Alle Fettnäpfchen, in die ich seit meiner Ankunft in Großbritannien getreten bin

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie ‘Neue Nachbarn’, in der junge Geflüchtete aus ganz Europa für VICE.com schreiben. Lies hier das Editorial dazu.


Mohammed ist 19 Jahre alt und lebt in London.

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Als ich in Somalia lebte, bin ich oft nach der Schule zu einem Freund nach Hause gegangen und habe amerikanische Filme geschaut. Wo ich wohnte, gab es kein Kino und er war das einzige Kind, dessen Eltern einen Fernseher hatten. Da ich damals kein Englisch sprach, verstand ich die Handlung nicht. Ich erinnere mich auch an keine Filmtitel mehr. Stattdessen habe ich mich auf die Bewegungen und die Reaktionen der Schauspieler konzentriert. Ich erinnere mich jedoch daran, dass die meisten Horrorfilme voller Morde und falscher Leichen waren. Angst hatte ich aber nie, denn mein wirkliches Leben war beängstigend genug.

Meine Stadt hatte auch kein Theater. Ich glaube, es gibt nur eins in der Hauptstadt Mogadischu, aber ich war noch nie da. Diese Filme waren also die einzige Schauspielerei gewesen, die ich gesehen hatte, bis ich nach Großbritannien kam. Ich war erst zwei Wochen im Land, als meine Betreuerin Kate mich für einen Schauspielkurs anmeldete, der in dem Haus stattfand, in dem ich mit ein paar anderen jungen Flüchtlingen zusammenwohne. Kate ließ mir eigentlich keine Wahl. Sie sagte, der Kurs sei obligatorisch. Später erfuhr ich, dass das gar nicht stimmte – Kate wollte nur, dass ich mich mit den anderen Jungs im Haus anfreunde.


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Die ersten Schauspielversuche waren ziemlich schwierig. Ich sprach die Sprache kaum, was es schwer machte, Anweisungen zu befolgen, außerdem war ich verlegen und schüchtern. Mit der Zeit änderte sich das allerdings und mein Selbstvertrauen begann zu wachsen.

Nach drei Monaten Schauspielunterricht hatten wir ein Theaterstück namens “Dear Home Office” zusammen, das sich um unsere Erfahrungen als unbegleitete Kinder und Jugendliche in Großbritannien drehte. Unser erster Auftritt war im Southbank Centre in London. Ich erinnere mich daran, wie ich hinter der Bühne stand und hören konnte, wie sich das Publikum setzte. Ich war so nervös. Als es aber losging, bin ich sofort auf die Bühne gelaufen, wie auf Autopilot. Natürlich habe ich meinen Text ein paar Mal durcheinandergebracht – das mache ich noch immer. Aber ich glaube, mit jeder Aufführung werde ich besser.

Mohamed | Foto: Elham Ehsa

Ende des Sommers wurden wir dazu eingeladen, am Edinburgh Fringe Festival, dem größten Kulturfestival der Welt, teilzunehmen. Um von London nach Edinburgh zu kommen, mussten wir elf Stunden Bus fahren. Da mir gesagt wurde, dass das eine Riesensache sei, bin ich in London an der Bushaltestelle in Anzug und Fliege aufgetaucht – und wurde während der ganzen Fahrt ausgelacht. Woher sollte ich das wissen? Ich wollte doch nur für die Schotten schick aussehen!

Aber Witz beiseite: Das Fringe Festival war eine unglaubliche Erfahrung. Für uns genauso wie für unser Publikum, denke ich. Jeder schien wirklich interessiert daran, unsere Geschichte zu hören. Einer meiner Lieblingsmomente war allerdings, als wir zu einem traditionellen schottischen Tanz gingen. Einer meiner Freunde und Hauptdarsteller stammt aus Afghanistan und machte bei dem Tanz plötzlich Musik aus seinem Land an und begann, einen traditionellen afghanischen Tanz aufzuführen. Jeder im Raum hat mitgemacht, es war unglaublich.

Mo und Kate führen die Primark-Szene Bühne auf | Foto: Liam Duffy

Seit ich in Großbritannien bin, bin ich in ein paar lustige Fettnäpfchen getreten. Einige von ihnen spiele ich in “Dear Home Office” nach. Eine Szene im Stück handelt von einem Primark-Besuch. Damals war ich gestresst, weil ich zu viele Sachen kaufen musste: Hosen, Hemden – Jungs-Klamotten halt. In meiner Panik griff ich eine riesige Jeans aus dem Stapel. Kate meinte, ich solle sie zuerst anprobieren, und so fing ich mitten im Laden an, meine Hosen auszuziehen. Ich war noch nie zuvor in einem großen Einkaufszentrum wie Primark gewesen, woher sollte ich also die Regeln kennen? Es war mir unglaublich peinlich, weil ich Kate damals noch nicht einmal richtig kannte. In der Situation fühlte ich mich sehr verwundbar. Wenn ich die Szene aber heute auf der Bühne aufführe, lacht das Publikum mit mir und ich fühle mich stark.

Ich freue mich, dass ich als Flüchtling dem Publikum zeigen kann, dass wir Menschen sind.

Es ist gut für mich, mich daran zu erinnern, was ich bis jetzt geschafft habe und wie weit ich gekommen bin. Es gibt viele Menschen auf der Welt und manche verstehen vielleicht nicht wirklich, was mit Flüchtlingen passiert. Ich denke, dass es meine Aufgabe ist, ihnen das zu erzählen. Ich freue mich, dass ich als Flüchtling dem Publik zeigen kann, dass wir Menschen sind. Wir verdienen Rechte. Wir brauchen Freundinnen und Freunde wie jeder andere – eine Ausbildung, gute Arbeitsplätze und eine Zukunft. Niemand ist illegal.

Ich weiß nicht, was mit mir in der Zukunft passieren wird. Als ich in Somalia gelebt habe, wollte ich Sportjournalist werden. Jetzt will ich auch Schauspieler werden.

Unterschreibe hier die Petition des UNHCR, die Regierungen dazu aufruft, eine sichere Zukunft für alle Flüchtlinge zu garantieren.

Wenn ihr die künstlerische Arbeit mit Geflüchteten unterstützen wollt, könnt ihr euch unter anderem an die Gruppe Phosphoros Theatre wenden.

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