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Alle finden TikTok albern, aber es macht das Internet zu einem besseren Ort

Du verstehst nicht, warum Millionen Leute TikTok feiern? Der App gelingt etwas, an dem Instagram, Snapchat und YouTube scheitern.
Screenshots von TikTok-Nutzerinnen und -Nutzern
Bild: Screenshots | TikTok | maahi Agrawal | Kendra | Alois & Elisa

"So schützen Sie Ihre Tochter vor der TikTok-Falle", schreibt die Welt. Hinter der App verberge sich eine unheimliche Parallelwelt, heißt es weiter, aus Erpressung, sexualisierter Gewalt und Morddrohungen. Auch andere Ratgeber wie mobilsicher.de warnen vor übergriffen TikTok-Nutzern. Und nein, TikTok ist nicht das neueste Darknet-Forum für Gewalt-Fetischisten, sondern die neue Social-Media-App, die gerade Snapchat, Instagram und YouTube Konkurrenz macht.

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Die App des chinesischen Konzerns Bytedance ist im August 2018 mit der beliebten Lipsync-App Musical.ly verschmolzen. Laut dem Magazin Digiday nutzen bereits über vier Millionen Deutsche die App. Und es trägt sicher auch zum Coolness-Faktor von TikTok bei, dass inzwischen sogar Angela Merkel Instagram nutzt, um dort sehr wichtige Ansprachen zum Thema Ernährungssicherheit zu verbreiten.

TikTok bietet einen unendlichen Newsfeed mit 15-sekündigen Videos. Mal siehst du eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn tanzen; mal einen Bauarbeiter auf der Autobahn, der in Slowmotion einen Roundhouse-Kick präsentiert; mal ein Schimpansen-Baby, das sich in einem Spülbecken das Gesicht wäscht und die Nasenlöcher sauber popelt. Wer sich auf TikTok einlässt, erkennt schnell: Das soziale Netzwerk ist auch ein Ort, an dem sich Nutzerinnen und Nutzer gegenseitig unterstützen – und wo das Internet endlich wieder chaotisch ist.

Bei TikTok kann jeder sofort gesehen werden

Auf TikTok unterwegs zu sein, fühlt sich so an, wie ein Video des TikTok-Nutzers Da Yang. Der verschlingt in nur zehn Sekunden einen Teller Nudeln und zwei gekochte Eier. Nach dem Schlucken noch schnell mit einer Serviette die Soße von den Lippen gewischt und mit einem Schluck Cola nachgespült – fertig ist das Video, das Zehntausenden Zuschauerinnen bereits im Newsfeed ausgespielt wurde. Während du dich durch den TikTok-Feed scrollst, verschlingst du die 15-Sekunden-Clips wie Da Yang seine Nudeln.

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Hast du mal sehr gute oder sehr schlechte Erfahrungen mit TikTok gemacht? Wir bei Motherboard werden weiter über TikTok berichten und freuen uns, von dir zu hören. Schreibe uns an redaktion(at)motherboard.tv

Der Newsfeed von TikTok funktioniert dabei radikal anders als die aller andren großen sozialen Netzwerke. Bei YouTube erscheinen auf der Trendseite und bei den Empfehlungen vor allem Videos von größeren Kanälen und Influencerinnen. Bei Instagram, Twitter und Reddit siehst du vor allem Posts von Leuten, die du abonniert hast. Selten kommen wir bei diesen sozialen Medien raus aus dem eigenen Dunstkreis und dem Mainstream. Bei TikTok dagegen werden dir ständig auch kleine Nutzer in den Newsfeed gespült, und das über Länder- und Sprachgrenzen hinweg. Jeder kann mitmachen, jeder kann sofort gesehen werden.

Zum Beispiel Dedrick Green. Mit der Linken klammert er sich fest an seine Stehhilfe, mit der Rechten fasst er sich sentimental an die Brust, während er zu Mktos Classic die Lippen bewegt und dabei seine Hüfte kreisen lässt. Dann deutet er auf seinen lächelnden Mund und singt: "I just wanna make you smile". Bei mindestens 4.500 TikTok-Nutzerinnen scheint das funktioniert zu haben, so viele haben das Video inzwischen gelikt. Und das, obwohl Greens Performance im Vergleich zu dem Nutzer, der im Splitscreen neben ihm tanzt, eher schlicht scheint.

Dick, behindert, ungeschickt? TikTok gibt jedem die große Bühne

Der 21-Jährige macht das, was alle auf TikTok machen: Er tanzt und hat Spaß. Er macht absolut nichts Besonderes und genau dafür werden seine Videos gefeiert. Über 800.000 Fans und zwölf Millionen Likes hat Green damit inzwischen gesammelt. In den Kommentarspalten unter seinen Videos häufen sich die Herzchen-Emojis. "Ich liebe es, wie du nicht der Beste bist in dem, was du tust", schreibt eine Nutzerin. Und ein Harcore-Fan, der seinem Account sogar das Handle @dedrick_the_best gegeben hat, fordert: "Du solltest ein Meet and Greet veranstalten".

Auf anderen Social-Media-Plattformen müsstest du nach diesen Videos erstmal suchen. Bei TikTok stolperst du darüber. Wohl kein Newsfeed einer großen Social-Media-App ist von Anfang an so divers. Egal ob sie eine Behinderung haben, sich keinem binären Geschlecht zugeordnet fühlen, in Gebärdensprache rappen oder einfach nur gerne als Wolf verkleidet an der Bushaltestelle tanzen: TikTok motiviert Nutzerinnen und Nutzer zum Mitmachen – ohne groß vorher darüber nachzudenken. Viele Clips im Newsfeed sind derart amateurhaft, dass es keine große Hemmschwelle gibt.

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Klar, auf TikTok gibt es auch Hater und Trolle. Die TikTok-Nutzerin Kendra hat sie kennengelernt. Angespannt schaut sie in einem ihrer Clips in die Kamera. "Ein paar kurze Antworten auf die Beleidigungen, die ich hier auf TikTok bekommen habe", spricht eine Stimme, und Kendra klatscht angriffslustig in die Hände. Die Audiospur des Videos stammt von einer anderen Nutzerin, Bonnie Jean. Kendra hat auf TikTok ihr eigenes Remake veröffentlicht. "Du bist fett!", schallt Jeans Stimme gehässig aus dem Off, "Männer finden fette Frauen nicht attraktiv".

Hate macht auf TikTok wenig Spaß

Kendra lässt sich die Beleidigung nicht gefallen, schreitet bedrohlich auf die Kamera zu, hebt die Hand wie zur Ohrfeige und streckt dabei ihren Ehering in die Linse. Ein Nutzer schreibt in die Kommentarspalte: "Bestimmt bist du zu Walmart und hast dir dort selbst einen Ring gekauft." Aber auf TikTok sind solche Kommentare eher wie Gepöbel aus der letzten Reihe.

Denn die Menüs von TikTok sind so gestaltet, dass es nicht besonders einladend ist, die Kommentarspalte genau zu durchforsten. Der wichtigste Support für TikTok-Nutzende kommt aus einer anderen Quelle: Denn neben Kendra haben rund 4.500 weitere Leute eigene Versionen des Videos gedreht, stets mit derselben Audiospur. Alle positionieren sich in diesen Videos gegen Fatshaming.

Auf diese Weise macht es TikTok Hatern eher schwer, mit ihren Aussagen die Stimmung zu vermiesen – während es dagegen sehr viel Spaß macht, sich mit anderen Nutzerinnen zu solidarisieren. TikTok heißt vor allem: mitmachen. Es ist besonders leicht, die Audiospur eines Videos zu behalten und etwas eigenes daraus zu machen. Das ist ein Anreiz, den es auf anderen sozialen Netzwerken nicht gibt. Es geht weniger darum, dass möglichst viele dein Video sehen und dich dafür feiern – sondern vielmehr darum, dass viele Leute dein Videos inspirierend finden und es nachahmen. Oder im Splitscreen auf ein anderes Video zu reagieren. Und so ein eigener Remix ist eine viel größere Geste als ein Like oder Herz.

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Auch TikTok hat Probleme

Trotzdem: TikTok hat noch eine Menge Arbeit vor sich, um eine Plattform zu werden, auf der sich alle sicher fühlen können. Innerhalb weniger Minuten haben unsere Motherboard-Kollegen aus den USA auf TikTok zum Beispiel Neo-Nazis gefunden, die in ihren Videos Propaganda und Menschenhass verbreiten. Sie haben Namen wie "Race War Now" oder platzieren auf ihrem Profil Aufrufe, jüdische und Schwarze Menschen zu töten.



Zudem stießen die US-Kollegen auf diverse Accounts, die offenbar Nacktbilder jagen. Manche fordern Nutzerinnen nur in ihren Profilen dazu auf, ihnen Nacktbilder zu schicken, andere kontaktieren sie offenbar direkt. Solche Probleme lassen sich vor allem lösen, indem die Firma Tausende Moderatoren beschäftigt, die sich schnell um gemeldete Beiträge kümmern. Inzwischen hat TikTok zudem jede Menge Hashtags blockiert, mit denen Nutzer gezielt nach sexualisierten Inhalten suchten.

TikTok wird genauso wie Facebook, YouTube und Instagram immer wieder mit Gruppen zu kämpfen haben, die die Plattform für ihre Zwecke missbrauchen. Aber solange auf TikTok indische Akrobaten zu brasilianischem HipHop eine menschliche Pyramide bauen und Menschen als Gorilla verkleidet einen Baby-Shark durch den Spielwarenladen schubsen, kann die Remix-Kultur gewinnen.

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