Der Linksautonome, der einen Hubschrauber blendete und im Gefängnis landete

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In der linksradikalen Szene ist Nero ein Märtyrer. Am 17. Juni 2017, während sich etwa 60 Autonome in Berlin-Friedrichshain eine Straßenschlacht mit der Polizei lieferten, blendete er den Piloten eines Polizeihubschraubers mit einem Laserpointer. So wollte Nero verhindern, dass seine randalierenden Freunde aus der Luft gefilmt werden können. Unter Linksautonomen ist er dadurch zur Legende geworden. Doch für diesen Status hat er teuer bezahlt. Er hat eineinhalb Jahre im Gefängnis gesessen. Wir haben Nero auf seinem Weg zurück in die Freiheit begleitet.

Nachdem sie sich an der Aral-Tankstelle mit Club Mate eingedeckt haben, geht es Jörg Meuthen an den Kragen. Der Parteichef der AfD schaut von seinem Plakat hinab, fast entschuldigend, als hätte er geahnt, dass heute Nacht vier Linksradikale kommen und ihn holen werden. Die zwei Frauen der Gruppe, schwarzer Kajal und Septum-Piercing, bilden einen Menschenturm, der bedrohlich wackelt, und pflücken ein Plakat nach dem anderen aus etwa drei Metern Höhe. Es ist inzwischen halb drei Uhr morgens, es ist kalt, frierend schleppen sich die Aktivisten von Laternenpfahl zu Laternenpfahl. Spaß hat nur einer: Nero, der heute Nacht den Ton angibt.

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Mit einem Lächeln im Gesicht macht er Liegestützen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, boxt mit den Fäusten in Luft, streut ein paar Hampelmänner ein, um vorbeifahrende Autos von seinen Freunden abzulenken, die die dicken Pappen im Minutentakt zu Boden segeln lassen. Es war Neros Idee, durch West-Berlin zu ziehen. Und seine Freunde begleiten ihn. Turnschuhe, schwarze Jogginghose, Funktionsjacke: Im Antifa-Action-Kit ziehen sie durch die Nacht.

Die Aktion sei “low level”, hatte Nero vorher gesagt. Nichts aufregendes. “Aber wenn wir auf ein paar Faschos treffen, könnte es ganz lustig werden.” Die Aussicht auf eine Horde Neonazis, die an der nächsten Straßenkreuzung lauert, auf jaulende Polizeisirenen, auf eine nächtliche Verfolgungsjagd, elektrisiert ihn.

Aber heute bleibt alles ruhig. Also erzählt Nero von früher. Wie sie die Polizisten angegriffen haben, sobald sie einen Fuß aus ihrem Streifenwagen gesetzt haben. “Ich brauche diese Aktionen. Ich fühle mich psychisch unwohl, wenn ich länger nichts mache”, sagt Nero über sich. Damit meint er nicht die paar Plakate, die neben ihm am Straßenrand liegen. Nero ist süchtig nach dem Nervenkitzel, der Gewissheit, mit dem Staat auf Kriegsfuß zu stehen.

Vor allem aber braucht er “diese Aktionen” für sich selbst. Vielleicht gibt es da im Leben des 24-Jährigen auch gar keinen Unterschied mehr: Der Linksautonome will das System untergehen sehen, aus persönlichen und politischen Gründen.

Nero hätte töten können, urteilt der Richter

Im Oktober 2017 gesteht Philipp Jonathan M., wie Nero mit bürgerlichen Namen heißt, vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten, am 17. Juni 2017 einen Polizeihubschrauber mit einem Laserpointer geblendet zu haben. Er wollte verhindern, dass der Helikopter aus der Luft filmt, wie seine Freunde in der Rigaer Straße randalieren. Nero wird wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und versuchtem gefährlichen Eingriff in den Luftverkehr zu 18 Monaten Freiheitsentzug ohne Bewährung verurteilt. Der Angeklagte hätte nicht nur die Besatzung des Cockpits töten können: Er habe den Absturz über dicht besiedeltem Gebiet billigend in Kauf genommen, heißt es im Urteil, im Klartext: Neros Laser-Attacke hätte zu einer Katastrophe mit dutzenden Toten führen können.

“Ja, ich habe Vorgeworfenes getan”, mehr als diesen einen Satz hat Nero im Gerichtssaal nicht zu sagen. Eine Entschuldigung kommt ihm nicht über die Lippen. Der Richter hält Nero für uneinsichtig, seine linksautonome Freunde nennen es standhaft. Für sie macht der Urteilsspruch Philipp Jonathan M. zu einem “politischen Gefangenen”.

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Nero im Kreis seiner autonomen Freunde über den Dächern Berlins

Während Nero in seiner Zelle in der JVA Tegel sitzt, organisieren Mitstreiter aus der anarchistischen Szene die sogenannte “Free Nero”-Kampagne, eine unmissverständliche Botschaft an Polizei und Justiz: Wir geben nicht auf, nicht den Widerstand und erst recht nicht unsere Leute.

Im Juni 2018 fackelt eine Gruppe unbekannter Autonomer das Auto einer Beamtin der JVA Tegel ab, in der Nero sitzt. Zwei Monate später stürmen mindestens zehn Vermummte die Berliner Justizverwaltung, schmeißen mit Flyern um sich und fordern Neros Freilassung. Sechs Wochen vor seiner Entlassung organisieren langjährige Freunde aus der linksradikalen Szene ein Konzert. Sie wollen Geld für Nero sammeln. Unter dem Motto “Criminals United” treten Waving the Guns und DJ Craft (ehemals K.I.Z.) in Kreuzberg auf. Laut Veranstalter kommen 400 Gäste.

Philipp Jonathan M. ist 24 Jahre alt, als er am 28. Januar 2019 aus der JVA Tegel entlassen wird. VICE hat Nero bei seiner Rückkehr in die Freiheit begleitet. Und dabei einen jungen Mann getroffen, der in ein System zurückfinden muss, das er zutiefst verachtet.

Das erste Treffen mit Nero führt an den Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain. Dorthin, wo alles begann, vor zwei Jahren, in der Nacht, in der Nero den Helikopterpiloten blendete.

“Ich will niemanden mit Absicht töten”

An einem sonnigen Nachmittag im April betritt Nero zum ersten Mal wieder den Tatort. Mütter mit Kinderwagen ziehen an ihm vorbei, Jogger laufen ihre Runden. Seit über zwei Monaten ist Nero jetzt frei, doch seine Haut ist noch so blass, als sei erst vor wenigen Minuten durch das Anstaltstor marschiert. “Genau hier habe ich mich versteckt”, sagt er und zeigt mit dem Finger auf einen massiven Baumstamm am Eingang einer kleinen Parkanlage.

Nero hat breite Schultern, im Nacken funkelt der Verschluss einer silberfarbene Kette, in der Faust hält er eine Hundeleine. Daran zieht sein Dobermann. Der Hund heißt genau wie er: Nero, nach dem römischen Kaiser, der Legenden zufolge Rom, seine eigene Stadt, in Brand gesteckt haben soll.

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Nach eineinhalb Jahren Tegel wieder vereint: Nero und Nero

Warum hat er damals den Laserpointer gezückt? “Ich wollte verhindern, dass der Heli Lagebilder macht und die Rigaer ausleuchtet”. Die “Rigaer”, das ist die Rigaer Straße, das Zentrum der linksautonomen Szene Berlins. Dort hatte der Abend des 17. Juni 2017 begonnen, in der “Ka(d)terschmiede”, einer dunklen Kellerkneipe vollgestopft mit ausrangierten Möbeln. Ungewöhnlich viele Jugendliche hatten sich versammelt, denn statt immer nur linksradikalem Punkrock stand Rap auf dem Programm. Ein Konzert als Warm-up für die Nacht. Gegen Mitternacht fliegen die Pflastersteine, vermummte Gestalten errichten Straßenbarrikaden, ein Molotov-Cocktail erhellt die Häuserfassaden in Friedrichshain. Warum es ausgerechnet in dieser Nacht eskaliert, lässt Nero offen. Vielleicht wegen der Vielzahl motivierter Leute, vielleicht wegen des Konzertes.

Zum Zeitpunkt der Eskalation sitzt Nero schon auf dem Fahrrad. Sein Plan: einen Joint rauchen, entspannt schlafen gehen. Doch der Polizeihelikopter, der 500 Meter über seinem Kopf kreist, lässt ihm keine Ruhe. Und dann denkt er an den Laserpointer, der in seiner Hosentasche steckt. Blendet Nero damit den Piloten, muss der eine “Sicherheitslandung” einleiten, so lernen es die Spezialkräfte auf der Polizeischule. Genau darum ging es ihm: “Ich wollte, dass sich der Heli verpisst.” Er visiert das Cockpit des Eurocopters 135 an, wirft eine grüne Lichtachse ins Dunkle. 55 Sekunden lang zerschneidet er mit dem Laser den Himmel über Friedrichshain. Erfolgreich: Der Helikopter zieht sich kurzzeitig zurück.

Als Nero durchatmet, hat der Pilot ihn bereits mit einer Wärmebildkamera markiert und die Kollegen am Boden verständigt. So endet Neros Flucht schon nach wenigen Hundert Metern. Ein Polizist reißt ihn vom Rad. Er kommt nie zu Hause an. Den Rest der Nacht verbringt er in der Zelle.

Heute sitzt Nero auf dem Treppenabsatz eines leerstehendes Restaurants nahe der Rigaer Straße 94, kurz Rigaer94. Für Boulevardzeitungen wie die B.Z. ist das Wohnprojekt die letzte Bastion der linksextremen Krawallmacher der Hauptstadt. Doch hier, in bester Spekulantenlage, kämpfen die Autonomen inzwischen nur noch um ihr eigenes Überleben. Notgedrungen beschäftigen sie sich eher mit Räumungsklagen und Durchsuchungsbeschlüssen als mit dem Umsturz der Gesellschaft. Die Szene schrumpft, ist mit sich selbst beschäftigt und führt einen erbitterten Kleinkrieg gegen die Polizei.

Deshalb braucht die linksautonome Szene Heldenfiguren, die mit außergewöhnlichen Taten Aufsehen erregen. Typen, die ihre Ideale mit Fäusten und Pflastersteinen verteidigen. Nero. Aber wo ist die Grenze? Sitzt der Hass auf die Verteidiger der herrschenden Ordnung bei Nero so tief, dass er sogar töten würden?

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Zum ersten Mal ist Nero verlegen, seine Stimme rutscht hoch, er spricht schneller als gewohnt: “Ich will niemanden mit Absicht töten.” Und unabsichtlich? Natürlich könne ein Polizist sterben, wenn er einen Stein abbekommt. Das sei dann aber nicht das Ziel, so etwas passiere halt im Straßenkampf, sagt er und hat seine Selbstsicherheit wiedergefunden.

Aber warum hat die politische Sache für Nero mehr Wert als seine persönliche Freiheit? Wer das verstehen will, muss die Zeit zurückdrehen bis zu einem Punkt, an dem Nero einfach Philipp heißt und im thüringischen Weimar aufwächst.

Auf den Schultern seines Vaters besucht er 1995 die erste Demo gegen rechts. Die Bilder vom brennenden Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, der rechtsextreme Anschlag geschah drei Jahre zuvor, stecken noch in den Köpfen der Demonstrierenden. “Guck dir die Nazis an”, habe sein Vater damals zu ihm gesagt. “Werde auf keinen Fall so wie die.”

Seine Freunde seien depressiv gewesen und hätten den Ermittlungsdruck vom LKA nicht mehr ausgehalten. In einem Verhör hätte ein Ermittler später zu Nero gesagt: “Keine Sorge, wir kriegen dich auch noch so weit.”

Mit zwölf Jahren färbt sich Nero die Haare bunt, trägt Röcke. “Dafür haben mir dann irgendwelche Nazi-Assis auf dem Heimweg ihren Pitbull hinterhergejagt”, sagt er. Für die Nazis sei er nur ein “Schwuli” gewesen, eine “linke Zecke”.

Nur in der “Gerber”, einem ehemals besetzten Haus in der Weimarer Innenstadt, trifft Nero auf Gleichgesinnte. Teenager, die ihre Ruhe haben wollen vor der Welt da draußen. Rauchen, rumhängen und keine Regeln von Eltern oder Lehrern. Hier lernt Nero, was ihm in der Schule keiner beibringt. Sie diskutieren über Homophobie im Fußball und Rassismus in der Gesellschaft. Im Sommer lesen sie das Kapital von Karl Marx.

Außerhalb der Gerber eckt Philipp an, in der Mittelstufe fliegt er in drei Jahren von vier Schulen. “Ich habe mich nicht an die sinnlosen Regeln der Lehrer gehalten”, sagt Nero. “Gehen sie mit ihrem Kind zum Psychologen”, sagen die Lehrer am Elternsprechtag. Mit 14 sieht Nero das erste Mal, wie Einsatzkräfte bei einem Neonazi-Aufmarsch die Gegendemonstrierenden auseinandernehmen. Dass die Nazis durch die Stadt flanieren, während die Gegendemo einsteckt, macht Philipp rasend. Vor Verzweiflung heult er, schreit den Polizisten ins Gesicht. Einen solchen Gefühlsausbruch traut man Nero heute nicht mehr zu.

Regungslos erzählt er, wie Polizisten nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm in seinem Kinderzimmer nach Beweismitteln fahndeten – und wie sich ein befreundetes Paar das Leben genommen habe. Sie seien depressiv gewesen und hätten den Ermittlungsdruck vom LKA in Thüringen nicht mehr ausgehalten. In einem Verhör hätte ein Ermittler später zu Nero gesagt: “Keine Sorge, wir kriegen dich auch noch so weit.” Spätestens seitdem ist die Polizei Neros persönlicher Feind und die Tür zurück in ein bürgerliches Leben verschlossen.

“Mein Kopf ist stehen geblieben, als ich 15 war”, sagt Nero. Für ihn ist Antifa viel mehr als eine Phase jugendlicher Rebellion. Sie ist der Ausweg aus der Tristesse, die ihn umgab und die ihn über Jahre hat abstumpfen lassen. 2017 zieht er nach Berlin. “Für Autonome ist das die Anlaufstelle in Deutschland”, sagt er.

Bis heute kennt sich Nero in Berlin kaum aus. “Ich bin direkt eingefahren, als ich hierher gezogen bin.” So richtig habe er die Stadt erst durch die Geschichten der Gefangenen kennengelernt, die sich hinter Gittern mit der Härte ihres Kiezes brüsteten. Nero glaubt nicht daran, dass er in Berlin je heimisch wird. Bestimmt gehe er noch mal ins Gefängnis. “Frei fühle ich mich auch außerhalb des Knastes nicht”, sagt Nero.

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Nero vor den Gefängnismauern der JVA Tegel, ein “FCK CPS”-Shirt verdeckt sein Gesicht

Er fühlt sich eingesperrt in der Welt, die ihm ein kleinbürgerliches Existenz aufdrücken will. Skoda fahren und Tatort schauen, während draußen die Welt brennt, das funktioniert für ihn nicht. Wohnungsnot. Nationalismus. Abschottung. Hoffnung, dass sich das ändert, hat er keine. Schon gar nicht in Deutschland, wo man “in erster Linie im Kapitalismus lebt und danach in einer Demokratie”.

Nero ist jetzt vor einem Hochhaus am Spreeufer angekommen. Hier endete die Verfolgungsjagd in der Tatnacht. “Muss schon filmreif gewesen sein, die Verhaftung”, sagt er. Neros Augen leuchten, als er den Ablauf seiner Festnahme schildert: “Der Zugriff von zwei Seiten, der Heli über mir. Das Lustige ist, dass mich der eine Bulle im Polizeirevier mit einem Judo-Griff über die Schulter geworfen hat”, sagt er. Lustig sei das, nur grinst Nero nicht, wenn er davon erzählt. Vielleicht braucht Nero diesen Galgenhumor, um zu beweisen, dass das System nicht mehr als trotzige Häme von ihm erwarten kann. Vielleicht verdrängt er damit auch einfach die Frage, wie sich das wirklich anfühlt: die bohrenden Knie der Beamten im Rücken, die einsamen Nächte in der Zelle.

“Die Aktion mit dem Hubschrauber war doch Kindergarten”, sagt er. “Ein Banküberfall wäre feierlich gewesen.” Nero ist keiner dieser Linken, der die bürgerliche Mitte von der Einführung einer Finanztransaktionssteuer überzeugen will. Er will mit Sturmmaske in die Sparkasse. Er will das System dort treffen, wo es ihm am meisten schmerzt: beim Geld. Und über ein bisschen Spaß beim Kampf für eine bessere Gesellschaft beschwert sich Nero auch nicht: “Hätte ich richtig viel Kohle, würde ich auch einen AMG fahren”, einen Sportwagen von Mercedes. “Wenn ihn dann jemand anzündet, wäre das aber auch okay.” In diesen Momenten klingt er ein bisschen wie der RAF-Terrorist Andreas Baader. Von Spritztouren in Luxusautos kann Nero während seiner Tage in Tegel nur träumen.

Nero in der JVA Tegel – braver Häftling oder “Anstaltsquerulant”?

Schon 2015 hatte Nero Silvester vor der U-Haft in Moabit verbracht, mit Freunden und eigenem Feuerwerk. Schon damals wollten die Autonomen die größte Party des Jahres mit den “Verstoßenen” und “Ungeliebten” dieser Gesellschaft feiern. Zwei Jahre später ist Nero kein Außenstehender mehr, er erlebt die Trostlosigkeit eines Knastaufenthaltes am eigenen Leib.

Seinen Alltag hält er in seinem “Free-Nero”-Blog fest: Regelmäßig veröffentlicht er Statusberichte aus dem Knast, den er früher nur von außen kannte. “Bei 21h Zellenroutine wird das wöchentliche Duschen zum Highlight”, schreibt er. Im Dezember 2018 landet er in Isolationshaft, weil ein Polen-Böller im Aufenthaltsraum der Beamten explodiert. Es folgt: Anstaltsalarm, Einschluss für alle, Haftraumkontrolle. Im CD-Fach von Neros Musikanlage finden die Beamten ein Smartphone. Ein Video in Neros Handyspeicher zeigt den Böllerwurf. Man hat ihn verpetzt. Über den redseligen Zellennachbar schreibt Nero in sein digitales Tagebuch: “Nazi wäre zu schmeichelhaft für dieses Stück Scheiße!”.

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Uploads von Neros Instagram-Account, den er heimlich im Gefängnis betrieb

Auf seinem Blog zeichnet Nero das Bild eines unbeugsamen Gefangenen, der so unermüdlich wie aussichtslos gegen die übermächtige Anstalt kämpft. Die Anstalt sieht darin eine Inszenierung, die wenig mit dem Gefangenen Philipp Jonathan M. zu tun hat. In der JVA Tegel will man Nero als braven und unauffälligen Häftling in Erinnerung haben. Aus Anstaltskreisen heißt es, bis auf zwei Vorkommnisse habe sich der Gefangene regelkonform und unproblematisch verhalten. Von einer “Verweigerungshaltung” könne keine Rede sein.

Glaubwürdig ist das nicht. Weil Nero immer wieder gegen die Anstaltsregeln verstößt, muss er seine Strafe bis zum letzten Tag in Tegel absitzen. Ein ehemaliger Zellennachbar, der keine Verbindungen in die linksautonome Szene hat, sagt zu VICE: “Wer behauptet, dass Philipp ein braver Gefangener war und sich angepasst hätte, der lügt.” Aus Angst vor möglichen Konsequenzen der JVA möchte er seinen Namen nicht nennen. Nero, sagt er weiter, sei ein “Anstaltsquerulant” gewesen, der auf die Regeln des Gefängnis geschissen hätte, ein Handy besaß und grundlos im Arrest hockte. Ein Überzeugungstäter, der mit sich völlig im Reinen war. Das habe den Mitgefangenen imponiert.

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“Criminals United” – der Anarchist und seine Mitgefangen demonstrieren Geschlossenheit

Aber Nero geht es nicht um Anerkennung. Seine Zerstörungslust ist größer als der Geltungsdrang, die Regelverstöße reizvoller als die Aussicht auf einen stressfreien Gefängnisaufenthalt. Ein paar Jahre hinter Gittern für ein paar Sekunden Chaos. Genau das macht ihn aus.

Nero stolperte unfreiwillig in die Öffentlichkeit, weil er in der Nacht des 17. Juni 2017 nicht schnell genug flüchten konnte. Mumm und Zähheit haben ihn zum Märtyrer gemacht. Doch jetzt, wo der Autonome endlich draußen ist, ihn nichts mehr zurückhält, ist er nicht mehr die Speerspitze der Revolution. Er ist wieder Philipp. Ein planloser junger Mann, der sein eigenes Leben in den Griff bekommen muss, bevor er sich über die Weltrevolution Gedanken macht.

Zurück im System: Im Jobcenter ist Nero nicht mehr als eine Wartenummer

An einem Morgen im Mai 2019, pünktlich um 8:25 Uhr, steht Philipp am Jobcenter Berlin-Friedrichshain. Der linke Widerstandskämpfer, der sich vom verhassten Staat den Unterhalt zahlen lässt – stört ihn dieser Eindruck nicht?

Stört es ihn, vom deutschen Staat abhängig zu sein? “Wenn ich will, überlebe ich auch so”, sagt Philipp. Dann fällt Nero noch eine bessere Antwort ein: “Na, klar nehme ich die Kohle. Ich würde den Staat ja auch ausrauben.”

Philipp war mal Krankenpfleger, die Stelle hatte er aber schon vor der Verurteilung im September 2017 verloren. Im Gefängnis arbeitete er als Gärtner. In der JVA Tegel gibt es riesige Grünflächen, auf denen man sich frei bewegen kann. Das gefiel ihm. Doch auch diesen Job behielt der Gefangene nur, bis seine Freunde das Auto der Justizvollzugsbeamten abfackelten.

Das Jobcenter hat ihn zum Gespräch geladen. Mal wieder. Die letzten Termine hat er geschwänzt. Um kurz vor neun ruft ihn die Sachbearbeiterin auf. Sie trägt ein Oberteil in grünem Leoparden-Print, das farblich zu ihren Fingernägeln passt. “Es sind Unterlagen nachzureichen”, sagt die Sachbearbeiterin. Sie wendet den Blick nicht vom Bildschirm ab. “Warum haben Sie denn die letzten Termine verpasst?” Philipp versucht es mit einer kleinlauten Ausrede. Er wohne im Hinterhof – wo die Post bis vor Kurzem nicht angekommen sei.

Gerne würde er zurück in seinen Job als Krankenpfleger, aber nach dem Knast hab er erst mal genug vom Frühaufstehen. Doch damals, in der Nacht des 17. Juni, bei der Festnahme, habe er nur daran gedacht, wer die Frühschicht im Krankenhaus übernehmen könnte, um seinen Patienten Insulin zu spritzen.

Wieder draußen sagt Philipp zuversichtlich: “Krankenpfleger werden doch gerade händeringend gesucht. Da würde ich bestimmt einen Job finden.” Ob es etwas gebe, worauf er sich in nächster Zeit so richtig freue? Er überlegt kurz. Dann sagt er: “Ich besuche einen Freund aus der Rigaer. Der sitzt seit letzter Woche in der U-Haft”.

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