“Wahrscheinlich wirke ich total dramatisch und nervig”, sagt eine junge Frau. Sie kämpft mit den Tränen. “Die Regelarbeitszeit ist verrückt. Wie hat man da noch Freunde? Wie hat man da noch Zeit für Dates? Ich habe keine Zeit für gar nichts mehr, ich bin so fertig.”
Die Frau ist der Star eines TikTok-Videos, das Ende Oktober im englischsprachigen Raum viral ging. Seitdem sind die Worte des “Gen Z Girls” zum Schlachtruf einer Generation geworden. Allein auf X, ehemals Twitter, wurde das Video fast 50 Millionen Mal angesehen. Anfangs waren die Reaktionen noch nicht sehr mitfühlend. “Gen Z Girl findet heraus, was echte Arbeit ist”, schrieb ein X-User abfällig. “Erwachsenen sind nicht Freunde oder Daten am wichtigsten. Erwachsenen ist am wichtigsten, ihre Familie versorgen zu können”, schrieb ein anderer. Dass man als junger Single ohne Freunde niemanden hat, den man versorgen kann, bedachte die Person dabei offensichtlich nicht.
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Aber dann kippte die Stimmung langsam und immer mehr Menschen gaben dem “Gen Z Girl” recht. Arbeit ist scheiße! Niemand hat mehr Zeit für nichts! Innerhalb weniger Tage war die junge Frau zum Gesicht einer zunehmend weit verbreiteten Haltung geworden: Wir wollen unser Leben nicht mehr nach der Arbeit ausrichten.
Die aktuelle Debatte um unser Verhältnis zur Arbeit mag vielleicht von Modebegriffen wie Quiet Quitting oder Lazy Girl Jobs dominiert sein, aber tatsächlich lässt sich eine große gesellschaftliche Veränderung beobachten. Laut der britischen World Values Survey sagen heute rund 43 Prozent der Briten, dass es gut wäre, wenn Arbeit keine so große Rolle mehr in unserem Leben spielen würde. 1981 stimmten noch lediglich 26 Prozent der Befragten dieser Aussage zu. In Deutschland stimmen sogar 45 Prozent der Befragten dieser Aussage zu, 1981 waren es noch 30 Prozent.
Der Leiter der Studie und Direktor des Policy Institute am King’s College London, Bobby Duffy, sagt, dass sich “eine stetige Entwicklung hin zu einer guten Work-Life-Balance” abzeichne. “Immer weniger Menschen denken, dass die Arbeit über der Freizeit stehen sollte, dass harte Arbeit zu Erfolg führt oder dass keine Arbeit Menschen faul macht.”
Der Kulturanthropologe Alex Gapud, der als Berater für scarlettabbott arbeitet, ein Beratungsunternehmen für die Verbesserung der Arbeitsatmosphäre, ist der Meinung, dass dieser Sinneswandel mit der Pandemie zu tun habe. Das Home Office habe es Menschen erlaubt, eine bessere Work-Life-Balance zu pflegen. “Die vergangenen Jahre haben uns gezeigt, dass es effektive und praktikable Alternativen zum 40-Stunden-Bürojob gibt”, sagt er. “Es ist quasi unmöglich, die Dose der Pandora wieder zu schließen.” Für Berufseinsteiger sei die Alternative bereits die Norm. Im Grunde sei es ein Kulturkampf zwischen verschiedenen Vorstellungen von Arbeit, sagt Gapud.
“Sowohl die alteingesessenen Arbeitskräfte als auch die Gen Z haben ihre Modelle, die für sie jeweils auf der Hand liegen und einfach dazu gehören”, sagt Gapud. “Gleichzeitig sehen sie nicht immer den Wert oder die Vorzüge der anderen Seite.” Eine Seite hat in diesem Ringen allerdings eindeutig mehr Macht: Die Chefs und CEOs, die alle zur Rückkehr ins Büro drängen.
Wenn man sich das obige Video noch mal genau anschaut, fällt auf, wie sehr das “Gen Z Girl” die eigenen Gefühle immer wieder kleinredet. Sie bezeichnet sich mehrmals als “dramatisch”, sie sei wahrscheinlich so emotional, weil sie ihre Tage kriegt. Es ist, als habe sie die ganze Kritik der Gegenseite schon verinnerlicht, bevor sie sie überhaupt ausgesprochen hat.
Es ist keine Übertreibung, dass junge Menschen in Sachen Arbeit von älteren Generationen gegaslightet werden. Während die Gehälter stagnieren und die Lebenshaltungskosten steigen, versucht die Generation, die unter anderem noch den Luxus von bezahlbarem Wohnraum genießen konnte, uns einzureden, dass wir einfach ein Problem mit unserer Arbeitsmoral hätten, wenn wir deprimiert und gestresst sind. Wir seien zu sensibel, zu fordernd und hätten zu hohe Ansprüche, um “einen echten Job” durchzuhalten. Dabei wollen die meisten von uns einfach nur gesunden Schlaf und uns möglichst nicht verschulden.
Seb ist 27, stammt aus Mexiko und arbeitet als Lichtdesigner in Großbritannien. Seinen aktuellen Job hat er seit sechs Monaten – und er hasst ihn, wie er sagt.
“Meine Chefs sind klassische 9-to-6-Fans”, sagt er. “Wo sind eigentlich die ganzen 9-to-5 Jobs, von denen alle reden?” Zu dem neunstündigen Arbeitstag kommen dann noch zweimal 50 Minuten, die er zum Büro und vom Büro nach Hause pendelt. Dieser 11-Stunden-Tag nehme ihm jegliche Produktivität, sagt Seb. Das alles schreibt er mir dann auch passenderweise von der Arbeit. “Ich muss mich hier sehen lassen und so tun, als würde ich arbeiten”, sagt er. “Dabei habe ich schon meine Arbeit für den Tag erledigt.”
Seb muss immer wieder an einen mexikanischen Begriff denken, der sich grob mit “Arschzeit” übersetzen lässt. “Es ist die Zeit, die du mit deinem Arsch auf dem Stuhl sitzt – egal ob es was zu tun gibt oder nicht”, sagt er. “Ich könnte meine Arbeit statt in 40 auch in 20 oder 30 Stunden pro Woche erledigen.”
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Harriet ist Anfang 30 und arbeitet als Community Producer. Auch sie findet, dass das klassische 40-Stunden-Modell ineffektive Arbeitsgewohnheiten fördere. “Ich kann viel in wenigen Stunden erledigen, aber muss grundlos im Büro bleiben. Die restliche Zeit gucke ich auf die Uhr, trinke Tee und quatsche.” Sie finde es “sinnlos, einschränkend und demotivierend”, ihren Alltag um die Regelarbeitszeit herum zu organisieren. Aber selbst die Corona-Pandemie habe ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht dazu gebracht, das “traditionelle” Büromodell anzupassen. “Es gibt diese herrschende Vorstellung, dass von zu Hause arbeiten Faulenzen bedeutet.”
Seb sieht das genauso. Aber jedes Mal, wenn er mal darum bittet, von zu Hause zu arbeiten – sei es weil Handwerker kommen, die Bahnen streiken oder einfach, weil es ihm nicht gut geht und es ihm helfen würde, von zu Hause zu arbeiten, ohne sich direkt krankschreiben zu müssen, bekommt er eine Absage.
“Sie sagen, dass es dem Unternehmen nichts bringen würde”, sagt er. “Ich habe sie dann gefragt, ob das Wohlergehen der Mitarbeiter nicht von Vorteil für die Firma sei. Anscheinend ist das nicht so.”
Finn Bartram ist Experte für Personalfragen und Karrieren bei dem HR-Magazin People Managing People. Er sagt, die Erwartungen der jüngeren Generation seien schon anders als die älterer Mitarbeitenden. “Sie finden, dass sie mehr sind als ihre Arbeit – und sie erwarten von ihrem Arbeitgeber, das auch so zu sehen. Es geht nicht darum, dass sie nicht hart arbeiten wollen. Dazu sind sie definitiv bereit. Aber anders als die vorangegangenen Generationen wollen sie nicht mehr für die Arbeit leben”, sagt er. “Das liegt zum Teil daran, dass diese Generation mehr auf ihre mentalen Bedürfnisse achtet.” Bartram ist der Meinung, dass die Menschen heutzutage besser darin seien, auf sich selbst und ihre Bedürfnisse zu achten.
Arbeit wandert zu Gunsten von Aktivitäten, die einen persönlich mehr bereichern, in der Prioritätenliste immer weiter nach unten. Seb ist zum Beispiel Künstler und malt gerne. “Wenn man neun Stunden auf einen Bildschirm gestarrt hat und dann noch 50 Minuten nach Hause fährt, kann kein gutes Gemälde entstehen”, sagt er. Einer seiner Freunde habe vor Kurzem zu ihm gesagt: “Wenn ich eine kürzere Arbeitswoche hätte und ein angemessenes Gehalt bekommen würde, dann hätten sie einen ausgeruhten, enthusiastischen und aufgeweckten Mitarbeiter. Stattdessen kriegen sie einen armen und erschöpften Angestellten.”
Ironischerweise sabotiert gerade der Druck, ein “guter Arbeiter” zu sein, häufig die persönliche Kapazität dazu. “Ich bin wirklich kein besonders guter Mitarbeiter”, sagt der 32 Jahre alte Andy, der hier gerne anonym bleiben möchte. Erschwerend kommt für ihn hinzu, dass man auf der Arbeit nicht wirklich man selbst sein könne. “Die meisten Menschen verhalten sich in einem Büroumfeld so anders und gehemmt”, sagt er. Diese Charade habe ihren Preis. Andy hat vor Kurzem wegen des Drucks auf der Arbeit einen Nervenzusammenbruch erlitten. Heute blicke er sehnsüchtig auf Länder, die eine Viertagewoche ausprobieren.
Dabei müsste er gar nicht weit in die Ferne blicken. Simon Ursell ist Geschäftsführer der Londoner Umwelt-Beratungsfirma Tyler Grange. Das Unternehmen hat vor Kurzem auf die Viertagewoche umgestellt. “In Großbritannien herrscht eine ungesunde Arbeitskultur. Es gilt als Ehre, ständig zu arbeiten”, sagt Ursell. “Dabei ist die Produktivität dann verhältnismäßig gering. Unsere jüngeren Mitarbeiter wollen sich nicht mehr von diesem Burnout-Lifestyle das Leben bestimmen lassen.”
Laut Ursell ist die Viertagewoche ein voller Erfolg: Tyler Grange sei jetzt 109 Prozent produktiver als zuvor an fünf Tagen, es gebe 66 Prozent weniger Fehlzeiten und laut der internen Unternehmens-App Alertness fühlen sich die Angestellten 28 Prozent weniger müde und 14 Prozent glücklicher.
Aber gut, nicht alle sind glücklich über die Umstellung. “Es gibt auch Leute, die das klassische Arbeitsmodell dermaßen verinnerlicht haben, dass sie ziemlich wütend über die Veränderung sind”, sagt Ursell. Auf lange Sicht bereite ihm das aber keine Sorgen. “Veränderungen geschehen so schnell”, sagt er, “ein ideologisches Festhalten an alten Arbeitsmodellen würde einen sehr schnell überflüssig machen.”
Dabei sollte man nicht vergessen, dass auch das klassische 9-to-5-Modell eine relativ neue Erfindung ist. Hoffentlich gilt es bald als ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Emma Last, Gründerin von Progressive Minds, einer Organisation, die sich auf das Wohlergehen am Arbeitsplatz spezialisiert hat, sagt: “Das alte Modell wurde geschaffen, um unsere patriarchale Gesellschaft zu stützen. Die Männer sind arbeiten gegangen und die Frauen blieben zu Hause, um zu kochen und sich um die Familie zu kümmern.” Seitdem hat sich offensichtlich viel verändert und wir alle versuchen jetzt, das Gleichgewicht zwischen Kochen, Freizeit, Selbstpflege, Freunden und Familie zu finden. Emma meint: “Ist es nicht gut, dass die Gen Z das alles hinterfragt?”
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