Der Broadly Guide zu Sexismus – Teil 1
Illustration: Sarah Schmitt

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Soziale Gerechtigkeit

Der Broadly Guide zu Sexismus – Teil 1

Wie sexistisch ist unsere Gesellschaft? "Sehr" sagen manche, "Warum hasst ihr Männer, ihr Feminazis?!" andere. Wir sorgen in unserem großen A bis Z des Sexismus für Aufklärung (hier von A – L).

Sexismus geht uns alle an. In Debatten oft zu einer Art Totschlagargument der "vermeintlich" Benachteiligten degradiert, durchzieht er unsere Gesellschaft nach wie vor und sorgt nicht nur dafür, dass Frauen in vielen Bereichen des Lebens ungleich behandelt werden, sondern ist auch elementar daran beteiligt, fragwürdige Geschlechterbilder zu verbreiten, die allen schaden. Die Diskussionspunkte mögen sich nach drei Wellen Feminismus deutlich verändert haben, das Problem besteht aber nach wie vor – off- wie online.

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Der Duden definiert Sexismus als "ideologische Überzeugung, wonach die Mitglieder eines Geschlechts höherwertiger sind als die des anderen, sowie die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Personen aufgrund ihres Geschlechts". Weil aber nichts im Leben einfach ist und diese Ungleichbehandlung in den unterschiedlichsten Formen und Facetten auftritt, haben wir euch die wichtigsten Eckpunkte übersichtlich zusammengetragen. Willkommen beim Broadly Guide zu Sexismus.

Hier gehts zum zweiten Teil.

A wie #aufschrei

aufschrei, #ausnahmslos, #schauhin oder #imzugpassiert sind Hashtags, unter denen auf Twitter Frauen von sexistischen Erfahrungen berichten und die in vielen Teilen stellvertretend für eine neue Generation an Feministinnen (gerne auch als "Netzfeministinnen" bezeichnet) stehen. 2013 machte Anne Wizorek den Anfang mit #aufschrei – einem Hashtag, der durch das übergriffigen Verhalten des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich zusätzliche mediale Aufmerksamkeit fand und schnell eine Welle von Erfahrungsaustausch auslöste. [Anm. d. Red.: In einer vorherigen Version des Artikels stand, dass der Fall Brüderle überhaupt erst zum Hashtag geführt hätte.] Diese Art des Aktivismus machte in den letzten Jahren weltweit Schule. Nicht nur in Deutschland, weltweit twittern Frauen unter #WhenIWas über sexuelle Belästigung in der Kindheit; #CzarnyProtest ("schwarze Proteste") wurde zum Synonym für die Beschneidung von Frauenrechten in Polen, die mit ihrem Widerstand erfolgreich eine Verschärfung der ohnehin strengen Abtreibungsgesetze verhindern können und 2016 ging der Hashtag #NiUnaMenos („nicht eine weniger") um die Welt, der Femizide in Lateinamerika anprangert – denn in Ländern wie Argentinien, Brasilien oder Chile ist Gewalt gegen Frauen, die tödlich endet, massiv.

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Mehr lesen: Die deutsche YouTube-Szene ist sexistischer als jede Mario-Barth-Show

B wie BILD-Zeitung
Seit 1952 sorgt die BILD, einst auflagenstärkste Tageszeitung Europas, für ein Frauenbild jenseits von Gut und Böse: halb nackte BILD-Girls, Sportlerinnen im Bikini und täglich sexistische Berichterstattung (wie "Die gierigen Huren von Bautzen") sind fester Bestandteil der Berichterstattung. Die in mehrerer Hinsicht krude Kolumne "Post von Wagner", verfasst vom Boulevardjournalist Franz J. Wagner, der mit seinen 73 Jahren Frauen für hexenhafte Wesen hält, ist da nur ein Beispiel von vielen. Immerhin: Es gibt mehrere Instanzen, die der BILD auf die Finger gucken (und bei Bedarf auch hauen) – die Kampagne StopBildSexism oder den BILDblog zum Beispiel.

C wie Catcalling
Catcalling schließt hinterherpfeifen und sexistische Bemerkungen gegenüber Frauen in der Öffentlichkeit ein, bei denen sie objektifiziert werden. Weil ein Video von Shoshana Roberts, bei dem sie durch Manhattan spazierte und bei einem zehnstündigen Spaziergang ganze 108 Mal gecatcallt wurde, viral ging, wurde das Thema insbesondere in den sozialen Medien kontrovers diskutiert. Die Befürworter des ungewollten Komplimentierens fühlten sich zu Unrecht der Belästigung bezichtigt, die Gegenseite wandte ein, dass es eben durchaus übergriffig ist, wildfremde Menschen ungefragt mit den eigenen sexuellen Vorlieben zu konfrontieren oder sie sogar über mehrere Meter hinweg zu verfolgen. Kleiner Rat an dieser Stelle: Frauen, die gerade ihre Einkäufe nach Hause tragen oder genervt aus dem Büro kommen, interessiert es in aller Regel nicht, ob ihr Arsch "geil" ist.

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Schwarzer an der Spitze der Deutungshoheit über den Feminismus, der Rest kann mitziehen oder hat halt Unrecht.

D wie Dating-Coaches
Dating-Coaches und Pick-Up Artists (PUA) wurden wohl mit der Komödie Hitch – der Date-Doktor, in der Will Smith Männern charmante Hilfestellung gibt, eine Partnerin zu finden, im Jahr 2005 bekannt. Doch Hollywoodkino ist nicht gleich Realität. Oft propagieren diese Flirtratgeber sexistische Geschlechterklischees und fordern ihre zumeist männlichen Anhänger ganz bewusst dazu auf, die Grenzen der von ihnen begehrten Frau zu überschreiten. Interessant ist auch das spezielle Vokabular, in denen sich in den einschlägigen Online-Foren über die Eroberungen ausgetauscht wird: Begriffe von HB (HotBabe), Kiss Close, Facebook Close (= ich habe sie auf Facebook geaddet) zu Fuck Close (= ich war mit ihr im Bett) sind gängig. Klingt nicht ganz nach auf der Suche nach der großen Liebe – auch, weil tatsächliche romantische Gefühle gegenüber einer anderen Person gerne als Schwäche unmännlicher Beta-Males abgetan werden.

E wie Emma
Vor 40 Jahren gründete die Journalistin Alice Schwarzer die Zeitschrift Emma als „Politisches Magazin für Menschen". Doch aus ihrer berechtigten Intention, sich als Verteidigerin der Frauenrechte zu positionieren, entwickelte sich über die Jahre hinweg ein Magazin, dessen Weltbild nicht weniger engstirnig scheint als das der Publikationen, denen man ursprünglich entgegentreten wollte. Schwarzer an der Spitze der Deutungshoheit über den Feminismus, der Rest kann mitziehen oder hat halt Unrecht. Vielleicht hat die Emma auch deshalb ein Problem mit einer neuen Riege von Feministinnen, die sich weder gegen Kopftücher, noch gegen legale Prostitution aussprechen und bezeichnet sie als "Hetzfeministinnen". Weiter bringt das die Idee des Feminismus sicherlich nicht. Schade, eigentlich.

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Demonstrantinnen am Internationalen Weltfrauentag in Berlin | Foto: imago | Christian Mang

F wie Feminazis
Mit Feminazis sind, wie das Kofferwort vortäuscht, nicht unbedingt feministische rechte Frauen gemeint – auch wenn es diese Frauen gibt. Viel mehr es ist ein Kampfbegriff, der sowohl von antifeministischen Trollen, als auch von konservativen Verfechtern der Heteroehe, wie des amerikanischen Feminismuskritikers Rush Limbaugh, verwendet wird. Er beschreibt „Feminazis" als besonders intolerante Frauen, die einen „modernen Holocaust fortbestehen lassen: Abtreibung." Natürlich ist das Recht von Frauen, über ihren Körper selbst zu bestimmen, nicht vergleichbar mit nationalsozialistischer Geburtenpolitik, die eine rassenbiologische Familie zum Ziel hatte. Das Konzept „My body, my choice" – „Mein Körper, meine Entscheidung" haben Menschen wie Limbaugh aber auch in 2017 noch nicht verstanden.

G wie Gender Mainstreaming
Gender Mainstreaming wird in rechten Kreisen (Kopp Verlag, AfD, WikiMANNia) gerne als Schimpfwort gebraucht, dabei beschreibt es eine Strategie zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern, die auf der UN-Weltfrauenkonferenz entwickelt wurde. Gemeint ist Gleichstellungspolitik, gehetzt wird mit „Genderismus" oder „Genderterror". Was genau Terror und Gleichstellung gemein haben, ist dabei allerdings nicht ganz klar, stattdessen verlieren sich Kritiker gerne in vermeintlichen Horrorszenarien, nach denen Geschlechter bewusst abgeschafft werden und die Abwendung vom generischen Maskulinum die deutsche Sprache zerstört.

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Mehr lesen: "Ich möchte keine 'geile Sau' sein" – Visa Vie über Sexismus im Deutschrap

H wie Hysterisch
Der Duden schreibt über den Ursprung des Wortes „Hysterie", er komme von der antiken Vorstellung von krankhaften Vorgängen in der Gebärmutter (von Frauen). Lange wurde Hysterie als eine ausschließlich bei Frauen auftretende Erkrankung, sogar als Auflehnung gegen Männer, verstanden. Dabei ist Hysterie eine psychische Störung, die unabhängig vom Geschlecht auftritt, aus der modernen Fachsprache allerdings größtenteils verschwunden ist und stattdessen primär als abwertende Bezeichnung für eine Frau, die emotional oder vermeintlich überzogen auf etwas reagiert, verwendet wird. Die „hysterische Frau" wurde noch im frühen 20. Jahrhundert verheiratet oder durch Vaginalmassagen durch einen Arzt "geheilt". Einziger Vorteil dieser sexistischen Praktik: Weil es den Medizinern irgendwann zu anstrengend wurde, ihre Patientinnen per Hand zu befriedigen, erfanden sie den Vibrator.

I wie Intimbehaarung
Körperbehaarung ist männlich, sagt unsere Gesellschaft. Warum uns Frauen dann trotzdem ganz ungeniert Haare an Armen, Beinen, unter den Achseln, im Intimbereich und an vielen anderen Stellen wachsen? Damit die Beauty-Industrie uns Rasierer, Kaltwachsstreifen und Enthaarungscremes verkaufen kann, wahrscheinlich. Wer sich als Frau nicht dem Rasurzwang unterwirft, ist ungepflegt, eklig, unweiblich – oder so war es zumindest lange Zeit. Langsam aber sicher stellt sich nämlich Ermüdung beim Thema Ganzkörperrasur ein, der sich genug Frauen da draußen nicht länger unterwerfen wollen, während ihr männlicher Gegenpart stolz seine Brustbehaarung präsentieren darf. Dafür gesorgt haben unter anderen Social-Media-Stars wie Arvida Byström, die mit ihren Achselhaaren auf Instagram posiert oder sich unrasiert im String zeigt. Auch Aktionen wie von der Modemarke America Apparel, die ihre Schaufensterpuppen mit Schamhaartoupets ausstattete, deuten an: Da verändert sich was. Richtig so.

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Die Karrierefrau – der biestige, überambitionierte Albtraum eines jeden Mannes. Ein unweibliches, kaltes Wesen, das jede Mütterlichkeit verlernt hat und nur an sich selbst denkt.

J wie Jugend
Wo wir schon bei Vorstellungen des "richtigen" weiblichen Körpers sind: Haarlosigkeit scheint auch deswegen für viele zur Grundausstattung einer attraktiven Frau zu gehören, weil sie auf gewisse Weise Jugend symbolisiert – und Jugend ist für Frauen elementar wichtig, wenn sie begehrenswert sein wollen. Während Männer wie George Clooney erst mit fortschreitendem Alter zum Sexsymbol wurden, hält sich hartnäckig die Mär, dass reife Frauen unmöglich attraktiv sein können. Das zeigte sich, als Model und Schauspielerin Monica Bellucci von vielen als "zu alt" für ein Bondgirl gehalten wurde, obwohl Filmpartner Daniel Craig mit seinen damaligen 47 Jahren nur vier Jahre jünger war als sie. Das zeigt sich aber auch in allerschönster Regelmäßigkeit, wenn wissend geschmunzelt wird, wenn Politiker, Schauspieler, Geschäftsmänner oder auch einfach nur der zwischenmenschlich ambitionierte Nachbar ihre Partnerinnen gegen ein jüngeres Modell eintauschen. Oder um es mit einem Zitat auf der Männerrechtlerseite WikiMANNia zu sagen: Bei Frauen ab 25 „ist (es) wie bei Gebrauchtwagen; man kann halt nie sicher sein, was man bekommt."

K wie Karriere
Die Karrierefrau – der biestige, überambitionierte Albtraum eines jeden Mannes, wenn man bösen Zungen im Internet glauben schenkt. Ein unweibliches, kaltes Wesen, das jede Mütterlichkeit verlernt hat und nur an sich selbst denkt. Vorurteile und böse Nachrede ist allerdings nicht das einzige Problem, mit dem sich Frauen im Berufsleben konfrontiert sehen. Deutschland steht, was den Gender Pay Gap betrifft – den Unterschied beim Einkommen von Männern und Frauen – ziemlich weit hinten an und hat sogar einen der größten Lohnunterschiede in Europa. Damit fällt der Stundenlohn von Frauen im Durchschnitt um 22 Prozent niedriger aus als der von Männern. Heruntergebrochen heißt das: Für jeden Euro, den ein Mann erwirtschaftet, gibt es für eine Frau 78 Cent.

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Begründet wird der Unterschied gerne damit, dass Frauen auch weniger arbeiten würden – schließlich muss ja irgendjemand die Kinder kriegen. Dass es Karrierefrauen dabei im gleichen Atemzug vorgeworfen wird, wenn sie sich bewusst gegen die Mutterschaft entscheiden, ist da nur eine absurde Randnotiz. Zwar wurde ein neues Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen beschlossen, doch dass es nicht nur den Pay Gap, sondern eben auch einen Gender Gap gibt, wird immer noch zu wenig thematisiert. Oder wie viele weibliche Bankvorstände kennt ihr?

L wie Lesbe
Ein immer noch beliebtes Schimpfwort, um Frauen Weiblichkeit abzusprechen oder ihre vermeintliche Männerfeindlichkeit an ihrer Sexualität festzumachen, ist "Lesbe". Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Aussage von Mann, Frau, hetero oder queer kommt. Dabei gibt es absurde Kombinationen aus dem Maskulistensprech wie "Berufslesbe" – womit eine Frau gemeint ist, die sich (beruflich) gegen Diskriminierung einsetzt, gleichzeitig werden aber auch gerne quere Bezeichnungen aus dem Kontext gerissen, um sie als Beleidigung zu verwenden. "Butch" zum Beispiel: Da wird aus einer Frau, die innerhalb der sexuellen Beziehung den "männlichen Part" einnimmt (Butch & Femme), ein Mensch, der nicht dem normativen Weiblichkeitsideal entspricht und aufgrund dessen herabgewertet werden muss. (Ähnlich der Bezeichnung "Kampflesbe".) Auf der anderen Seite dienen lesbische Beziehungen aber auch als ultimative Männerfantasie. Sei es ganz konkret in "Girl on Girl"-Pornos, die nicht einmal im Ansatz dahingehend realistisch sind, wie lesbische Frauen tatsächlich Sex haben, oder dann, wenn Männer Küsse zwischen zwei Frauen als implizite Einladung für einen Dreier verstehen wollen. Ganz so, als wären Frauen nur dazu da, um Männer sexuell zu reizen. Liebe Männer, das sind sie nicht.