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Warum Alkohol aggressiv macht

Im Rausch werden Menschen gefühlsduselig oder einfach nur müde – andere schlagen zu. Ein Experte und ein Betroffener erklären uns, wie es dazu kommt.

Es ist Nacht, drei junge Männer fahren im Auto durch die Stadt. Sie waren im Kino und haben getrunken. Der Jugendliche auf dem Beifahrersitz ist sternhagelvoll. Er sieht in den Außenspiegel: "Ey, die Bullen sind hinter uns!" Er hält noch die Sektflasche, die er fast allein geleert hat. Plötzlich lehnt er sich aus dem offenen Fenster und schleudert die Flasche auf das Polizeiauto. Sie zersplittert an der Windschutzscheibe, die Beamten gehen vom Gas und fahren rechts ran.

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So erzählt es Benjamin*. Die Polizei habe ihn damals nicht erwischt. Der heute 32-Jährige halte eigentlich nichts von Gewalt, aber früher habe er seinen Alkoholkonsum nicht immer im Griff gehabt. Manchmal sei er im Rausch aggressiv geworden, teils auch gewalttätig – und damit ist er nicht allein. Die Statistik ist ernüchternd: Laut Bundeskriminalamt wurden 2016 etwa 26 Prozent aller Gewalttaten unter dem Einfluss von Alkohol begangen, bei Totschlag sind es sogar 31 Prozent.

Warum werden Menschen im Rausch aggressiv? Sind manche von uns besonders anfällig dafür und wenn ja, warum? Kaum jemand kann das besser beantworten als Andreas Heinz: Er ist der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin, eines seiner Spezialgebiete ist die Neurobiologie der Alkoholsucht.

Von ihm habe ich mir die Theorie erklären lassen, Benjamin erzählt mir von seinen Erfahrungen. Er sei in einer Alkoholikerfamilie aufgewachsen, in der Gewalt normal gewesen sei. Heute spricht er offen und nachdenklich über seine berauschten Aussetzer von damals. Er sagt, er sei selbst eine Zeit lang abhängig gewesen, trinke heute aber gelegentlich, ohne die Kontrolle zu verlieren. Seit über zehn Jahren übt er einen sozialen Beruf aus, erzählt er, die Langzeitbeziehung sei gewaltlos und glücklich, Vorstrafen habe er keine.


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VICE: Wie genau macht Alkohol Menschen aggressiv?
Andreas Heinz: Es gibt einmal die akute Wirkung, wenn man betrunken ist. Man geht davon aus, dass der frontale Kortex für Entscheidungen, Handlungsplanung und auch Verhaltenshemmung wesentlich mitzuständig ist. Er wird durch Alkohol gedämpft und greift weniger ein. Allein erklärt man so auch keine Gewalt – akuter Alkoholkonsum hat oftmals dann mit Gewalt zu tun, wenn man vorher schon Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit Alkohol hatte. Interessanterweise auch als Opfer, nicht nur als Täter. Wenn sich der betrunkene Zustand und die verminderte Verhaltenskontrolle mit Gewalterfahrung paaren, scheint man in so einer Situation eher auf bedrohliche Reize anzuspringen – sodass man eine harmlose Situation verkennt und überreagiert.

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Dann gibt es eine nachhaltige Wirkung auf die Neurotransmittersysteme. Gerade beim Serotonin geht man davon aus, dass es viel mit der Wahrnehmung von bedrohlichen Reizen zu tun hat. Langanhaltender Alkoholkonsum enthemmt vermutlich bei vielen Menschen die Hirnregionen, die dafür relevant sind, Bedrohungen einzuschätzen. Oder er lässt sie überaktiv werden. Diese Menschen haben weniger Verhaltenskontrolle, wenn sie akut betrunken sind, und fühlen sich chronisch eher bedroht. Es ist leider so, dass das bei Männern häufiger als bei Frauen in Aggression gegen Fremde umgesetzt wird.

Ich war betrunken in einem Club und wartete vor der Toilette auf einen Freund. Da kam ein Typ und betatschte mich ein bisschen. Ich sagte ihm, er soll die Pfoten von mir lassen. Er tastete weiter und stocherte mit dem Zeigefinger an mir herum, bezeichnete mich als "Harry Potter". Da habe ich ihn mit einem Faustschlag zwischen die Augen niedergestreckt. Ich war auch etwas überrascht, wie explosiv das war. Erst hinterher habe ich gemerkt, dass ich wütend bin. Wenn ich sonst mal Gewalt anwenden musste, war ich trotzdem so weit empathisch, dass ich geschaut habe: Kann der noch aufstehen? Aber da war mir das egal. Wir haben dann aus der Ferne gesehen, wie er rumläuft und sich den Kopf hält. – Benjamin

Betrunken gewalttätig wird also hauptsächlich, wer das so kennengelernt hat?
Andreas Heinz: Ja, es sind häufig Menschen, die selbst Gewalt erfahren haben. Bei Botenstoffsystemen wie Serotonin spielen auch Trauma- und Gewalterfahrungen eine große Rolle. Wir gehen davon aus, dass das die drei Bestandteile sind: die Missbrauchserfahrung, die Auswirkungen auf Systeme, die Bedrohungserleben kontrollieren, und der akute Alkoholkonsum, der die Verhaltenskontrolle reduziert.

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Mein Vater war Alkoholiker. Ich vermute, das war er schon immer, aber aufgefallen ist mir das erst so mit zehn. Schon als ich noch jünger war, war er verbal und physisch übergriffig. Da trank er auch schon immer sein Abendbier, aber er hatte noch einen Job und Alkohol stimmte ihn meist eher milde. Er wurde auch humorvoller, wenn er alkoholisiert war. Als er arbeitslos wurde, änderte sich das. Da war ich etwa 13. Die Übergriffe wurden heftiger. Es gab dann einen Vorfall, der mein Verhältnis zu ihm für immer veränderte. An dem Tag wurde mir klar, dass ich wirklich in Gefahr war, wenn er betrunken war. – Benjamin

Es heißt ja oft, Alkohol bringe nur den wahren Charakter deutlicher zum Vorschein. Bestätigt die Forschung das?
Andreas Heinz: Das Typische ist, dass die Leute oft eine qualvolle Geschichte haben und dazu neigen, sich verteidigen zu wollen. Mit Alkohol kommen diese Ängste und Tendenzen verstärkt heraus. Dann gibt es aber auch den pathologischen Rausch, wo die Leute nicht so viel trinken und relativ wesensfremde Handlungen vornehmen. Das ist nicht so klar. Es wird immer wieder beschrieben, ich selbst habe das selten erlebt.

In meiner Jugend war ich meist schwarz gekleidet. Für den örtlichen Christlichen Verein Junger Menschen machte mich das zu einer Art Opfer, und ein paarmal flogen vom Vereinsgelände aus Steine auf mich. Mit 15 war ich betrunken und revanchierte mich, indem ich eine Flasche über den Zaun warf. Dabei halte ich eigentlich überhaupt nichts davon, Flaschen zu werfen. Ich finde, das ist eine sehr unmenschliche Weise, Gewalt auszuteilen. Ich konnte von da draußen nicht viel sehen, aber ich habe Schreie gehört. Ich weiß noch, dass es mein Ziel war, jemanden zu erwischen. Dafür habe ich mich geschämt, als ich wieder nüchtern war. – Benjamin

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Gibt es eine Promillegrenze, ab der man nicht mehr zurechnungsfähig ist?
Andreas Heinz: Leider nicht. Natürlich ist es schon so, je mehr Promille, desto stärker der Effekt auf die Zurechnungsfähigkeit, aber das ist nicht eins zu eins. Es gibt eine erbliche Unempfindlichkeit gegen Alkohol, die leider auch einer der stärksten genetischen Faktoren ist, warum man abhängig wird – weil man dadurch mehr trinkt. Ich fand das immer schwierig. Während meiner Studienzeit habe ich in einem Viertel mit Rockerclubs gewohnt. Wenn die sich prügeln wollten, haben sie vorher getrunken und gekifft. Hinterher hieß es: "Wir können nichts dafür, wir waren berauscht." Fand ich immer eine ganz lahme Ausrede.

Ich habe das eigentlich immer recht "nüchtern" betrachtet. Ich war immer der Meinung, wer alles dem Alkohol in die Schuhe schiebt, belügt sich und andere. Ich dachte, wenn ich so viel trinke wie mein Vater, muss ich deswegen nicht zu ihm werden und dieselben Taten begehen. Und ich bin sehr froh, dass ich damit Recht hatte. – Benjamin

Eine Studie hat ergeben, dass Menschen schon aggressiver sind, nachdem sie Namen alkoholischer Getränke gelesen haben. Wie erklären Sie so etwas?
Andreas Heinz: Bei Erwartungen im Bezug auf Alkohol gibt es viele Lerneffekte. Auch Leute, die nur alkoholfreie Getränke kriegen, aber meinen, sie müssten betrunken sein, verhalten sich betrunken. Im Rausch wirken sich die früheren Gewalterfahrungen nicht nur aus, weil Alkohol als Molekül durchs Gehirn schwappt, sondern auch weil man gelernt hat, wie er wirkt. Diese Lernmechanismen sind auch der Link, über den sich seelische Erfahrungen in biologischen Korrelaten verfestigen. Das gibt es überall im Bereich der Psychiatrie und Psychologie.

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Eines Abends habe ich mich sehr betrunken, obwohl ich eigentlich nur angetrunken sein wollte. Ein Freund hat mir Absinth eingeschenkt, und ich wusste schon, dass das sehr intensiv wirken kann und anders ist als andere Getränke. Zumindest habe ich das immer gehört und gefühlt. Dieser Absinth war sehr stark. Später hat man mir erzählt, ich hätte auf einem Konzert Leute angepöbelt. Am nächsten Morgen kam ich im Bett meiner Freundin zu mir und hatte fremdes Blut an meiner Faust. Die Knöchel waren geschwollen. Ich hatte offensichtlich auf dem Weg zu ihr jemanden geschlagen. Danach habe ich mindestens zwei Monate lang nichts getrunken. Ich hatte das Gefühl, dass ich meinen Vater in mir erkenne. – Benjamin

Könnte es auch sein, dass wir Alkohol als Ventil oder Freifahrtschein benutzen, um angestaute Aggressionen loszuwerden?
Andreas Heinz: Erwartungen an Alkohol sind unterschiedlich. Es gibt ja auch die Erwartung, dass man freier und enthemmter ist und leichter reden kann. Ganz viele soziale Anlässe würden nicht funktionieren, wenn die Leute nicht leicht betrunken wären. [Lacht] Die Erwartungen spielen eine Riesenrolle, aber das ist komplex. Selbst die Rocker, die ich kannte, waren arbeitende Jugendliche, die am Wochenende mal die Sau rauslassen wollten, und dann gehörte das zu ihrem Mannbarkeitsritual.

Wenn ich Alkohol getrunken habe, dann eher, um besser zu werden und eine gute Zeit zu haben. Auf Konflikte habe ich es dabei nie bewusst angelegt. Gewalt und Spaß habe ich höchstens mal bei Videospielen oder einem Film kombiniert, ansonsten kann ich daran überhaupt nichts Schönes finden. Meine frühesten Erinnerungen an Alkohol sind auch eher, dass die Familie zusammensitzt, es wird getrunken und dadurch sind alle lustiger als sonst. – Benjamin

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Es ist bekannt, dass Kinder von Alkoholikern selbst ein erhöhtes Risiko haben, süchtig zu werden. Kann dann auch ein erhöhtes Gewaltpotential erblich sein?
Andreas Heinz: Erblich ist es nicht per se, sondern wieder im Zusammenspiel mit sozialer Isolierung und Gewalterfahrung. Typischerweise fühlen sich solche Menschen schneller bedroht und reagieren dann mit Aggressivität. Bestimmte genetische Ausprägungen erhöhen in Kombination mit Gewalterfahrungen die Rate von gewalttätigem Verhalten. Aber die genetische Konstellation eines Menschen ist wie ein Fingerabdruck: hochindividuell. Jede genetische Varianz trägt weniger als ein Prozent zur Merkmalsausprägung bei. Es gibt da kein unabänderliches Schicksal. Wir Menschen sind unglaublich vielfältig.

Ein Jahr lang hatte ich ein richtiges Alkoholproblem. Ich habe jeden Tag getrunken, oft schon morgens. Ich habe öfters Entzugserscheinungen wie Zittern bemerkt. Aber heute habe ich das im Griff und finde mein Verhältnis zu Alkohol positiv. Ich trinke nur unregelmäßig und in kleinen Mengen. Zuletzt habe ich so einen leichten Kontrollverlust vor zwei Jahren gespürt. Ich hatte fünf oder sechs Tage in Folge ein Feierabendbier getrunken, und am nächsten Tag habe ich das Zittern bemerkt. Da habe ich dann eine lange Pause gemacht. Das Zauberwort heißt für mich Disziplin. Und dann gibt es auch einen Zaubersatz: Wenn es nicht mehr geht, hol dir Hilfe. Man kann sogar mit schlechten Vorerfahrungen wieder Positives mit Alkohol erleben. Es hat viel mit Willensstärke zu tun. Damit gelingt sogar der Umgang mit einer körperlichen Vorbestimmtheit für Alkoholismus. Ich glaube, jeder Alkoholiker kann "trocken" werden und bleiben, selbst wenn er gelegentlich etwas trinkt. – Benjamin

*Name geändert

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