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Das würden Wissenschaftler an der Politik ändern, wenn sie das Sagen hätten

"Wir sind hier, um für die Gesellschaft da zu sein. Wir tun das nicht für uns."
Bild: imago

Einfach mal auf sein Bauchgefühl zu hören, mag beim Mittagessen vielleicht eine gute Idee sein. Gefühlte Wahrheiten und "alternative Fakten" werden aber spätestens dann gefährlich, wenn sie politische Entscheidungen und Meinungen beeinflussen. Die AfD beweist das in ihrem Grundsatzprogramm. Sie halten den Klimawandel für eine Verschwörung, antworten auf „Atommüll?" mit "Ja, bitte" und wollen durch ein Abtreibungsverbot den "ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur" aufhalten.

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Mit rationalem und evidenzbasiertem Denken hat es die Trump-Regierung auch nicht so sehr, leugnet munter den Klimawandel und streicht Budgets für wichtige Forschungseinrichtungen. In Ungarn versucht Ministerpräsident Orbán unter großen Protesten die akademische Lehrfreiheit einzuschränken und in der Türkei werden Wissenschaftler und kritische Journalisten verhaftet. Wenn sich Regierungen und Gesellschaften nicht mehr darauf einigen können, was Realität ist und was nur ein "ungutes Gefühl", ist das eine beunruhigende Entwicklung.

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Das finden nicht zuletzt auch Wissenschaftler – und beschlossen, dagegen auf die Straße zu gehen. Am 22. April 2017 haben sich in Berlin und weltweit 600 weiteren Städten Wissenschaftler und wissenschaftsinteressierte Menschen zusammengefunden, um beim March for Science gegen "alternative Fakten", Verschwörungstheorien und für eine freie Wissenschaftsgesellschaft zu demonstrieren. In Berlin marschierten rund 11.000 Menschen von der Humboldt Universität zum Brandenburger Tor. Auf Plakaten mit Sprüchen wie "Habe deine eigene Meinung, aber nicht deine eigenen Fakten" oder "Science Unites – Ignorance Divides" äußerten sie ihren Unmut über die aktuelle Politik in den USA, aber auch in anderen Ländern der Welt wie Türkei und Ungarn.

Motherboard ist mitgelaufen und hat mit einigen von ihnen über die Politik in Deutschland und der Welt gesprochen. Wir wollten wissen, wie die Wissenschaft, die ja vor allem an den rationalen Verstand appelliert und sich nicht von Gefühlen wie Angst verleiten lässt, die Welt besser machen könnte. Also, liebe Wissenschaftler aus Berlin: Was würdet ihr an der Politik ändern, wenn ihr das Sagen hättet?

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Giulia Silberberger, Gründerin des Goldenen Aluhuts gegen Verschwörungstheorien

Alle Bilder: Lisa Ziegler / Motherboard

Was tut ihr gegen Faktenfeindlichkeit in der Welt?

Wir sind eine Aufklärungsorganisation gegen Rechtsextremismus, Pseudowissenschaft und alles, was den Geist verklebt. Die Wissenschaft hilft uns dabei, Verschwörungstheorien zu debunken. Wir denken, dass wir nur mit Wissen und Bildung im Kampf gegen Fake News und Verschwörungstheorien weiterkommen.

Wie kriegt man die Leute aus ihren Echokammern heraus?

Wir brauchen auf jeden Fall mehr Medienkompetenz. Wir müssen von unten anfangen und jungen Leuten kritisches Denken von Anfang an beibringen, damit die nächste Generation weiß, wie Fake News also solche zu erkennen sind und sich im Internet ordentlich zurechtzufinden kann.

Gibt es denn keine staatlichen Angebote, die über Verschwörungstheorien und Co. aufklären?

Es gibt tatsächlich kaum jemand, an den man sich wenden kann. Man kann sich an die Sektenberatung wenden, aber selbst da kommt schnell die Frage: Ähm ja, Chemtrails? Impfgegener? Ja schon mal gehört, aber kann ich nicht viel mit anfangen. Und für solche Fälle sind wir dann da.

Gert Gigerenzer – Direktor des Max Planck Institut für Bildungsforschung

Alle Bilder: Lisa Ziegler / Motherboard

Welchen Beitrag kann die Wissenschaft zur politischen Situation leisten?

Unser Motto heißt ja: „Wissen schafft das!" Eine Demokratie wird nicht funktionieren ohne Bürger, die mitdenken, die informiert mitdenken. Das hat man kürzlich bei vielen Wahlen gesehen.

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"In Großbritannien haben Menschen für den Brexit gestimmt, ohne überhaupt zu wissen, um was es geht"

Wir brauchen mehr Bürger, die sich nicht nur unterhalten lassen, sondern sich geistig anstrengen. Und ich glaube, das kann jeder von uns schaffen, indem man sich ein bisschen darauf besinnt, dass man eine Großhirnrinde hat, die etwas beschäftigt werden muss. In Großbritannien haben Menschen für den Brexit gestimmt, ohne überhaupt zu wissen, um was es geht. Es fehlte Aufklärung und der Mut, selber mitzureden und sich nicht nur von anderen beeinflussen zu lassen.

Sehen Sie solche Tendenzen auch in Deutschland?

In Deutschland haben wir im Vergleich zu den USA in den Medien viel mehr Präsenz von Wissenschaft. Aber die wissenschaftliche Bildung muss am besten in der Schule schon anfangen oder noch früher: spielerisch im Kindergarten. Die Bürger müssen lernen, kritisch mitzudenken und nicht einfach nur emotional von außen gesteuert zu werden.

Christian – Student Computer Engineering, Mitglied des größten Studierendenchors Berlin

Alle Bilder: Lisa Ziegler / Motherboard

Wie siehst du die Rolle sozialer Medien bei der Verbreitung von Unwahrheiten?

Dazu habe ich eine gespaltene Meinung. Es ist sehr praktisch, dass alle Menschen jetzt an den Diskussionen teilhaben können. Das war früher eher was Elitäres, wo eher die Gelehrten mitgemischt haben.

"Kritisch sein heißt nicht, partout alles abzulehnen, sondern sich mit einem Thema zu befassen, bevor man es unterschreibt"

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Und heutzutage hat jeder Mensch durch diese Plattformen eine Stimme, die gleichermaßen viel wert ist. Aber andererseits ist es auch ein bisschen gefährlich. Die Social Bots missbrauchen diese Freiheit. Es werden dadurch auch Menschen erreicht, die weniger kritisch sind und sich dann auf die "falsche Seite" ziehen lassen.

Wie könnte man das aufhalten?

Das ist schwierig, weil [die Social Bots] doch immer wieder Schlupflöcher finden, um nicht gegen das Grundgesetz zu verstoßen. Es ist schwierig, das Ganze zu unterbinden. Ich sage jetzt wahrscheinlich was, was schon hunderttausende Menschen von sich gegeben haben: Es kommt einfach so viel darauf an, wie die Leute ausgebildet werden. In den Schulen ist noch viel Luft nach oben. Ein kritischer Mensch zu sein heißt aber nicht, dass man alles partout ablehnen sollte, sondern dass man sich mit Themen befasst, bevor man die unterschreibt.

Hannah – Masterandin in Biologie an der Freien Universität Berlin

Alle Bilder: Lisa Ziegler / Motherboard

Wie siehst du als Amerikanerin die Wissenschaftskommunikation in Deutschland?

Die kann in Deutschland definitiv verbessert werden. Das sieht man zum Beispiel an der Anti-GMO-Bewegung hier, die komplett auf Unwahrheiten beruht. Viel davon stammt aus der Anfangszeit der Gentechnik, als viele Umweltorganisation, darunter auch Greenpeace, Angst davor bekamen. Leider sind sie auch im Licht neuer Informationen nicht von ihrer Meinung abgewichen. Greenpeace leistet großartige Arbeit, aber auf diesem bestimmten Gebiet haben sie einfach Lügen verbreitet.

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Hast du noch ein Beispiel?

Ja, Honigbienen. Man hört oft, dass Honigbienen am Aussterben sind und jeder am besten einen Bienenstock aufbauen sollte. Das stimmt nicht. Honigbienen sind nicht gefährdet. Es sind domestizierte Tiere, die in Nordamerika nicht einmal heimisch sind.

"Wir brauchen evidenzbasierte Politik und sollten Unwahrheiten auch nicht für einen guten Zweck verbreiten"

Es ist wahr, dass Imker heute Bienenstöcke häufiger ersetzen müssen, und wir Forschung dafür brauchen, das aufzuhalten. Aber das ist ein wirtschaftliches und kein ökologische Problem. Wilde Bienen sind dafür wirklich in Gefahr. Aber wenn du zu viel Geld in die Erhaltung von Honigbienen steckst, werden sie die wilden Bienen verdrängen.

Was kann man dagegen tun?

Die Politiker bei den Grünen informieren. Denn sie verbreiten leider auch diese Unwahrheiten. Alternative Fakten sind nicht nur ein Problem der Republikaner in den USA. Viele Menschen "auf unserer Seite" fallen dem auch zum Opfer. Wir brauchen evidenzbasierte Politik. Von Energie und Umwelt, über den Schutz von Bienen bis hin zu Landwirtschaft. Auch wenn es verlockend ist, Memes wie "Wenn Honigbienen aussterben, ist die Menschheit verloren" zu benutzen, wir sollten Unwahrheiten auch nicht für den guten Zweck verbreiten.

Karoline Holler – Doktorandin am Institut für Systembiologie in Berlin Buch, Biochemikerin

Alle Bilder: Lisa Ziegler / Motherboard

Wo kommt diese Wissenschaftsfeindlichkeit her?

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Teilweise aus der Gesellschaft selbst. Natürlich ist es leichter, wenn man das Offensichtliche einfach glauben und nicht lange nachdenken und verschiedene Studien zur Rate ziehen muss. Und ich glaube, das ist ein weltweiter Trend in Amerika, aber auch in Deutschland, Frankreich und in anderen Ländern, wo Wissenschaft und Meinungsfreiheit gerade extrem große Probleme haben. Wir haben auch Wissenschaftler aus der Türkei, aus Polen bei uns am Institut und es ist sehr erschreckend, was die erzählen von ihrer Heimat.

"Die ganzen Publikationen, die wir zustande bringen, befinden sich oft hinter Schranken, die man nur überwinden kann, wenn man zu einem Institut gehört oder zahlt"

Wie kann man diesen Trend umkehren?

Ich hoffe, dass wir, die Wissenschaftler, genug in den Medien vertreten sind und damit ein bisschen das Bewusstsein schärfen. Wir sind hier, um für die Gesellschaft da zu sein. Wir tun das nicht für uns. Ich glaube, dass Wissenschaft immer noch als realitätsfern angesehen wird. Wissenschaft muss daher besser kommuniziert werden, muss öffentlicher werden und transparenter.


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An welcher Stelle gibt es da noch Defizite?

Die ganzen Publikationen, die wir zustande bringen, befinden sich oft hinter Schranken, die man nur überwinden kann, wenn man zu einem Institut gehört oder die Artikel bezahlt, die man lesen will. Und das führt dazu, dass Wissenschaft nicht für alle zugänglich ist. Das ist ein Problem des Wissenschaftssystem selbst. Aber viele Journale öffnen sich schon. Es gibt Server, wo man öffentlich die Publikationen abrufen kann, noch bevor sie in einem Journal erscheinen. Es wird schon alles transparenter, aber das ist ein langsamer Prozess

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Vladislav Nachev, Biologe an der Humboldt-Universität zu Berlin, Mitorganisator des March for Science Berlin

Alle Bilder: Lisa Ziegler / Motherboard

Kann die Wissenschaft die Welt zu einem besseren Ort machen?

Ich glaube stark daran, dass Wissenschaftler eine Lösung finden können. Um die Welt zu verändern, muss man die Welt aber erst einmal verstehen.

"Man lernt als Wissenschaftler, dass die Welt so komplex ist, dass man Spezialisten braucht"

Die Wissenschaft selbst kann aber keine politischen Entscheidungen treffen, sondern nur sagen, wie man ein Ziel am besten erreicht. Sie kann nicht sagen ob wir mehr oder weniger Migranten in einer Gesellschaft haben wollen. Aber sie kann Lösungen für ein besseren Zusammenleben aufzeigen, wenn die Politik entscheidet, dass wir Migranten aufnehmen wollen. Man lernt als Wissenschaftler, dass die Welt so komplex ist, dass man die Spezialisten braucht.

Geschieht das schon?

Ja, es gibt schon Wissenschaftler, die genau das gerade analysieren. Allerdings besteht die Gefahr, dass die ersten Antworten, die man bekommt, nicht die richtigen sind. Man muss die Situation erst einmal verstehen bevor man richtig handeln kann. Und da haben wir als Wissenschaftler ja ein gewisses Problem, weil wir langsam, evidenzbasiert arbeiten und die Emotionen sehr stark und schnell sind. Das ist schon ein Problem, über das wir uns auch Gedanken machen müssen: Was machen wir, wenn Wissenschaft zu langsam ist?