Dank ‘Neon Genesis Evangelion’ habe ich meine Jugend überlebt

​Shinji Ikari und Asuka Langley Soryu in 'Neon Genesis Evangelion'

Es ist Sommer, irgendwann Mitte der 2000er. Ich liege auf dem Boden meines Kinderzimmers. Die Augen geschlossen, den Kopf Richtung Stereoanlage, in der meine Kopfhörer stecken. Sie sind billig, den Streit meiner Schwestern im Wohnzimmer übertönen sie trotzdem. Ich höre den Soundtrack von American Beauty, die Melodie von der Plastiktütenszene, immer und immer wieder. Meine Hände ruhen auf meinem Bauch. Ich atme ein, aus, ein, aus. Ich mache das jeden Tag nach der Schule. Nicht, weil ich mich erden oder auf mich besinnen möchte, das ist keine Achtsamkeitsübung. Es unterdrückt ein Gefühl, das in mir wächst. Das Gefühl, langsam aber sicher wahnsinnig zu werden.

Meine Eltern hatten sich getrennt und anschließend beschlossen, sich erst mal um sich selbst zu kümmern. In gewisser Weise konnte ich das verstehen, trotzdem fühlte ich mich überfordert, verletzt, allein gelassen. Wenn andere Familienmitglieder thematisierten, wie schlimm so eine Trennung doch für die Kinder sei, ging es um meine jüngeren Schwestern. Über mein Trauma sprach niemand, geschweige denn mit mir. Stattdessen fiel es mir als Ältester jetzt zu, zwischen meinen Eltern zu vermitteln und auf meine Schwestern aufzupassen. Dabei war ich erst 15 und somit auch noch ein Kind.

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Ich konnte nicht mehr schlafen, bekam Panikattacken oder Wutausbrüche und schließlich fast ein Magengeschwür. Meine Depression verstärkte den Gedanken, dass es für mich – egal ob psychisch oder physisch – sowieso kein Happy End gab.

Also legte ich mich auf meinen Zimmerboden und hörte mit zusammengekniffenen Augen Musik, bis ich mir sicher war, dass die Schreie in meinem Inneren nicht mehr nach außen dringen würden. Den Trick hatte ich aus einem Anime: Neon Genesis Evangelion.

Seit Juni 2019 sind alle Folgen und zwei der Filme auf Netflix – und dürften so einer neuen Generation von jungen Menschen durch die ersten großen Identitäts- und Lebenskrisen helfen. Ich sah die Serie das erste Mal Anfang der 2000er, auf dem Röhrenfernseher einer Freundin. Das japanische Original mit deutschen Untertiteln. Sie hatte alle Folgen auf Videokassette – jahrelang der einzige Weg, Evangelion in Deutschland zu gucken. Die Serie erschien 1995 in Japan, lief aber erst Anfang der 2000er im VOX-Nachtprogramm. Und dann auch nur in einer gekürzten Version.

Serienschöpfer Hideaki Anno zeigt, dass der Kampf mit sich selbst, in sich selbst, schlimmer ist als jede Bedrohung von außen.

Die Serie handelt von den Teenagern Shinji, Asuka und Rei, auf deren Schultern das Schicksal der Menschheit lastet. Sie steuern riesige humanoide Kampfroboter (Evangelions, oder kurz: Evas), die außerirdische Monster (Engel) davon abhalten sollen, das Ende der Welt einzuläuten. 14-Jährige mit traumatischer Vergangenheit stellen sich heroisch dem vermeintlich übermächtigen Feind entgegen und retten die Welt – eigentlich eine klassische Young-Adult-Heldengeschichte.

Die mysteriösen Evas und der wirkliche Grund für das Ende der Welt waren allerdings nur die Rahmenhandlung. Wirklich fasziniert hat mich, wie kompromisslos die Serie mit den Folgen von Trauma und Depression umgeht. Das ist über 15 Jahre her. Evangelion hat mich seitdem nicht losgelassen, denn Serienschöpfer Hideaki Anno zeigt, dass der Kampf mit sich selbst, in sich selbst, schlimmer ist als jede Bedrohung von außen.


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Statt um Heldentum und Triumph, geht es in der Serie um Angst und Überforderung. Um das schreckliche Gefühl, in seinem Schmerz komplett allein zu sein, und um Erwachsene, die nicht erwachsen genug sind, um die Menschen zu schützen, die sie eigentlich schützen sollten. Um die Erkenntnis, dass es nichts bringt, wegzulaufen, weil die Realität einen einholt. Serienautor Anno litt an Depressionen. Evangelion bebilderte den inneren Kampf, den er über Jahre mit sich selbst austrug.

“Es fühlte sich an, als wäre ich leer, als hätte meine Existenz keine Bedeutung”, sagte Anno, nachdem die letzte Folge ausgestrahlt wurde. “Ich habe alles von mir in Evangelion gesteckt. Als es zu Ende war, war nichts mehr in mir übrig.” So wie Shinji am Ende der Serie begreift, dass er sich nicht allein dem Leben stellen muss, schien auch Anno begriffen zu haben, dass man Verbündete braucht, wenn man nicht länger weglaufen kann. Er begab sich in ärztliche Behandlung.

Als ich zum ersten Mal gelernt habe, dass es Dinge gibt, vor denen man nicht flüchten kann, war ich sechs Jahre alt. Mir wurde Diabetes Typ 1 diagnostiziert. Mein eigenes Immunsystem hatte meine Bauchspeicheldrüse angegriffen und die Inselzellen kaputt gemacht, die Insulin produzieren. Sprich: Wenn ich mir nicht mehrfach täglich Spritzen setze, sterbe ich. Eine Heilung gibt es dafür bis heute nicht.

Shinji war lange vor dem ‘socially awkward’-Pinguin ein Meme für das Gefühl, sich in jeder sozialen Situation falsch zu verhalten.

Über die möglichen Folgeschäden sprach meine Kinderärztin erst ein paar Jahre später mit mir: Blindheit. Der Verlust von Gliedmaßen, weil beispielsweise die Beine nicht mehr richtig durchblutet werden. Weitere Organschäden. Manche trifft es früher, manche später, manche gar nicht. Der Gedanke fraß sich in meine Eingeweide. “Wenn du 18 bist, gibt es bestimmt einen Weg, das zu heilen!”, schob meine Ärztin eine Zeit lang noch nach. Irgendwann hörte sie auf, mich anzulügen. Die Last meiner Krankheit konnte sie mir sowieso nicht abnehmen.

Stattdessen stürzte ich mich in die bildgewaltig inszenierte Welt von Neon Genesis Evangelion, in der jeder auf seine ganz eigene Art leidet. Ich fand mich in Asuka wieder, die sich ausschließlich über Leistung definiert und zusammenbricht, wenn sie merkt, dass sie nicht so besonders ist, wie sie gerne wäre.

Auch ich wollte besonders sein, irgendetwas leisten, was die Menschen dazu zwingen würde, mich ernstzunehmen. Stattdessen war ich gefangen in einem kranken, kaputten Körper, für den ich zusätzlich zu allem anderen auch noch gemobbt wurde.

In meiner Pubertätshöllen-Hochphase war es allerdings Shinji, der an seiner eigenen zwischenmenschlichen Isolation zu ersticken droht, dem ich mich am nächsten fühlte. Shinji glaubt, dass er nur dann liebenswert ist, wenn er die Erwartungen erfüllt, die andere an ihn haben. Zuneigung anzunehmen und zu zeigen, auch körperlich, fällt ihm schwer. Er war lange vor dem “socially awkward”-Pinguin ein Meme für das Gefühl, sich in jeder sozialen Situation falsch zu verhalten.

Wenn ihm in der Serie alles zu viel wird, zieht sich Shinji in sein Zimmer zurück und hört immer und immer wieder das gleiche Lied auf seinem Walkman, bis er wieder genug Kraft hat, um weiterzumachen. Ich hatte eine gebrannte CD, auf der ich im Versuch, mich ironisch über meinen eigenen vermeintlich peinlichen Zustand zu erheben, “Depressiver Scheiß” gekrakelt hatte. Ein, aus, ein, aus. Einfach weiter atmen.

Ich kam mir vor wie ein Roboter, der wahlweise gar nichts oder viel zu viel fühlte. In jedem Fall aber immer das Falsche. Wenn ich noch nicht erwachsen war, aber offensichtlich auch kein sorgloses, egoistisches Kind sein durfte, weil ich familiäre und gesundheitliche Verantwortung trug – wer war ich dann? Evangelion half mir zu verstehen, dass gar nichts falsch mit mir war. Ich war einfach nur überfordert. Und mit dieser Erfahrung bin ich nicht allein. Tausende nennen die Serie auch heute noch als Grund dafür, ihre Jugend, ihre Depression, ihren Selbsthass überwunden zu haben. Auf Reddit, in Anime-Foren oder Artikeln.

Neon Genesis Evangelion ist auch 24 Jahre nach ihrem Erscheinen noch eine der meistdiskutierten und beliebtesten Anime-Serien überhaupt. Vor ein paar Tagen habe ich die Serie nach Jahren wieder geguckt. Ich muss gestehen, dass mich der Schluss nach wie vor nicht so richtig befriedigt. Dafür hatte ich, fast zwei Jahrzehnte nach meiner ersten Erfahrung mit Evangelion, einen zweite große Erkenntnis.

In End of Evangelion, dem Film, der eine Art alternatives Ende zur Serie liefert, hält Shinjis Vorgesetzte und Ersatzmutter Misato einen längeren Monolog. “Du hast eine eigene Fantasie geschaffen, um dich an der Realität zu rächen”, wirft sie Shinji vor. “Du bist in die Fiktion geflohen, um der Wahrheit zu entkommen. Das ist kein Traum, sondern ein Ersatz für die Realität.”

Dann sagt sie etwas, was ich erst jetzt verstehe. Als Erwachsene, die nicht mehr länger weglaufen will:

“Solange du weiterleben willst, kann überall das Paradies sein. Was zählt ist, dass du am Leben bist.”

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