Dieser Artikel ist Teil unserer Serie ‘Neue Nachbarn’, in der junge Geflüchtete aus ganz Europa für VICE.com schreiben. Lies hier das Editorial dazu.
Mia Z.* ist 18 Jahre alt und stammt aus Syrien. Momentan lebt sie in Barcelona.
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Der Tag, der mein ganzes Leben veränderte, war irgendein Montag im Jahr 2011. Ich war 12 Jahre alt und gerade mit einer Freundin auf dem Weg zur Schule, als die Bomben fielen. Meine Freundin und ich rannten um unser Leben, ich verlor sie aus den Augen und rannte zurück zu meinem Haus. Ich stand unter Schock und ich war allein – meine Mutter war arbeiten und meine Schwestern in der Uni. Ich drehte durch und wollte einfach nur alles vergessen, was ich gerade gesehen hatte. In meiner Panik kam ich auf die Idee, ein Buch zu lesen.
Ich suchte online ein bisschen herum und stieß schließlich auf Unbeugsam. Damals war ich eigentlich keine große Leseratte, aber sobald ich das Buch angefangen hatte, beruhigte ich mich etwas. Die Stimmen, die Schreie und die Sirenen traten in den Hintergrund. Ich konnte mich völlig darauf konzentrieren, und ich liebte es. Lesen wurde meine Methode, dem ganzen Horror um mich herum zu entkommen.
Was würden wir tun, um zu überleben?
Unbeugsam ist die Biographie von Louis Zamperini, der als Bombenschütze im Zweiten Weltkrieg einen Flugzeugabsturz in den Pazifik überlebte. Er trieb danach wochenlang auf dem Meer und fing in dieser Zeit Vögel und Fische, um zu überleben. Beim Lesen dachte ich an alle die Menschen in meinem Umfeld, die Probleme hatten, Essen zu finden. Vor allem musste ich an meinen Cousin denken, der Blättern von Bäumen und Insekten aß, als es keine Nahrungsmittel mehr in seiner Gegend gab. Ich dachte an meine Mutter und meine Schwestern. Würden wir eines Tages vielleicht nichts zu essen haben? Was würden wir tun, um zu überleben?
Als Zamperini nach 47 Tagen auf dem Meer endlich wieder Land erreichte, wurde er gefangen genommen und in ein japanisches Gefängnis gesteckt. In seinen zwei Jahren Gefangenschaft schlug und folterte man ihn ohne Erbarmen. Ich musste sofort an die Gefangenen in Syrien denken, die auch geschlagen und gefoltert werden. Viele Freunde und Mitglieder meiner Familie saßen im Gefängnis. Ein paar von ihnen waren entkommen, andere waren in der Haft gestorben. Zum Glück hatte Zamperinis Geschichte ein gutes Ende. Seine Seite gewann den Krieg und er heiratete seine Freundin. Bei jedem Buch, das ich lese, kann ich das Happy End kaum erwarten.
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Die ganze Zeit, die ich im Krieg lebte, konnte ich meine Finger nicht von Büchern lassen. Ich las Liebe in Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez – die Geschichte von Fermina und Florentino, die sich in jungen Jahren verlieben, aber erst im hohen Alter heiraten. Ich erinnere mich noch genau an die Stelle, in der Ferminas Vater ihr verbietet, ihren geliebten Florentino weiter zu sehen und mit ihr in eine andere Stadt zieht. Sie wird von ihrem Zuhause entwurzelt wie ein Baum, der gefällt und als Holz transportiert wird. So hat es sich auch angefühlt, als sie mich dazu zwangen, Syrien zu verlassen.
Es erinnerte mich auch an die Zeit in Syrien, als ich aufhörte mit meiner besten Freundin zu reden. Sie und ihre Familie unterstützen den Präsidenten, meine war gegen ihn. Wir haben uns deswegen viel gestritten und am Ende dann gar nicht mehr miteinander gesprochen.
Ich habe das Buch ehrlich gesagt nie zu Ende gelesen. Ich konnte die Vorstellung nicht aushalten, dass sich zwei Menschen lieben und einander dann ohne guten Grund verlassen.
Sie haben nicht die Macht, genau wie wir keine Macht hatten.
Auch in Barcelona hörte ich nicht auf zu zu lesen, allerdings nicht nur Bücher. Irgendwo im Internet hatte ich das Drehbuch von Colonia Dignidad, einem Film mit Emma Watson und Daniel Brüh gefunden. An einer Stelle fängt die Polizei an, auf Demonstranten einzuschlagen und auf sie zu schießen. Es erinnerte mich an den Beginn der Aufstände in Syrien, als die Polizei Demonstranten getötet und festgenommen hat. In dem Buch nehmen sie Daniel vor allen seinen Freunden fest – und niemand kann etwas dagegen tun. Sie haben nicht die Macht, genau wie wir keine Macht hatten.
Von meinem Fenster aus sah ich, wie die Polizei Menschen festnahm, und ich konnte nichts dagegen tun. Als man sie in die Polizeiwagen steckte, kannte ich ihr Ziel. Wir sind mit Furcht aufgewachsen – Furcht davor, unsere Meinung zu sagen, Furcht vor allem. Wir konnten den Präsidenten nicht abwählen, wir konnten nichts Schlechtes über ihn sagen.
Girl at War von Sara Novic war mein erstes Buch, in dem es direkt um Krieg ging. Es handelt von einem Mädchen in Kroatien, Ana Jurić. Sie zehn Jahre ist alt, als der jugoslawische Bürgerkrieg ausbricht. In ihren Schilderungen der furchtbaren Ereignisse, die sie miterlebt hat, finde ich mich wieder – und in dem, was sie tat, um zu überleben und nicht verrückt zu werden. Sie schreibt: “Das Leben in Kroatien während des Kriegs bedeutete Kontrollverlust. Der Krieg beherrschte jeden Gedanken und jede Bewegung, selbst im Schlaf.”
Manchmal fühlte ich mich wie eine Schauspielerin, wenn ich Menschen sagte, dass alles OK sei.
Auch die Menschen in Syrien verloren die Kontrolle. Ana war zehn, als der Krieg ausbrach – ich war elf, als meiner losging. Sie floh in die USA und musste dort ein normales Leben beginnen, sich normal unter Menschen verhalten – nach allem, was sie gesehen hatte. Ich musste das auch – und es war das Schwierigste, was ich bisher in meinem Leben tun musste. Manchmal fühlte ich mich wie eine Schauspielerin, wenn ich Menschen sagte, dass alles OK sei: “Es ist OK, ich denke an nichts, nur an meine Hausaufgaben.” Ich verhalte mich normal, wenn ich im Unterricht sitze und ein Flugzeug höre. Ich tue so, als würde ich unter meinem Pult nicht zittern.
Ich habe große Angst vor Flugzeugen. Ich erinnere mich an die Flugzeuge, die über Homs geflogen sind. Sie warfen Bomben auf Häuser und erschossen Menschen. Ich habe jeden Tag Angst, wenn ich die Polizei auf den Straßen Barcelonas sehe. Ich erinnere mich daran, wie Polizisten meine Nachbarn zusammengeschlagen haben. Ich erinnere mich an die Stimmen und die Geräusche in der Schule, zu Hause, in den Straßen, einfach überall. Die Gewissheit, dass es mir genau wie Ana geht, lässt nichts davon verschwinden. Aber es hilft zu wissen, dass ich nicht allein bin.
Illustration von Ana Jaks
* Name von der Redaktion geändert.
Unterschreibe hier die Petition des UNHCR, die Regierungen dazu aufruft, eine sichere Zukunft für alle Flüchtlinge zu garantieren.
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