“La ilaha illa Allah!” ruft eine heisere Stimme und Hunderte Männer, die sich um den Kleinlaster mit dem Sarg drängen, erwidern den Ruf: “La ilaha illa Allah!” – Es gibt keinen Gott außer Gott. Der Wagen hat Mühe, sich durch die Menge und das Tor des Friedhofs in Berlin-Schöneberg zu schieben, es dauert fast zehn Minuten, bis er schließlich vor der Kapelle stehen bleibt und die Brüder und Cousins des Toten den Sarg ausladen können. Um die 2.000 Menschen sind zu der Beerdigung gekommen, fast alles Männer, fast alle in dunkler Kleidung und mit Bart. Immer wieder ruft jemand “Takbir!”, die Aufforderung, auf die alle anderen “Allahu akbar” erwidern, Gott ist groß. Von der anderen Straßenseite filmen ein halbes Dutzend Presse-Kameras die Menge, dazwischen stehen Polizisten in schwarzen Einsatz-Uniformen. Polizei und Presse sind da, weil das hier keine Beerdigung wie jede andere ist: Der Tote ist Nidal R., Berlins bekanntester Intensivtäter.
Unbekannte haben Nidal R. am Sonntag mit acht Schüssen hingerichtet, als er mit Frau und Kindern gerade einen Nachmittagsspaziergang am Rand des Tempelhofer Felds machte. R., der wegen Raub, Erpressung, Drogenhandel und Körperverletzung vierzehn seiner siebenunddreißig Lebensjahre im Gefängnis verbracht hat, war in Berlin-Neukölln wegen seiner Impulsivität, seiner enormen Kraft und seinem Hang zu spektakulären Verfolgungsjagden berüchtigt. Trotzdem sind an diesem verregneten Donnerstag Tausende gekommen, um ihren Respekt zu zollen – darunter auch einige aus dem kriminellen Milieu. “Clan-Chefs, Rockergruppen und Mitglieder von Großfamilien aus dem gesamten Bundesgebiet” haben die Reporter der Bild erkannt.
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Auch deshalb wird die Beerdigung von einem Großaufgebot von mehr als hundert Polizisten und Polizistinnen begleitet, dazu kommen noch Experten und Expertinnen des LKA, die sehen wollen, wer gekommen ist. Vor dem Beginn der Beerdigung verstopften sich Dutzende Mercedes-Limousinen gegenseitig den Weg bei der Parkplatzsuche in den Straßen um den Bahnhof Schönefeld.
“Liebe Freunde”, ertönt es aus einem Lautsprecher, kurz nachdem der mit einer Palästina-Flagge bedeckte Sarg aus dem Auto gehoben wurde. “Wir möchten, dass das Dschanāza [die Beerdigung] nach der Sunna [islamische Überlieferung] verläuft. Das heißt, es soll Stille herrschen, Totenstille sozusagen.” Für den Rest der Beerdigung halten sich die Besucher daran. Obwohl der Sarg auf seinem Weg zum Grab in der Menschenmenge immer wieder zum Stehen kommt, bleibt es ruhig. Die Koran-Suren, die der Imam an der Grabstelle rezitiert, hallen zwischen den Buchen des Friedhofs hindurch, dann drehen sich die Trauernden allesamt Richtung Mekka und verrichten leise murmelnd ihre Gebete. Die zwei Dutzend verschleierten Frauen, die gekommen sind, stehen während der gesamten Zeremonie einige Meter abseits.
Bis jetzt ist noch nicht bekannt, wer für den Mord an Nidal R. verantwortlich ist. Die Brutalität der Tat – am Sonntagnachmittag, vor den Kindern – macht jedoch nicht nur die Behörden nervös, die einen neuen Bandenkrieg befürchten. “Eine Katastrophe, wallah”, murmelt ein älterer Mann. “Deshalb ist es wichtig, dass wir da sind”, entgegnet ihm ein anderer. “Was wir jetzt vor allem brauchen, ist Geduld”, ruft ein Redner, nachdem ein Dutzend junge Männer den Sarg herabgelassen und mit Erde bedeckt haben. “Es tut weh, dass unser Bruder Nidal auf diese Weise von uns genommen wurde, aber jetzt ist die Zeit für Geduld.”
Nachdem die Trauernden das letzte Gebet gesprochen haben, verlassen sie in kleinen Grüppchen den Friedhof. Ein paar von ihnen rufen Beschimpfungen oder zeigen den Mittelfinger in Richtung der Kameras. Die meisten gehen ruhig oder sich leise unterhaltend in Richtung S-Bahnhof Schöneberg.