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Als Steve zwei oder drei Jahre alt war, hörte er die Stimme zum ersten Mal. “Keine Angst, Stephen, heute haben wir einen wunderschönen Tag für dich”, sagte sie. Am Tag zuvor hatte sich der Junge darüber beschwert, dass der Frühling in seiner Heimat im Nordosten Englands noch nicht wirklich warm oder sonnig war. “Ich weiß noch, dass ich das richtig seltsam fand”, erzählt der inzwischen 56-Jährige. “Angst machte es mir aber nicht. Es klang so echt wie meine eigene Stimme, wenn ich spreche.” Im Laufe seines Lebens sollte Steve noch viele weitere Stimmen hören. Gestört hätten sie ihn nie, sagt er.
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Bei Menschen mit Psychosen oder Schizophrenie ist das anders, ihr Leben wird von den Stimmen in ihrem Kopf massiv beeinträchtigt. Bei Steve hat man nie eine psychische Krankheit festgestellt, er war auch nie in Therapie. Steve ist ein “gesunder Stimmenhörer” und einige Forscher hoffen, durch Menschen wie ihn zu verstehen, warum manche Leute wegen der Stimmen klinische Betreuung brauchen und andere nicht.
Emmanuelle Peters ist klinische Psychologin und Forscherin am King’s College London, seit 25 Jahren beschäftigt sie sich mit psychotischen Erfahrungen. Darunter versteht man unter anderem, Dinge zu sehen und zu hören, die gar nicht da sind. Solche Halluzinationen kommen Peters zufolge relativ häufig vor – laut einer Studie des Forschers Richard Linscott immerhin bei 7 Prozent der Bevölkerung.
Je launischer eine Stimme ist, desto eher interpretiert man sie als gefährlich.
Wie Peters erklärt, können gesunde Menschen akustische und visuelle Halluzinationen haben, die genauso realistisch sind wie die von psychisch Kranken. “Wir untersuchen Menschen, die regelmäßig Halluzinationen erfahren”, sagt die Forscherin. “Im Durchschnitt hören sie seit 31 Jahren Stimmen, ohne dass das jemals problematisch für sie gewesen wäre.”
Aber warum leiden nun einige Menschen unter den Stimmen und andere nicht? Der Unterschied erklärt sich vielleicht durch das, was Peters als “Einschätzungen” bezeichnet: Die Halluzinationen könnten unterschiedlich auf Menschen wirken, je nachdem wie sie ihre eigenen Wahrnehmungen interpretieren. Durch neue Therapieansätze sollen Menschen, denen die Stimmen Probleme bereiten, dann lernen, die Halluzinationen als positiv wahrzunehmen. Das führt im besten Fall dazu, dass sie im Alltag weniger unter den Stimmen leiden und mit ihnen leben können.
Für eine im Dezember veröffentlichte Studie haben Peters und ihre Kollegen drei Gruppen interviewt: Menschen, die psychotische Erfahrungen gemacht und nie klinische Hilfe gebraucht haben; Menschen, die psychotische Erfahrungen gemacht und deswegen klinische Hilfe gebraucht haben, und eine Kontrollgruppe, die keine psychotischen Erfahrungen hatte. Dabei haben die Forscher herausgefunden, dass Menschen, die sich klinische Hilfe gesucht haben, ihre Stimmen und Visionen schon vor ihrer Therapie eher als gefährlich, unkontrollierbar und negativ interpretiert haben.
Je launischer eine Stimme ist, desto eher interpretiert man sie als gefährlich. Zu diesem Ergebnis ist Peters gekommen, ihre Untersuchungen bestätigten zudem: Menschen, die Hilfe benötigen, schätzen ihre psychotischen Erfahrungen anders ein als Menschen, die keine Hilfe benötigen.
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Diese Erkenntnis hilft auch anderen Forschern: “Durch Emmanuelle Peters Arbeit wissen wir, dass nicht nur die Intensität der Stimmen darüber bestimmt, ob man unter diesen Stimmen leidet oder nicht”, erklärt die klinische Psychologin Lucia Valmaggia. “Es kommt vielmehr darauf an, wie man die Stimmen bewertet, woher sie kommen und wie sie einen beeinflussen.” Auch Valmaggia will verstehen, warum sich die Einschätzungen unterscheiden und warum sich manche Menschen in gewissen Situation paranoid verhalten und andere nicht.
Aber wieso empfinden eigentlich nicht alle Betroffenen die Stimmen als negativ? Laut Peters kommen viele, die keine Therapie benötigen, aus Familien, in denen es als normal gilt, Stimmen zu hören – oder sogar als Begabung. Sie haben eine spirituelle oder übernatürliche Erklärung für die Stimmen und glauben, mit Geistern reden zu können. Solche Erklärungen nicht pauschal abzutun, könnte den therapeutischen Umgang mit Halluzinationen nachhaltig verändern. Wichtig ist nur, dass die Patienten ihre Erfahrungen positiv bewerten – auch wenn dafür übernatürliche Erklärungen miteinbezogen werden.
“Bei der traditionellen kognitiven Verhaltenstherapie geht es darum, dass Patienten lernen, die Stimmen realitätsnäher einzuschätzen”, sagt Peters. Man habe herausgefunden, dass die gesunden Probanden ihre Stimmen nicht zwangsläufig als etwas in ihrem Kopf ansehen: “Sie glaubten wirklich, dass da vielleicht Geister oder andere äußerliche Kräfte mitwirken.”
Laut Peters müssen Therapeuten nicht immer mit der Diagnose arbeiten, dass die Stimmen durch eine mentale Krankheit verursacht werden. Wenn die Stimmenhörer eine für sie passende Erklärung gefunden haben, sollte der Therapeut genau damit arbeiten, wenn das die Stimmen harmloser macht.
“Diese Stimmen reden richtig willkürliches Zeug”, erklärt er. “Als würde man ein paar Sekunden lang das Radio einschalten.”
Steve hat den Stimmen, die er am häufigsten hört, schon Spitznamen gegeben. “Junges, vornehmes Fräulein” alias Celia ist eine junge Frau Mitte 20. “Im Vergleich zu ihrem geschliffenen Oxford-Englisch spricht die Queen ganz normal”, erzählt er. Außerdem gibt es noch einen “alten, vornehmen Typen” – der laut Steve wie ein 70-jähriger Uni-Professor klingt – und einen “jungen, vornehmen Typen”. Dessen Stimme war es übrigens auch, die Steve damals als Erstes gehört hat.
“Diese drei kommen immer wieder”, sagt Steve. “Oft sagen sie etwas, das zur Situation passt, und klingen dabei manchmal etwas angesäuert.”
Stimmen wie Celia klängen so, als würden sie von außerhalb seines Körpers kommen, sagt Steve. “Entweder hört man die Stimmen ganz normal oder sie scheinen im Kopf zu entstehen”, erklärt er. “Bei mir gehen sie über meine rechte Schulter in mein rechtes Ohr. Nur ein einziges Mal kamen sie über mein linkes Ohr.”
Steves andere Stimmen kommen verstärkt von innen. Trotzdem seien sie leicht von seinen eigenen Gedanken zu unterscheiden. “Diese Stimmen reden richtig willkürliches Zeug”, erklärt er. “Als würde man ein paar Sekunden lang das Radio einschalten.” Beim Meditieren hörte er zum Beispiel einmal den Satz “Sag ihm, dass ich bei Mimis war”, erzählt Steve und lacht. “Was soll das überhaupt bedeuten?”
Weil Steve seine Stimmen nicht als etwas Negatives ansieht, beeinträchtigen sie sein Leben nicht. Andere können sich da nicht so glücklich schätzen. Wie der klinische Psychologe Tom Ward erzählt, gebe es auch richtig boshafte Stimmen – sie redeten zum Beispiel nur von Gewalt, Vergewaltigung und dem Tod oder wirkten ständig wütend. Die betroffenen Menschen fühlten sich durch die Halluzinationen machtlos und verängstigt. Zusammen mit einer Forschergruppe vom King’s College London versucht Ward aber, die Beziehung seiner Patienten zu ihren Stimmen zu verändern.
Beim AVATAR Project gibt er den gehörten Stimmen mithilfe von virtueller Realität einen passenden Körper. In diesen schlüpft Ward dann und redet mit den Patienten. So will der Psychologe die Dynamik der Beziehung verändern: Zuerst übernimmt er noch den aggressiven Ton der Stimmen, wird dann aber immer netter. Die Patienten erlangen so zunehmend die Kontrolle über das Gespräch. Das führt letztendlich dazu, dass sie die Stimmen positiver einschätzen. Und nicht nur das: Viele seiner Patienten fangen während der Therapie auch an, neutrale Stimmen zu hören, die sie direkt positiv auffassen. Bei manchen gingen die Stimmen sogar direkt fast komplett weg.
Genauso wie Peters ist auch Ward der Meinung, dass das Ziel nicht nur sein darf, die Stimmen komplett verschwinden zu lassen. Die Patienten sollen auch lernen, anders mit ihnen umzugehen. “Die Forschungen von Emmanuelle und mir zeigen, dass solche Erfahrungen Teil des menschlichen Bewusstseins sind”, erklärt er. “Wir müssen verstehen, warum diese Erfahrungen für manche Menschen lebensbereichernd sein können.”
Als sich Steve gerade bettfertig machte, hörte er plötzlich ein “Hey du Wichser”.
Weil Steve keine spirituelle Erklärung für seine Stimmen hat und er laut eigener Aussage auch nicht an Übernatürliches glaubt, ist er ein spezieller Fall des gesunden Stimmenhörers. Seine Einschätzung der Halluzinationen ist recht einfach: Er braucht keine.
“Das Ungewisse macht mir nichts aus”, sagt er. “Bei den meisten Menschen ist das anders – vor allem in Bezug auf solche ungewöhnlichen Phänomene.” Weil seine Stimmen nie wirklich unhöflich oder negativ werden, kommt Steve auch besser mit ihnen klar. Nur einmal sei eine Stimme etwas ruppiger geworden: Als sich Steve gerade bettfertig machte, hörte er plötzlich ein “Hey du Wichser”. Er lachte nur und antwortete: “Ach, selber!”
In den vergangenen drei Jahren hat Steve allerdings nichts mehr von seinen Stimmen gehört. Anfang 2015 entzündete sich seine Prostata, seitdem ist es in seinem Kopf ruhig geblieben. Langsam macht es macht ihm sogar zu schaffen, nichts mehr zu hören. Auf die Frage, ob er die Halluzinationen vermisse, antwortet er: “Schon ein bisschen. OK, wirklich Sorgen mache ich mir jetzt nicht, aber schade ist es trotzdem. Die Stimmen sind nämlich ganz unterhaltsam!”
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