Der Mann, der Brasiliens abgefahrene Hauptstadt entwarf, ist gestern, zehn Tage vor seinem 105. Geburtstag, verstorben. Vor einiger Zeit trafen wir uns mit ihm, der Koryphäe der Moderne, um über sein langes und schaffensreiches Leben zu sprechen.
Oscar Niemeyer steht auf der unvorstellbar kurzen Liste von Leuten, die eine komplette Stadt entworfen und gebaut haben. Eine Hauptstadt von Welt. Klar, Haussmann hat Paris zur Postkartenkulisse gemacht und Wren hat nach dem großen Feuer London wieder aufgebaut (und zwar diesmal nicht aus Holz—Schlauberger!). Aber die beiden hatten zumindest keinen Mangel an Vorbildern, auf denen ihre Arbeit basieren konnte, wenn man bedenkt, dass diese Städte bereits vorher funktionierende Metropolen waren. Niemeyer dagegen hat ein leeres Stück brasilianisches Land genommen und innerhalb von vier Jahren (mit Hilfe von Lucio Costa) eine hyperfunktionelle Hauptstadt auf die Erdoberfläche geklatscht. Sie heißt Brasília und hat die Form eines Flugzeugs oder eines Schmetterlings oder einer Frau (obwohl Niemeyer steif und fest behauptet, dass es keine Frau ist).
Das war vor 50 Jahren und seitdem arbeitet Niemeyer nonstop. Er ist 101 Jahre alt und entwirft täglich Gebäude. Er hat ein paar Jahre lang den Vorsitz der Brasilianischen Kommunistischen Partei geführt, im zarten Alter von 98 geheiratet und sich die letzten paar Jahre in Schwierigkeiten verstrickt, als er an Brasília ein paar Änderungen vornehmen wollte.
Ein Jahrhundert Lebenserfahrung hat bei ihm vieles in Perspektive gerückt, im Sinne von „Architektur gibt deinem Leben auch keinen Sinn“. Und wenn ein Typ, der eine ganze Stadt aus dem Nichts aufgebaut hat, dir sagt, dass niemand in diesem Leben etwas zählt, dann fängst du an zu fürchten, dass keine deiner Leistungen jemals für irgendjemanden wichtig sein wird. Niemals..
Vice: Fangen wir mit einer einfachen Frage an. Warum hast du angefangen, dich für Architektur zu interessieren?
Oscar Niemeyer: Ich glaube, das kam vom Zeichnen. Ich weiß noch, als ich zehn war, malte ich gerne mit meinen Fingern in der Luft herum. Meine Mutter fragte: „Junge, was machst du da?“ Ich sagte: „Ich zeichne.“ Ich konnte mir die Bilder in der Luft vorstellen und korrigieren. Jetzt denke ich anders. In meinem Kopf ist Architektur. Ich kann, ohne einen Stift in die Hand zu nehmen, ein Projekt machen. Ich kann mir den Ort ausmalen und das Projekt, das ich machen will. Ich denke an alle Lösungen.
Und wie bist du dazu gekommen, Brasília zu bauen?
President Juscelino Kubitschek, der mich schon gebeten hatte, die Pampulha-Kirche in Belo Horizonte zu machen, teilte mich für Brasília ein. Ich weiß noch, wie Juscelino sich entschloss, Brasília zu bauen. Er kam in mein Büro und sagte: „Oscar, wir haben Pampulha gemacht und jetzt bauen wir die neue Hauptstadt.“ So fing das Brasília-Abenteuer an.
Die ganze Stadt wurde sehr schnell gebaut.
Ich wusste, wir hatten nicht viel Zeit, aber deswegen habe ich trotzdem keine simple Architektur eingesetzt. Beim Alvorada Palace zum Beispiel, habe ich ein bogenförmiges Dach mit bogenförmigen Trägern gemacht—solche Träger hat noch nie jemand gemacht.
Du sagst, deine Architektur strebt nach neuen Formen. Was meinst du damit?
Wir haben uns nicht an Bauhaus und seiner rein funktionellen Architektur orientiert. Architektur muss schön sein. Wenn sie ein Meisterstück sein soll, muss sie inspirieren. Ich arbeite viel. Ich habe viel Arbeit in Europa und hier, aber ich versuche immer, Schönheit und Begeisterung zu schaffen.
Und die Bauhaus-Philosophie war dir zu kalt?
Architektur kann nicht nur, so wie es das Bauhaus wollte, eine Wohnmaschine sein.
Architektur muss aus dem Nichts geboren werden. Ein sehr intelligenter Architekt hat mir mal erzählt: „Es gibt keine moderne oder alte Architektur, es gibt nur gute oder schlechte.“
Ich sehe Architektur jetzt nicht als etwas an, das die Welt retten wird, aber ich denke, ein Architekt muss belesen und informiert sein. Zum Beispiel hatten wir hier in meinem Büro fünf Jahre lang einen Lehrer, der kam, um uns von Philosophie und dem Kosmos zu erzählen. Es ist so gut, von vielen Dingen zu wissen.
Das ist eine ziemlich unkonventionelle Art, ein Architektur-Büro zu leiten.
Ich interessiere mich fürs Leben. Ich denke, das Leben ist wichtiger als die Architektur. Ich glaube, was wirklich wichtig ist, ist Solidarität. Ich weiß noch, wie mich ein Journalist fragte: „Oscar, was ist dein Lieblingswort?“ Ich sagte: „Solidarität.“
Aber Architektur ist nicht gerade dein Lieblingsgesprächsthema?
Wenn ich über Architektur rede, habe ich das Gefühl, ich muss das Thema wechseln. Ich interessiere mich für die Probleme des Lebens und der Menschen.
Dann lass uns das Thema wechseln. Lass uns über Frauen reden.
Frauen sind ein großartiges Thema. Frauen sind elementar. Einmal kam ein Journalist her und fragte: „Oscar, was ist das Leben?“ Ich sagte, das Leben ist eine Frau an deiner Seite. Und es ist wahr. Ein lieber Freund, Darcy Ribeiro, ein wichtiger brasilianischer Soziologe, sagte, dass Frauen elementar sind.
Niemeyer hatte, wie es typisch für ihn ist, keine Lust, seine legendäre Verehrung für die weibliche Form zu diskutieren—oder den Goldpenis, den er angeblich mal für seine Frau gekauft haben soll. Er war aber extrem großzügig und hat uns diese Zeichnungen aus seinem Privatarchiv zur Verfügung gestellt. Ich habe immer gehört, dass die Kurven in der Architektur auf den Kurven der Frauen basieren.
Nein. Wenn ich eine Kuppel mit freiem Platz im Inneren wäre—extrem viel Platz—dann würde ich dafür die bestaussehendste Form wollen. Manchmal ist das zufällig der Körper einer Frau, aber das ist nicht unsere Absicht. Wir wollen eine pure Form, die an unsere Kalkulationen angelehnt ist und das Projekt auf eine andere Ebene hebt.
Ich dachte …
Nein. Da gibt es nichts, was mit Frauen zu tun hat. Die Form kommt aus dem Nichts.
Zeichnest du immer noch?
Oh ja, unheimlich viel.
Was zeichnest du so?
[
Er zeigt uns eine Zeichnung.] Na ja, die hier zum Beispiel ist von einem Theater in Buenos Aires. Die Form ist ganz anders. Du hast noch nie so eine Form gesehen. Sie hat eine tiefe Abdeckung auf korrespondierender Höhe zum Publikum und etwas höher eine Kuppel, die mit der Bühne korrespondiert. Ich kann mit aller Bescheidenheit sagen, dass ich so etwas noch nie vorher gesehen habe.
Wie siehst du das aktuelle kulturelle Klima in Brasilien?
Brasilien ist wichtig. Brasilien wächst. Wir befinden uns an einem Zeitpunkt, an dem es Hoffnung gibt. Es geht uns gut—Brasilien verteidigt sich selbst, organisiert sich selbst, der Präsident ist ein Freund der Menschen, er war mal ein Arbeiter und er reagiert auf externe Einmischungen, um unsere Souveränität zu bewahren.
Was sind ein paar andere deiner aktuellen Projekte?
Na ja, da gibt es diesen Platz, den ich gerne in Brasília bauen will, weil jede Hauptstadt einen monumentalen, rechteckigen Platz hat. In diesem dreieckigen Monument sind die ersten beiden Stockwerke eine permanente Ausstellung über den Fortschritt des Landes. Das Dreieck ändert sich nach oben hin immer weiter durch, bis es zum 100 Meter hohen Monument wird und dann gibt es da noch dieses kleinere mit rechteckigen Enden.
Und dieses Projekt wird kontrovers diskutiert?
Es gab etwas Aufruhr darum, ob es tatsächlich das Stadtbild von Brasiíia verändert. Aber so ist es nicht. Städte verändern sich immer. In Frankreich hat sich viel geändert, in Spanien sind Städte aufs Meer expandiert, weil es die natürlich Lösung war. Wenn die brasilianischen Städte statisch wären, dann hätten wir niemals diese Allee von Major Passos bekommen, die die Stadt in zwei Hälften teilt. Veränderungen passieren immer. Aber ein paar Leute haben angefangen zu verlangen, dass die Stadt „geschützt“ wird, was meiner Meinung nach bescheuert ist. Man kann die Stadt nicht schützen. Man bekommt immer Ideen, die besser sind als vorher und die müssen integriert werden. Als Scherz erinnere ich die Leute immer daran, dass, wenn sie wirklich denken, dass sich nichts ändern kann, sie nicht an die Zukunft denken können, weil die Zukunft von Natur aus für Veränderung und Anpassung steht. Wenn die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel über zwei Meter steigt, wird sich jede Küstenstadt anpassen müssen. Das ist etwas, was aus der Natur kommt und alles verändert. Und das passiert nicht in 100 Jahren—das kann in den nächsten 20, 30 Jahren passieren. Das Eis könnte in zehn Jahren schmelzen. Die Natur ist unberechenbar.

Das ist ein ernstes Problem.
Heutzutage müssen sich Architektur und Stadtplanerei den Problemen stellen, die die Evolution des Planeten mit sich bringt. Wenn der Meeresspiegel stark steigt, wird jedes Gebäude, jedes Dach zu einer Fläche werden, auf der Gras und Pflanzen angebaut werden. Die Natur wird die Städte und die Architektur ändern. Ein Architekt muss sich mit allem befassen, das jetzt und in Zukunft passiert.
Aber sind gesellschaftliche Problematiken auch wichtig für die Architektur?
Der Architekt muss wollen, dass die Welt ein besserer Ort wird, damit wir die Armut beenden können. Hier in Brasilien gibt es immer noch einen Kampf zwischen den Klassen. Also ist es wichtig, dass ein Architekt nicht nur an die Architektur denkt, sondern auch, wie er die Probleme der Welt lösen kann. Wenn die Welt ein besserer Ort wird, was wird dann passieren? Die Häuser werden einfacher werden. Wir werden keine Ghettos und Paläste mehr haben. Theater, Museen und Stadien werden größer, damit alle Spaß dran haben können. Jetzt verstehen arme Leute die Architektur nicht. Sie sehen sie aus der Entfernung. Mit meiner Architektur denken sie zumindest, dass sie hübsch ist, weil es jedes Mal eine andere Überraschung gibt.
Also ist Architektur auch politisch.
Architektur muss immer politisch sein. Einer muss dem anderen helfen—Solidarität. Der Rest ist nichts. Wenn du den Kosmos ankuckst, bist du so klein und unwichtig. Wir müssen einfacher sein und nicht denken, dass wir wichtig sind. Niemand ist wichtig.
Magst du Fußball?
Klar. Als ich zehn war, wurde ich für einen Spieler aus dem Junior-Team eingewechselt, als der vermisst wurde. Ich war zehn und auf diesem Fußballfeld, stell dir das mal vor. Mein Großvater spielte auch, für Fluminense. Ich spielte früher Fußball auf der Straße und am Strand. Wir sind morgens früh an den Strand gegangen. Wir haben jeden Sommer ein Haus an der Copacabana gemietet. Einmal haben wir ein Haus gemietet, das genau an dieser Stelle steht. Ich weiß noch, wie wir morgens um sechs zum Strand gingen, um die Ankunft der neuen Boote und wie die Leute am Strand Fisch kauften zu beobachten. Der Himmel war noch rot und die Boote kamen gerade an. Man sah nur die Umrisse … Wir waren Strandkinder und Fußball war unser Spaß. Das ist es immer noch und wir sind echt gut darin. Wenn Brasilianer eins können, dann ist es Fußballspielen.
Wie sieht ein normaler Tag bei dir aus?
Ich komme um zehn hierher. Normalerweise kommt die Presse hierher, die nationale und internationale und ich empfange sie. Das sind Leute wie du. Ich spreche über alles, was mich interessiert und wiederhole immer, dass Architektur nicht alles ist, dass das Leben das ist, was wichtig ist und dass wir anständig sein sollen und brüderlich und so was. Nachmittags kommen meine Freunde vorbei, wir unterhalten uns, schwatzen und haben Spaß. Abends gehe ich nach Hause. Das ist mein Privatleben.
Und du hast vor, so lange zu arbeiten, wie du kannst, stimmt’s?
So lange ich kann, werde ich das so machen. Das ist, was ich den ganzen Tag lang mache. Ich denke über Architektur und Politik nach und treffe meine Freunde, die mich hier besuchen, um das alles mit ihnen zu diskutieren. Wir wollen jungen Leuten sagen, dass das Leben wichtiger ist als Architektur, wichtiger als alles andere. Das Leben besteht daraus zu wissen, wie man sich verhält, wie man gerecht ist und Freude daran hat, nett zu anderen zu sein. Das war’s. Aber das Leben ist nicht wichtig. Ich will jetzt nicht sagen, dass es scheiße ist. Aber es ist das, was das Schicksal einem in den Schoß wirft.
INTERVIEW: SANTIAGO FERNANDEZ-STELLEY FOTO: ANDRÉ VIEIRA
ZEICHNUNGEN: OSCAR NIEMEYER ÜBERSETZUNG: DANIELLA DINIZ, DANILO MATZ