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Warum du TikTok genau jetzt löschen solltest

Der Fall der Schülerin Feroza zeigt: TikTok zensiert unliebsame Meinungen, so wie es Peking passt. Warum sollten wir eine undemokratischere Plattform als Facebook überhaupt unterstützen?
TikTok-Logo mit Computerhand auf Löschen-Button
Bild: TikTok, Pxhere, Pixabay | Montage: Vice

Es ist ein guter Trick, den sich Feroza Aziz ausgedacht hat. "Hi Leute", beginnt sie ihr Video müde lächelnd und mit einer Wimpernzange hantierend, "ich zeige euch heute, wie man lange Wimpern bekommt." Dann wird sie ernster.

"So, und dann legt ihr die Wimpernzange weg und findet mit eurem Handy raus, was genau jetzt in China passiert – wie sie Konzentrationslager bauen und unschuldige Muslime reinstecken."

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Feroza Aziz, Schülerin aus den USA, hat mit diesem kleinen Video TikTok gehackt – zumindest kurzfristig. Denn ihre als Beauty-Tutorial getarnte News-Durchsage schmuggelte politische, kritische Botschaften an der Zensur vorbei, die TikTok so vehement abstreitet. Ferozas Video ging sofort im Netz viral, allein auf Twitter haben es mehr als 765.000 Menschen gesehen.

TikTok reagierte auf diese Subversion, wie man eben als Fun-App aus einem autoritären kommunistischen Regime reagiert – nicht souverän. Ferozas Account wurde unter völlig fadenscheinigen Gründen gesperrt, schreibt die Schülerin. Das bestätigte Beobachtern nicht nur den Verdacht der direkten Zensur auf TikTok felsenfest, sondern pushte auch Ferozas Video auf anderen Kanälen nochmal ordentlich nach vorn. Am Ende kam noch namhafte Presse wie die New York Times zu Hilfe, die über die Sperrung von Ferozas Account berichtete.

Ferozas Subversion enthüllt das wahre Gesicht von TikToks Zensoren

TikToks Zensurmaschine kann sein wahres Gesicht jetzt nun nicht mehr verstecken. Als TikTok in Deutschland startete, waren wir überzeugt: Die App des chinesischen Herstellers Bytedance macht das Internet zu einem besseren Ort voller süßer Sketche, Memes im Zeitraffer und einem vergleichsweise freundlichen Umgangston. Keine Plattform dieser Welt ist in den vergangenen drei Jahren so rasant gewachsen wie TikTok, ganz besonders bei jungen Menschen. Es ist nach der Übernahme von musical.ly das erste chinesische Netzwerk, das auch im Westen Erfolg hat.

Mittlerweile wissen wir aber: Wer auf TikTok mehr als nur Spaß und Slapstick haben will, wird isoliert. Die App schränkt gezielt politische Inhalte in ihrer Reichweite ein. Interagieren? Reagieren? Ja gerne! Aber doch bitte nicht so kritisch! Die Zensur kommt zumeist auf leisen Pfoten daher: Statt Nutzer oder ihre unliebsamen Inhalt direkt zu sperren, schränkt TikTok einfach die Sichtbarkeit des Posts ein. So wirkt es für die Creator, als würde sich einfach nur niemand für ihr Statement über die Proteste in Hongkong interessieren. Tatsächlich jedoch belegen Dokumente, die Netzpolitik vorliegen, dass China aktiv politische Kritik aus dem "For You"-Feed säubert oder in einem bestimmten Markt gar nicht mehr auffindbar macht.

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Deutlich wird: Was die Nutzerinnen zu sehen bekommen und was nicht, steuert Bytedance nach einer Handvoll vagen und willkürlich auslegbaren Richtlinien. Wie Netzpolitik berichtet, zensiert TikTok in mehreren Stufen. Wie das funktioniert, ist in der Abschrift eines geleakten Moderationshandbuchs beschrieben.

Jedes Video wird bis zu dreimal rund um die Welt begutachtet und als förderungswürdig oder zum Ausbremsen eingestuft – bei kleinen Erfolgen in Barcelona, bei mittelgroßen View-Zahlen in Berlin und bei viralen Hits direkt in Peking. Es sind also gerade die ganz besonders erfolgreichen Posts wie das Fake-Beautyvideo von Feroza, die direkt nach China wandern. Allein das Nutzerinteresse reicht, um die Zensoren auf den Plan zu rufen.

Wer also sein Glück kaum fassen kann, weil das eigene Tanzvideo binnen Stunden zehntausendmal angesehen worden ist, ist möglicherweise nach der Moderation von der TikTok-Marketingabteilung gepusht worden. Der kleine Boost ist nichts als eine Belohnung dafür, dass man harmlos gute Laune verbreitet und sich ja nicht kontrovers oder provokant zu wichtigen Themen äußert, die die chinesische Politik schlecht dastehen lassen. Wer das tut, wird eben abgestraft. Und in den meisten Fällen geschieht das so subtil, dass man es nicht mal selbst mitbekommt.

Es wird Zeit, das Ghetto zu verlassen

Deshalb wird es höchste Zeit, aus diesem dystopischen Heile-Welt-Spaßghetto abzuhauen. Das Werbegeld aus den Spots, die wir im "For You"-Feed sehen, fließt indirekt an ein Regime, das Menschen willkürlich einsperrt und foltert, pausenlos überwacht, Minderheiten und kritische Stimmen unterdrückt. Möchten wir sowas mit unseren Witzchen unterstützen und am Leben halten? Wem nutzt ein soziales Netzwerk, in dem unsere politischen Äußerungen zum Selbstgespräch zensiert werden?

Und wer weiß, ob das öffentliche Interesse, ein massenhaftes Deinstallieren und die schlechte Presse das Unternehmen nicht doch zu einem Teil ändern kann. Denn bis zu einem investigativen Bericht des Guardians über die Zensur bei TikTok gab es ein fast vollständiges Politikverbot in der App: Kritik an herrschenden Systemen filterten die Moderatoren heraus. Egal, um welches Land es ging. Nach dem Bericht änderte TikTok seine Richtlinien erstmals weitgehend, wie in diesem Vergleich zu sehen ist. Für Videos von Protesten oder selbst der Darstellung einer politischen Persönlichkeit reicht es aber bei TikTok heute immer noch nicht.

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Währenddessen werden Millionen Uiguren weiter gefoltert und umerzogen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind keine Meinungen, sondern mit geleakten Dokumenten belegte Fakten – die China auch mit Hilfe seiner supererfolgreichen Ablenkungs-Plattform aktiv unterdrücken will.

Gegen solche Zensurmechanismen auf TikTok wirkt sogar Facebook mit seinen undurchsichtigen und hochkomplexen Löschregeln noch wie ein offenes Haus.

Bestes Beispiel dafür: Ferozas virale TikTok-Videos, auf die sie selbst nicht mehr in der lustigen Tanz-App zugreifen kann, leben heute immerhin auf Twitter, Facebook und Instagram weiter.

Update vom 04.12.2019: Inzwischen hat sich TikTok in einem öffentlichen Blogpost zur Sache geäußert. Es sei der Fehler eines TikTok-Moderators gewesen, dass Feroza Aziz' Video vorübergehend entfernt wurde. Ferozas Account sei ebenso aufgrund eines Fehlers gesperrt worden: Die Schülerin habe mit einem weiteren TikTok-Account auf demselben Smartphone ein anderes Video gepostet, das gegen die Richtlinien verstoße.

Feroza hält die Erklärungen von TikTok für "zweifelhaft", sagt sie im Gespräch mit der BBC.

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