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Jugendliche wollen YouTube mit panischen WhatsApp-Kettenbriefen retten

Kettenbriefe behaupten, das neue EU-Gesetz zum Urheberrecht wird YouTube zerstören. Screenshots zeigen, wie sich die Falschnachricht aktuell unter Schülern verbreitet.
Screenshots der Kettenbriefe, die auf WhatsApp geteilt werden
Bild: Screenshots | WhatsApp | Collage: Motherboard

Die EU will uns die sozialen Netzwerke wegnehmen: YouTube, Instagram, Snapchat, TikTok, alles soll gelöscht werden. Diese nachweislich falsche Botschaft steht im Zentrum von mindestens fünf verschiedenen Kettenbriefen, die gerade unter Schülerinnen und Schülern auf WhatsApp geteilt werden. Motherboard liegen Screenshots aus WhatsApp-Gruppen vor, die offenkundig junge Menschen in Panik versetzen sollen.

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Der Anlass der Kettenbriefe ist der Artikel 13 der geplanten EU-Urheberrechtsreform. Die EU will Social-Media-Plattformen vorschreiben, selbst dafür zu haften, wenn Nutzer urheberrechtlich geschütztes Material hochladen. Das werden Plattformen durch zum Beispiel Uploadfilter verhindern wollen. YouTube benutzt eine solche Technologie schon seit Jahren. Das Gesetz ist noch nicht beschlossen, die Details noch nicht ausgearbeitet. Trotzdem sind bereits die Entwürfe politisch umstritten. Wie stark die Regelung das Internet, wie wir es kennen, verändern wird, ist noch nicht sicher.

In den Kettenbriefen wird dagegen ein Horrorszenario gezeichnet, dem jede Grundlage fehlt. "Hallo wir sind Artikel 13 und wir wollen die Folgenden Sozialnetzwerke Löschen: (YouTube, Facebook, Instagram und Twitter)", heißt es in einem Kettenbrief voller Tippfehler, der Motherboard vorliegt. Eine weitere Nachricht behauptet: "Artikel 13 = kein Youtube kein Instagram, kein Snapchat, kein Whatsapp Status!!". Zudem werden die Lesenden dazu aufgefordert, die Botschaften dringend zu verbreiten: "Teilt auch diesen Text und schickt ihn an alle!!", steht in einer Nachricht.

Ein anderer Kettenbrief ruft Nutzer dazu auf, die Nachricht an mindestens 20 weitere Personen zu schicken. Wenn auf diesem Weg 500.000 Menschen erreicht werden, dann würde Artikel 13 die Plattformen in Ruhe lassen, heißt es – was natürlich absoluter Quatsch ist.

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WhatsApp-Kettenbriefe lassen sich kaum zurückverfolgen

Screenshot WhatsApp

Diesen WhatsApp-Screenshot erhielt Motherboard von einem Instagram-Nutzer aus Flensburg. Auch die Website Mimikama hat von diesem Kettenbrief berichtet | Bild: Screenshot | WhatsApp

Im Gegensatz zu Hashtag-Kampagnen auf Twitter oder zu viralen Posts auf Facebook und YouTube sind Whatsapp-Kettenbriefe für Journalisten und Medienforschende besonders schwer nachzuverfolgen. WhatsApp ist eine geschlossene Plattform, Nachrichten werden zwischen Sender und Empfänger Ende-zu-Ende-verschlüsselt verschickt. Ihr Ursprung lässt sich deshalb nicht recherchieren. Nur Screenshots von mehreren Nutzern aus verschiedenen Orten können einen Eindruck davon vermitteln, dass sich die Kettenbriefe zum Thema YouTube aktuell verbreiten.

"Alle fanden das scheiße und haben das geglaubt."

Deshalb haben virale Kettenbriefe auf Messenger-Apps wie WhatsApp eine besondere Stellung in der Debatte um Desinformation, Propaganda und Fake News im Netz. Im brasilianischen Wahlkampf 2018 soll das Team des später gewählten Präsidenten Bolsanero zum Beispiel massiv Propaganda und Falschnachrichten via WhatsApp verbreitet haben, wie unter anderem Spiegel Online berichtet. Laut eines Berichts der Tagesschau hätten in Indien falsche WhatsApp-Nachrichten Nutzer dazu angestachelt, vermeintliche Straftäter auf eigene Faust zu verfolgen und teilweise tödlich zu verletzen. Die Kettenbriefe gegen Artikel 13 sind ein Beispiel für politische Desinformation in Deutschland, die sich über WhatsApp verbreitet.

Vermeintlicher Deal mit WhatsApp

Den ersten Hinweis auf die Kettenbriefe erhielt Motherboard aus einem Münchner Gymnasium. Wie eine 11-jährige Schülerin gegenüber Motherboard berichtet, wurden die Kettenbriefe seit Sonntag, 4. November, per WhatsApp verbreitet. "Es gab bestimmt drei verschiedene Kettenbriefe, aber auch Sprachnachrichten. Die kamen bestimmt von 20 verschiedenen Kontakten. Alle fanden das scheiße und haben das geglaubt", so die Schülerin gegenüber Motherboard. Auch ein weiterer 14-jähriger Schüler aus München bestätigte gegenüber Motherboard, dass Kettenbriefe zu Artikel 13 im Umlauf sind.

Screenshot WhatsApp

Auch dieses Spruchbild wurde auf WhatsApp verschickt | Bild: Screenshot | WhatsApp

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Insgesamt liegen Motherboard fünf verschiedene Kettenbriefe über das vermeintliche Ende von YouTube vor. Sie wurden von sechs verschiedenen WhatsApp-Nutzern zwischen 12 und 15 Jahren geteilt. Nach eigenen Angaben wohnen sie im Raum Augsburg, Ulm, Würzburg und Flensburg. Von einem dieser Kettenbriefe berichtet auch die Website Mimikama, die gegen Desinformation im Netz kämpft. Auf einigen Kettenbriefen haben vorherige Nutzerinnen und Nutzer ihre Namen notiert, um zu zeigen, dass sie an der Aktion teilgenommen haben. Auch wenn die meisten Motherboard derzeit vorliegenden Screenshots offenbar aus Bayern stammen: Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass vor allem Schülerinnen und Schüler dieses Bundeslandes betroffen sind.

Habt ihr auch seltsame Kettenbriefe über Artikel 13 oder zu anderen Themen erhalten? Wenn ja, könnt ihr den Autor Sebastian per E-Mail kontaktieren. Motherboard wird auch in Zukunft weiter zu dem Thema recherchieren.

Die Kettenbriefe erwecken den Eindruck, Artikel 13 stoppen zu können, wenn sie nur besonders oft geteilt würden. Dabei macht das schon technisch keinen Sinn: Durch die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von WhatsApp-Chats hat keiner die Möglichkeit, die weitergeleitete Nachrichten nachzuverfolgen oder zu zählen. Die Inhalte der Nachrichten auf WhatsApp können nur Sender und Empfänger lesen. Die Kettenbriefe eignen sich also nicht einmal, um öffentlich zu protestieren; sie sind wirkungslos.

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Screenshot WhatsApp

Zehn Nutzerinnen und Nutzer haben auf diesem Bild ihre Vornamen und Instagram-Accounts verlinkt, um sich gegen Artikel 13 zu positionieren | Bild: Screenshot | WhatsApp

Irreführende YouTube-Videos könnten Auslöser für die Kettenbriefe sein

Der Zeitpunkt, der möglicherweise den Start der Kettenbriefe markiert, ist durchaus interessant: Am 4. November standen nämlich mehrere Videos großer YouTuber in den deutschen YouTube-Trends, die Panik vor Artikel 13 verbreiteten. "In einigen Monaten werden fast alle Kanäle, die wir kennen, lieben und immer wieder gucken, gelöscht werden", sagte beispielsweise der YouTuber hinter dem Kanal Wissenswert, dessen Video an dem Tag auf Platz 1 der Trends stand.

Es folgten Dutzende Videos von YouTubern, die traurig vom möglichen Ende ihrer Karriere berichteten. Zehntausende Kommentare erschienen unter den Videos. Viele Zuschauer und Zuschauerinnen hatten offenbar Angst, ihre Social-Media-Idole zu verlieren. Viele YouTuber baten ihre Fans darum, die Kampagne #saveyourinternet und eine Petition gegen Artikel 13 zu verbreiten.

Screenshot WhatsApp

Zwei Schülerinnen aus zwei verschiedenen Orten schickten Motherboard unabhängig voneinander einen Screenshot dieses Kettenbriefs | Bild: Screenshot | WhatsApp

Schon die Panikmache der YouTuber war größtenteils falsch. Es besteht derzeit keine realistische Gefahr, dass massenhaft europäische YouTube-Kanäle gelöscht werden, wie etwa auf dem YouTube-Kanal Wissenswert behauptet wurde. Dass soziale Netzwerke komplett gelöscht werden, wie die Kettenbriefe nahelegen, ist zudem schlicht Unsinn. Das befürchten selbst die schärfsten Kritikerinnen und Kritiker des Gesetzes nicht. Auch die EU-Kommission betont in einem Facebook-Post vom 6. November: "YouTube muss 2019 NICHT schließen. YouTuber bzw. Nutzer von Online-Plattformen werden auch in Zukunft weiterhin das tun dürfen, was sie heute tun, nämlich kreative Inhalte hochladen."

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Screenshot WhatsApp

An diesem Kettenbrief haben sich offenbar Schülerinnen und Schülern mit ihrem Namen und Emojis beteiligt | Bild: Screenshot | WhatsApp

Ein realistisches Szenario ist, dass YouTube viel Geld und Mühe aufwenden muss, sein bestehendes Uploadfilter-System namens Content ID auszubauen sowie breit angelegte Lizenzverträge mit Rechteinhabern zu schließen. Auch Probleme mit fälschlicherweise blockierten Inhalten und einem überforderten Support-Team sind wahrscheinlich.

Eine der größten Sorgen wegen des geplanten EU-Gesetzes lautet, dass Plattformen in Zukunft zu viel filtern werden, also auch Memes, Remixe und Parodien. Das würde im schlimmsten Fall die Netzkultur immens schädigen und das Medienangebot im Netz radikal beschneiden. Dieses Problem hebt vor allem die EU-Parlamentsabgeordnete Julia Reda von den Piraten hervor. Ob dieses pessimistische Szenario eintrifft, ist derzeit aber unklar: Zu diesem Thema diskutiert die EU bereits Alternativen.

Kettenbriefe befeuern Hass auf EU und Politik im Allgemeinen

Screenshot WhatsApp

Diese via WhatsApp weitergeleitete Nachricht ist besonders kurz – und alles andere als vielsagend | Bild: Screenshot | WhatsApp

Motherboard hat mit dem Kommunikationswissenschaftler Carsten Reinemann von der Universität München über die Kettenbriefe gesprochen. Er forscht am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung unter anderem über die Wirkung von Medien und deren Einfluss auf die politische Meinungsbildung. Seiner Einschätzung nach sind die Kettenbriefe eine direkte Reaktion auf die von YouTube-Stars befeuerte Panikmache ums Ende von YouTube.

"Wenn YouTuber ihre Fans in Panik versetzen und vom Ende YouTubes sprechen, ist das schon ziemlich verantwortungslos", findet Reinemann. Man sehe ja anhand der Screenshots, dass viele jüngere Menschen "die Infos unkritisch für bare Münzen nehmen".

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Tatsächlich wird der Artikel 13 in manchen Kettenbriefen als absolut furchtbar dargestellt. "Also verbreitet jegliche Hashtags, Texte usw. bis wirklich jeder dagegen ist", heißt es in einem der Briefe. Doch leider ist in den Nachrichten keine Rede von den eigentlichen Problemen hinter Artikel 13: Dass Uploadfilter wertvolle Beiträge zur Netzkultur fälschlicherweise blockieren könnten; dass sich kleine Plattformen keine eigene Technologie zum Filtern leisten könnten; dass Filter auch als Werkzeuge für Zensur missbraucht werden könnten.

Dass sich junge Leute äußern und einmischen, sei ja super, betont Medienforscher Reinemann. Aber es sei schade, wenn das auf Basis irreführender Informationen passiere. "Man muss ja mal überlegen, was das bei den Kindern und Teenagern auch für einen Image-Schaden für die EU und die Politik allgemein auslösen kann", so Reinemann.

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