"Clean Eating" ist für deine Gesundheit absolut sinnlos

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Ernährung

"Clean Eating" ist für deine Gesundheit absolut sinnlos

Und deine Ernährung macht dich auch nicht zu einem besseren Menschen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei TONIC.

Vor Kurzem war ich bei einem Event eines der führenden Bio-Unternehmen der Staaten. Die Veranstaltung wurde moderiert von einer Yoga-Lehrerin – aus einer Vorstadt irgendwo in Connecticut, wo die Straßen vollgeparkt sind mit luxuriösen Hybrid-SUVs und in jedem Becherhalter ein Latte mit Bio-Mandelmilch steckt. Die erklärte uns, wie die ganzeheitliche Weltanschauung der Firma mit ihrer im Einklang steht.

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Dann kamen die Kellner in den Saal. Als sie uns die Teller mit Lachs, Risotto und Brokkoli vor die Nase setzten, teilte uns die Moderatorin mit, dass unser Essen zu 100 Prozent bio, aus regionalem Anbau, frei von Gentechnik, Antibiotika, Hormonen und Zusatzstoffe sei. "Genießen Sie ihr cleanes Mittagessen aus echtem Essen!", sagte sie uns.

An "bio" glaube ich nicht so recht, die Anti-Gentechnik-Bewegung ist für mich Bullshit und ich esse jeden Abend eine Schüssel Fruit Loops mit normaler Vollmilch. 30 Jahre lang habe ich so nicht nur überlebt, mir ging es sogar gut dabei. Meine Ärzte sagen, ich bin bester Gesundheit – und das, wo ich mich anscheinend von "schmutzigem", "unechtem" Essen ernähre. Bin ich ein biologisches Wunder? Weit gefehlt.

"Clean Eating" ist eine Ernährungsweise, die einem ein gutes Gefühl vermitteln soll. Sie basiert auf Bio-Produkten, Produkten frei von Gentechnik und unnatürlichen Zusatzstoffen und erzeugt unter ethisch vertretbaren Bedingungen. Vor allem reiche Yoga-Mamas, Edel-Biomarkt-Hippies und Gelegenheits-Fitnessfreaks lieben es. "Clean Eating" verspricht "schnellen Fettabau, der ewig hält" und verspricht einen Wellness-Traum im Stil von Gwyneth Paltrow, bei dem man seine Gesundheit noch mal "neu starten" kann.


Auch bei MUNCHIES: Die (nicht ganz so) strikte Diät einer Profi-Ballerina:


"Clean Eating" findet sich immer wieder in Zeitschriften und Büchern: In den USA sind Clean Eating Made Simple, Clean Eats, Clean, and The Eat Clean DietClean Eating Made Simple, Clean Eats, Clean und The Eat Clean Diet absolute Bestseller. "Clean Eating" ist auch das Motto von Panera Bread – einer Fast-Casual-Food-Kette mit einem Unternehmenswert von 5,1 Milliarden Dollar: "100 % of our food is 100 % clean". Promis wie Alicia Silverstone und Jessica Alba sind auch mit dabei.

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Das Problem: Die "Clean-Eating"-Bewegung ist ein Phänomen des Klassismus – oder wie einer meiner Studenten, der in der Innenstadt von Detroit aufwuchs – es formulierte: "Clean Eating? Das ist doch so ein Scheiß für reiche Weiße." Und obwohl es nicht genügend wissenschaftliche Beweise gibt, ist "Clean Eating" bestimmend für den Diskurs um Gesundheit und Abnehmen, meint Krista Scott-Dixon, Ernährungsberaterin bei Precision Nutrition.

Und das ist wirklich schade, denn wenn man sich das ideale Essen beim "Clean Eating" anguckt, kommt einem schnell der Gedanke, dass man es sich nicht leisten kann, gesund zu essen. Bio-Lebensmittel kosten in den USA laut Consumer Reports circa 40 Prozent mehr. "Natürlich kann man es sich nicht leisten, gesund zu essen – zumindest wenn man sich für 12 Dollar das Stück Flaschen mit frisch gepresstem grünen Saft kauft, alles bio, ohne Gentechnik und absolut clean", meint Scott-Dixon.

70 Prozent aller Amerikaner sind übergewichtig und nur einer von zehn isst die empfohlene Tagesration an Obst und Gemüse. In den ärmsten Staaten ist es sogar noch weniger. Wenn man durch zusätzliche finanzielle Hürden den Zugang erschwert, hilft das nur wenig der Mehrheit, unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen trifft es extrem schwer, meint Robin DeWeese, die an der Arizona State University zu Ungleichheiten bei der Ernährung forscht. "Wir müssen beim Zugang zur frischen Produkten anfangen und sie erschwinglich und attraktiv machen", meint sie. "Wir können uns in den Gegenden, in denen ich arbeite, nicht um solche Ideen wie 'Clean Eating' kümmern."

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DeWeese hasst den Begriff "Clean Eating". "Das hat etwas mit dem sozialen Status zu tun. 'Ich bin besser, weil ich mich clean ernähre.' Darum geht es eher", meint sie. Scott-Dixon meint dazu: "Clean Eating, darüber machen sich Menschen Gedanken, die, sozioökonomisch gesehen, keine wirklichen Sorgen haben. Das ist ein First-World-Problem."

Denn wenn ein Teil des Essens als "clean" gilt und der Rest quasi "schmutzig" ist, wird damit eine binäre, selbstgerechte Weltanschauung aufgestellt, ein "Wir vs. die Anderen". "Dabei wird Essen als Propaganda genutzt. Es gibt eine moralische Komponente", meint Trevor Kashey, Ernährungsberater bei Complete Human Performance und Doktor der Biochemie.

Wenn so viele Menschen begrenzte Mittel zur Verfügung haben, sollte man vorsichtig damit sein, bestimmte Produkte als "schlecht" abzustempeln, meint John Weidman, stellvertretender Geschäftsführer des The Food Trust, einer amerikanischen Non-Profit-Organisation, die sicherstellen will, dass unterprivilegierte Gruppen Zugang zu erschwinglichem, nahrhaftem Essen haben. "Wenn man will, dass Kinder mehr Bananen essen", meint er, "dann sollen sie nicht denken, dass sie 'schmutzige' Bananen essen."

Das sieht Scott-Dixon ähnlich: "Beim 'Clean-Eating'-Konzept gibt es einfach so viele moralisierende, verurteilende Assoziationen." So wenige Menschen können es sich leisten, bei jeder Mahlzeit clean zu essen, dass daraus eine verdrehte Beziehung zum Essen entstehen kann. "Jede Entscheidung, die man jetzt trifft, trägt eine unglaubliche Last. Man kann sich nicht einfach entscheiden. Bei diesem Ernährungsmanifest ist jede Entscheidung rund ums Essen eine Möglichkeit für die Klienten für Paranoia, Angst, Strafe oder Kritik", meint sie.

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Und wenn du genug Knete hast, dich komplett clean zu ernähren, fühlst du dich moralisch überlegen. "Wer Clean Eating befürwortet, muss auch wissen, dass nicht jeder die Möglichkeit hat, sich ein Steak aus Weidehaltung zu kaufen, das vier Mal so viel kostet wie ein normales und das, wie Untersuchungen überwiegend gezeigt haben, wahrscheinlich dieselben Nährstoffe enthält", meint Anthony D'Orazio, außerordentlicher Professor für Biologie und Ernährung an der Ohio State University. "So etwas macht einen ja nicht weniger zum Menschen."

Ernährungsinformationsprogramme sollten auf die jeweilige Kultur ausgerichtet sein, meint Weidmann. "Es gibt nicht nur eine Art, gesund zu essen", fügt er hinzu. Wenn man sich komplett mit Bio-Produkten und ohne Gentechnik ernähren will, hilft sein Programm den Menschen gern dabei, doch schlussendlich "wollen wir den Menschen einfach nur helfen, gesünder zu essen", meint er.

Und es gibt mehr als eine Art, das zu tun. Das große Verkaufsargument der Clean-Eating-Bewegung ist, dass sie gesünder essen und ihre Ernährungsweise besser zum Abnehmen sei, verglichen mit den konventionellen, "schmutzigen" Produkten. Doch bei der gleichen Ernährungsweise mit cleanen statt "schmutzigen" Lebensmitteln, gibt es keine wissenschaftlichen Beweise, dass man mehr Gewicht verlieren würde oder gesünder sein würde, meint Kashey.

"Ja, beim Clean Eating verliert man meist Gewicht. Doch nicht aus den Gründen, die die meisten vermuten. Wenn man Gewicht verliert, dann weil man kein Comfort Food mehr isst, sondern Grünzeug", meint Kashey. "Ob dieses Grünzeug nun bio oder frei von Gentechnik ist, hat nichts mit dem Gewichtsverlust zu tun." Der Grund: Pestizide, Gentechnik, Antibiotika und Chemikalien haben keinen Einfluss auf den Energiegehalt des Essens, meint der klinische Psychologe Michael Lowe, der an der Dexter University zu Gewichtskontrolle und Fettleibigkeit forscht.

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Regelmäßig weniger Kalorien zu essen, als man täglich verbrennt – auch Kaloriendefizit genannt –, ist die einzige Methode, die bewiesenermaßen dabei hilft, abzunehmen. "Schlussendlich geht es beim Abnehmen, Zunehmen oder dem Halten des Gewichts um aufgenommene und verbrannte Kalorien", meint Lowe. Das sieht auch die jahrelange Forschung zu dem Thema so. Lowe weiter: "Wenn man behauptet, dass ein Bio-Produkt oder Essen ohne Gentechnik dabei helfen soll, mehr Gewicht zu verlieren, dann könnte ich auch sagen: 'Sagen Sie mir, wie die Sterne heute stehen und unter welcher Sternenkonstellation Sie geboren sind, und ich sage Ihnen, ob sie abnehmen können oder nicht."

Dasselbe gilt für die Gesundheit. "Ob Bio wirklich gesünder ist? Dem Gefühl nach sollte es das sein, aber stimmt das auch wissenschaftlich? Das ist schwer zu sagen", meint Scott-Dixon. Wissenschaftler der Stanford University konnten nach einer eingehenden Untersuchung von 240 Studien zum Thema keine Belege finden, dass eine Verbindung zwischen Bio-Essen und einer besseren Gesundheit besteht.

Erst letzten Monat haben sich Wissenschaftler aus Großbritannien die Daten zum Thema anguckt und kamen zu dem Schluss, dass das letzte Wort hier noch nicht gesprochen ist. Sie räumten ein, dass es bei Bio-Produkten leichte Unterschiede im Nährstoffgehalt im Vergleich zu konventionellem Essen gibt: Bio-Milch enthält zum Beispiel mehr Omega-3-Fettsäuren, aber weniger Jod und Bio-Produkte haben tendenziell mehr Antioxidantien. Doch es gibt keine Beweise, dass diese Unterschiede auch die Gesundheit verbessern. "Wenn ein Produkt etwas mehr von einem Vitamin oder einem Mineralstoff hat, heißt das nicht zwingend, dass das auch einen konkreten Einfluss darauf hat, wie gut wir uns als Menschen weiterentwickeln können", meint Kashey.

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Oft weisen die Anhänger der Clean-Eating-Bewegung auf die potenziellen Gefahren für die Gesundheit durch Pestizide hin, wie sie in der konventionellen Landwirtschaft verwendet werden. Natürlich wissen wir nicht alles über die gesundheitlichen Langzeitfolgen von Pestiziden – und es gibt noch eindeutige Risiken, die von der Umweltschutzbehörde der Trump-Regierunggenauer geprüft und bewertet werden sollten. Aber wir wissen schon einiges und die Pestizide, die heute eingesetzt werden, müssen einen strengen Genehmigungsprozess durchlaufen, bevor sie in der Landwirtschaft verwendet werden können. Glyphosat, das wohl meisten benutzte Pestizid wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als wahrscheinlich krebserregend eingestuft. Doch nach weiteren Untersuchungen folgte eine gegenteilige Meinung eines anderen Instituts der WHO, nämlich dass es bei den Mengen Glyphosat, denen Menschen ausgesetzt sind, wahrscheinlich nicht gefährlich ist. 2016 hat die US-Umweltschutzbehörde noch einmal intensiv untersucht, welche Verbindungen zwischen Glyphosat und Krebs bestehen und kam zu dem Schluss: "Die derzeit verfügbaren Daten stützen nicht die Vermutung der Krebsentstehung durch Glyphosat."

Währenddessen gelten gentechnisch modifizierte Organismen nach jahrelanger Forschung nicht nur als sicher, sondern in vielen Fällen auch als nahrhafter als die gleichen Produkte ohne Gentechnik. Nicht nur ist noch niemand an gentechnisch veränderten Lebensmitteln gestorben, es ist auch so, dass gentechnisch veränderte Kulturpflanzen dabei helfen können, viele der 3,1 Millionen Kinder zu retten, die jedes Jahr an Mangelernährung sterben.

Wissenschaftlich klingende Zusatzstoffe – ein weiteres No-Go beim Clean Eating – werden streng reguliert und viele machen unser Essen sicher und verbessern den Nährstoffgehalt. Die Panikmache um diese Zusatzstoffe spielt dem sogenannten "naturalistischen Fehlschluss" in die Hände. So nennen Philosophen den Glauben, dass alles Natürliche moralisch gut ist. "Und jetzt kommt's: Der Tod ist natürlich, Wirbelstürme sind natürlich, die Pest ist etwas Natürliches. Die drei tödlichsten chemischen Verbindungen – Botulinumtoxin, Tetanustoxin und Diphterietoxin – sind alle natürlich", meint Kashey. "Wann sind wir auf diese Idee gekommen, dass die Natur so toll ist. Die Natur ist nicht gut, sie ist auch nicht schlecht. Sie ist einfach."

Es gibt natürlich viele gute Gründe, cleane Lebensmittel zu unterstützen: Sorge um das Tierwohl, Unterstützung regionaler Bauern. Aber diese Gründe haben nichts mit Gesundheit und Abnehmen zu tun – die beiden großen Verkaufsargumente des "Clean Eating".

So ein Trugschluss kann auch zu einem sogenannten "Halo-Effekt" führen – nur im Gesunheitskontext. Bei diesem Phänomen glauben Menschen, dass cleane Produkte, die eventuell besser für die Umwelt und die Erzeuger sind, damit automatisch auch besser für die Gesundheit oder zum Abnehmen sind. Das haben Wissenschaftler der Cornell University herausgefunden, als ihre Studienteilnehmer Bio-Produkte als kalorienärmer und nährstoffreicher als konventionelle Produkte mit gleichem Nährstoffprofil einschätzten. Bei Panera Bread gibt es zum Beispiel ein cleanes Panini mit Steak und hellem Cheddar. Das enthält 850 Kalorien – oder genauso viel wie ein Big Mac und eine mittlere Portion Pommes. Die meisten Menschen wissen, dass McDonald's vielleicht nicht gerade eine gute Wahl ist, wenn man abnehmen möchte – doch bei der cleanen Alternative von Panera denken das einige vielleicht nicht unbedingt.

Am Ende läuft es darauf hinaus, so Scott-Dixon, dass "Clean Eating" eine erfundene Ernährungsvorschrift ist, genauso wie "Grünflächen nicht betreten." "Wir möchten idealerweise erreichen, dass die Menschen eine internale Kontrollüberzeugung erreichen", meint sie. "Dabei muss man sich nicht an eine erdachte Liste aus Lebensmitteln halten, sondern ist selbst sein eigener Wissenschaftler und ist sich bewusst, was für einen selbst funktioniert und was nicht." Das kann natürlich auch einen Teller mit cleanem Lachs, Risotto und Brokkoli einschließen. Aber eben auch eine Schüssel mit Fruit-Loops und billiger Vollmilch.