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Eltern und Freunde erzählen von ihren Erfahrungen mit Gewalt in der Familie

Es liegt an unserer Generation, dass Gewalt in der Familie ein für alle Mal aufhört.

Dezember 2014 haben wir eine Antwort auf einen damaligen Artikel in der Presse am Sonntag veröffentlicht, in dem der Außenpolitik-Redakteur Wolfgang Greber beschreibt, wie er seinen dreijährigen Sohn übers Knie legt und an den Ohren zieht, um ihn zu erziehen. Vermutlich könnte man diese Aussagen als Ausreißer eines alten Deppen abtun, als ein trauriges Überbleibsel eigentlich längst vergangener Tage. Aber für uns ist das komplett unmöglich.

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Für unsere Eltern war es noch ganz normal, dass sie mit Schlägen und ähnlichen Bestrafungen erzogen wurden. Unsere Generation kennt entweder diese traurigen Geschichten, die irgendwann aus unseren Vätern und Müttern unter Tränen herausgebrochen sind, oder musste—noch schlimmer—selbst unter den Nachwehen dieser Erziehung leiden. Die Wahrheit ist nämlich: Die Gefahr, dass wir wie unsere Eltern werden, ist extrem hoch und es ist verdammt mühsam, nicht all die unangenehmen Verhaltensweisen, die uns als Kinder an den Rand der Verzweiflung gebracht haben, selbst auch anzunehmen.

Es liegt also an uns, dafür zu sorgen, dass diese Art der Erziehung spätestens jetzt ausstirbt. Und weil nichts wirksamer ist, als die ungeschönten und zutiefst berührenden Schilderungen aus erster Hand, haben wir bei unseren Familien und Freunden nachgefragt, wie sie als Kinder Gewalt erlebt haben.

Robert, 63, Vater von drei Kindern

Ich wurde als Kind mit allen spontan erreichbaren Gegenständen von einer überforderten, ansonst bis zur Selbstaufgabe liebenden Mutter geschlagen und durfte manchmal mehrere Tage nicht in die Schule gehen, weil sie sich für ihr Handeln schämte. Ich kann meiner Mutter dafür bis heute nicht böse sein, wir haben nach ihren „Ausrutschern" gemeinsam geweint. Es ist nicht der physische
„Schlag" alleine, der verletzt. Erst gepaart mit Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit und Kälte wird er zur bleibenden Verletzung. Ich habe keines meiner drei Kinder jemals geschlagen.

Josef, 31

Ich war damals in einem Pfarrkindergarten—mit zum Teil geistlichen Schwestern—und wir Zwerge hatten schon ziemlich Angst vor der Obernonne und ihren Ohrenziehern. Watschen gab es auch—echt selten, aber doch. Das Schlimme an der „Die gesunde Ohrfeige hat mir nicht geschadet"-Argumentation, die man in dieser aktuellen Debatte so oft hört, ist, dass man oft einfach nur die eigenen Erziehungsmethoden zu rechtfertigen versucht.
Abgesehen von dem emotionalen Schaden dieser steinzeitlichen Sichtweise ist es auch ziemlich paradox, so etwas zu sagen. Natürlich habe auch ich sofort den Reflex, zu relativieren, dass mich die paar körperlichen Übergriffe im Kindergarten nicht wirklich traumatisiert haben, da mir der Gedanke nicht gefällt, dass ich vielleicht „anders", „gesünder" oder „glücklicher" sein könnte, wenn das damals nicht passiert wäre. Aber ich könnte trotzdem nie eine überzeugte Aussage treffen, dass diese sehr frühe Angst vor Bestrafung und die schmerzhaften Schreckensmomente, sich nicht irgendwie auf meine Entwicklung ausgewirkt haben. Wie will ich das denn wissen? Vielleicht wäre ich heute ganz ein anderer—mit einem oder zwei neurotischen Ticks weniger. Keine Ahnung, aber auf jeden Fall kann mich noch ganz gut an das stechende Knirschen in meinen Ohrenknorpeln erinnern.

Herbert, 49, Vater von einem Sohn

Ich wurde 1965 als viertes von insgesamt sieben Kindern geboren. Mich an die zuhause erlebte Gewalt zurückzuerinnern, fällt mir nicht schwer, da man derartige Erlebnisse nie vergisst. Mein Vater hatte die Meinung, dass bei der Erziehung Gewalt legitim sei und seine Position als Familienoberhaupt stärken würde. Wir wohnten gemeinsam mit zwei anderen Familien, welche bei uns in der Untermiete lebten, in einem großen Haus. Als ich im Kindergarten-Alter war, hatte mein Vater bei den Nachbarsfamilien bereits einen Ruf als extrem strenger „Erzieher". Das musste sogar so manches Nachbarskind am eigenen Leib erfahren, weil mein Vater auch bei fremden Kindern keine Hemmungen hatte, seine Autorität durch eine ordentliche Ohrfeige unter Beweis zu stellen.

Bei meinen Geschwistern und mir ging manchmal die Gewaltanwendungen so weit, dass wir zum Beispiel mit einem Besenstiel auf den Rücken geschlagen wurden—bis dieser in zwei Stücke zerfiel. Vor allem mein ältester Bruder bekam am meisten von den Gewaltausbrüchen meines Vaters ab. Während der Schulzeit mussten wir uns fürchten, mit einer schlechten Note nach Hause zu kommen—sobald mein Vater davon erfuhr, bekamen wir das Schulheft einige Male links und rechts ums Gesicht geschlagen. Diese Tatsache wirkte sich bei mir persönlich nicht besonders motivierend aufs Lernen aus und wirkte in Summe kontraproduktiv. Sogar mit 16 Jahren bekam ich noch meine Schläge. Trotz des Einschreitens meiner Mutter konnte mein Vater seine Wutausbrüche nicht unter Kontrolle bringen, sodass ich mir sogar in diesem Alter einmal vor Angst in die Hose pinkelte. Insgesamt möchte ich keinem Kind ähnliche Erfahrungen durch Gewaltanwendung in der Erziehung zumuten—nicht einmal in abgeschwächter Form. Nicht zu unterschätzen sind neben den körperlichen Schmerzen die damit angerichtete psychischen Schäden. So haben einige meiner Geschwister die autoritären und gewaltbereiten Erziehungsmethoden meines Vaters bei ihren Kindern wiederholt. Ich schwor mir als Jugendlicher, meinen Vater nicht als Vorbild für die Kindererziehung zu nehmen und bin sehr froh darüber, mein eigenes Kind vor jeglicher Form von häuslicher Gewalt verschont zu haben.

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Marie, 49, Mutter von drei Kindern

Meine Mutter hat aus dem Affekt geschlagen, mein Vater eher aus Berechnung (Abrechnung, exekutiv). Das war noch viel grausamer. Aber wenn die Sonne schnell irgendwo in ein Fenster reinblitzt, dann schrecke ich heute immer noch oft zusammen und habe das Gefühl, jetzt bekomme ich aus dem Affekt eine auf den Kopf.
Meine Mutter hat meinem Vater oft, häufig beim Essen, erzählt, was ich alles Schlimmes gemacht habe und dass er mich bestrafen müsse. Das hat er dann gemacht. Da war ich noch sehr klein. Ich wollte dann nie essen, weil ich wusste, wenn wir zusammensitzen, tagt das Gericht. Das ist sicher ein Grund für mein komisches Essverhalten, das früher viel extremer war. Essensverweigerung war die einzige Möglichkeit meinerseits, Macht auszuüben und mich zu verweigern. Später bekam ich einen Bruder, der sich auch immer wieder (ich denke aus dem selben Grund) unter dem Tisch versteckt hat, wenn wir essen wollten.

Dass ich das nicht übernommen habe, hat sicher damit zu tun, dass ich einerseits immer wusste, dass es nicht richtig ist und dass ich andererseits wirklich gelitten habe, unglücklich und traurig war und weil ich ja gesehen habe, dass es in anderen Familien auch nicht so war. Deshalb wollte ich auch immer unbedingt und bald selbst Kinder haben (vielleicht wie die jungen Mütter aus zerrütteten Familien). Ich wollte meine eigene Familie haben und es auf jeden Fall besser machen. Auch meine Oma hat mir viel Kraft gegeben, die das immer wieder mitbekommen hat und sagte, dass es ihr so leid tut. Sie hat mir auch vermittelt, dass ich eigentlich in Ordnung bin und was meine Eltern taten nicht.

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Roman, 56, Vater von zwei Kindern

Durch die Schläge, die ich als Kind erhalten habe, habe ich Folgendes erfahren und gelernt:
Durch Schläge kann man sich schnell Autorität verschaffen. Durch Schläge werden sehr schnell und klar Grenzen gezogen. Durch Schläge wird einem klar, wer die Macht hat und wer zu gehorchen hat.
Weil mein Vater das angeblich ebenso oder noch schlimmer erlebt hat, habe ich es als Betroffener leichter akzeptiert und als Bestandteil der Erziehung verstanden. Ich denke, dass Gewalt als Regelwerk tief in uns angelegt ist und von niedrigen Instinkten bedient wird. Es ist jedoch der Nährboden für Unglück, Krieg, Unterdrückung und das beginnt schon in der Familie.
Wenn wir die Zukunft weiterhin positiv beeinflussen und gestalten wollen, ist es unerlässlich, die Aggression und Gewalt weiter zu zähmen und die Liebe, Zuwendung und Wertschätzung weiter auszubauen.

Lukas, 29

Das Interessante an der Sache ist, dass ich nicht einmal genau sagen kann, wann ich das erste Mal von meinem Vater eine „g'sunde Watschen" bekommen habe. Dieser Zeitraum ist in meiner Erinnerung sehr kurz und die Ereignisse sind für mich chronologisch auch nicht mehr richtig zuzuordnen. Da sieht man mal wieder, wie die Psyche versucht, dich vor solchen Erlebnissen zu schützen.
Das Prägendste war aber sicher, als ich circa 13 bis 15 gewesen bin. Mein damaliger bester Freund war zu Besuch und wir spielten in meinem Zimmer irgendwelche Brettspiele. Mein Vater kam rein und meinte, ich soll jetzt auf der Stelle ein Spiel wegräumen bevor ich ein anderes anfange. Ich mitten in der Pubertät erwiderte natürlich, dass ich das machen werde, aber erst wenn wir das angefangene Spiel beendet haben. Er wollte, dass ich es sofort mache. Es kam zum Streit, woraufhin er mir vor meine Freund eine Watschen gab. Ich fing natürlich sofort an zu weinen, wollte aber vor meinem Freund meine Schwäche und Scham verstecken, was gar nicht funktionierte. Umso mehr ich meine Tränen unterdrückte, umso bitterlicher weinte ich.
Das schlimmste an der Sache war jedoch nicht der körperliche Schmerz (der is nach zwei Minuten vorbei)—es war diese Ohnmacht. So etwas hatte ich bis dahin nie in meinem Leben empfunden. Einer Situation 100 Prozent ausgeliefert zu sein. Es gab nichts, was ich machen konnte, da ich erstens meinem Vater körperlich komplett unterlegen war und es zweitens mein Zuhause war, meine Safe Zone, der bis dahin geglaubte ultimative Rückzugspunkt, wo das alles passierte.
Bei mir hat dieses Erlebnis aber einen wichtigen Grundsatz in meinem Leben gefestigt, wenn nicht überhaupt entstehen lassen—nämlich, dass ich unter gar keinen Umständen möchte, dass ich oder mein Handeln irgendeinen Menschen in eine ähnlich Situation bringt. Ich will diese Emotion einfach nicht an die nächste Generation weitergeben—egal in welcher Form—und hoffe dadurch, dass dieses Gefühl ausstirbt.

Ich habe mittlerweile ein gutes Verhältnis zu meinem Vater. Er selbst wurde von seinem Vater mit dem Gürtel geschlagen und das war nicht mal das Schlimmste. Damals war das ja relativ normal.
Ihm war es leider nicht möglich, sich seine Emotionen bewusst zu machen und zu erkennen, dass die nichts mit seinem 13-jährigen Sohn zu tun haben. Und ich kann leider nicht erwarten, dass alle Menschen ihre Handlungen so bewusst setzen wie ich das zumindest versuche.


Titelbild von: julio.garciah via photopin cc