystem nicht erfüllen, vielleicht will und soll es das auch gar nicht.

"Hört auf mit dem Reinprügeln, Auswendiglernen, der verdammten Effizienz und gebt uns endlich die Möglichkeit, unser Leben zu leben."

Das Erste, das die meisten Schüler*innen meines Jahrgangs nach ihrem Abschluss wohl machen werden, ist wegzugehen. Wir wollen lernen, uns in der Welt zu orientieren. Abhauen, in irgendein anderes Land, weg vom Druck und Stress, versuchen, für eine Zeit lang Abstand von Schule und Lernen zu nehmen. Also dem, was ein Großteil der Gesellschaft momentan unter Lernen versteht. Dort werden viele von uns anderes lernen: selbstständig Entscheidungen über ihr Leben und ihre Zeit zu treffen, kritisch Vorgaben zu hinterfragen, selbst Prioritäten zu setzen und ihren Interessen nachzugehen. Kurz gesagt alles, was wir so dringend für unser Leben brauchen und was uns unser zwölfjähriges Lernen in der Schule nie beigebracht hat. Ich selbst werde nur den Sommer über weggehen, weil ich das Gefühl habe, dass ich es mir zeitlich nicht leisten kann, ein Jahr Pause zu machen.

Hört auf mit dem Reinprügeln, Auswendiglernen, der verdammten Effizienz und gebt uns endlich die Möglichkeit, unser Leben zu leben. Revolutioniert das Bildungssystem, schnell, oder "die Zukunft unseres Landes" wird kaputt sein, bevor sie überhaupt erst richtig angefangen hat. Und genau die wolltet ihr doch fördern, oder?

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