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Du hast keine Ahnung, wie schlimm sich Panikattacken wirklich anfühlen

Soziale Isolation und Medikamentenabhängigkeit—eine Betroffene erzählt von ihrem Leben mit einer Angststörung.

Experten schätzen, dass rund 20 Prozent der Österreicher im Laufe ihres Lebens an einer Angst- oder Panikstörung leiden. Das heißt, dass jeder fünfte deiner Freunde sich ​vor etwas fürchtet, gefürchtet hat oder fürchten wird, das—in diesem Ausmaß—nicht rational erklärbar ist. Das ist meiner Meinung nach Grund genug, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und zu versuchen, das Leben dieser Freunde durch etwas Wissen und Offenheit erträglicher zu gestalten.

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​„Du solltest in Therapie gehen!", ist wohl der Satz, den Betroffene am häufigsten zu hören bekommen, wenn sie den Mut aufbringen, mit jemanden über ihre Gedanken zu sprechen. Doch „in Therapie gehen" ist leichter gesagt als getan. Viele trauen sich nicht, Kontakt zu einem Psychotherapeuten oder Psychiater aufzunehmen. Zu viele warten damit, bis ihr Leben völlig aus den Fugen gerät und sich die Angst schon verselbstständigt hat.

Dabei wäre es besonders wichtig, schon bei den kleinsten Anzeichen einer Angst- oder Panikstörung Hilfe aufzusuchen, um sie ​möglichst früh zu bekämpfen und zu heilen. Denn umso länger man wartet, desto eher entwickelt sich eine generalisierte Angst- oder Panikstörung oder eine sogenannte Erwartungsangst, bei denen sich die Betroffenen nicht mehr vor bestimmten Dingen oder Situationen fürchten, sondern vor dem Gefühl der Angst selbst.

Weiters spielen die Kosten einer Therapie für viele Betroffene eine entscheidende Rolle. Eine Therapieeinheit kostet schon mal 90 Euro pro Stunde. Das kann sich nicht jeder leisten. Therapieplätze, die die Krankenkasse bezahlt, sind knapp und die Wartelisten verdammt lang. Außerdem muss man auch einen Therapeuten oder Psychiater finden, mit dem man arbeiten will beziehungsweise kann, denn nicht jeder Fachmann kann bei jedem Problem helfen.

Ich wurde von mindestens acht Psychotherapeuten, Psychoanalytikern und Psychiatern weitergeschickt, bis ich endlich „meine" Psychiaterin gefunden habe. Das Gefühl, von Experten abgewiesen zu werden und Sachen wie „Es tut mir leid, aber da seh' ich mich nicht drüber" zu hören, ist nicht schön. Abgesehen davon, dass so eine Tour durch verschiedenste Praxen sehr viel Geld kostet, verdammt anstrengend ist, weil man immer wieder die selbe Geschichte erzählen muss und man sich selbst schon für total verrückt hält, bekommt man so noch den offiziellen „hoffnungsloser Fall"-Stempel aufgedrückt.

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Abseits der erdrückenden Ansichten der Experten gibt es natürlich noch die Meinungen der Freunde und Familienmitglieder: „Tu nicht so! Entspann dich! Es gibt doch gar keinen Grund, Angst zu haben!"

Abseits der erdrückenden Ansichten der Experten gibt es natürlich noch die Meinungen der Freunde und Familienmitglieder. „Tu nicht so! Entspann dich! Es gibt doch gar keinen Grund, Angst zu haben!" und ähnliches darf man sich täglich anhören. Das macht die ganze Sache jedoch nur noch schlimmer, weil man sich dadurch nicht unbedingt besser verstanden, gut bei seinen Familienmitgliedern aufgehoben oder auch nur von irgendwem ernstgenommen fühlt. Stattdessen kann man sich gleich auf eine richtig hässliche Depression einstellen, die Angststörungen häufig mit sich bringen, was angesichts dieser Tatsachen nicht verwunderlich ist.

​Neben einer Depression kann man sich durch eine Angststörung auch relativ leicht eine ordentliche Medikamentenabhängigkeit einfangen. Medikamente sind zur Behandlung von Angst- oder Panikstörungen häufig unumgänglich. In Österreich werden starke Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine von vielen Ärzten jedoch sehr leichtfertig verschrieben. Sie werden sowohl bei Angst- oder Panikstörungen als auch bei Schlaflosigkeit, Krampfanfällen oder zum Drogenentzug eingesetzt. Das wohl bekannteste und auch älteste Benzodiazepin ist Valium. Heute werden in Österreich vor allem Präparate wie Xanor—in den USA berühmt-berüchtigt als Xanax—oder Rohypnol verschrieben.

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Um meine psychische Abhängigkeit zu befriedigen, trage ich noch immer ständig eine Ladung Medikamente bei mir.

Durch die sofortige und starke Wirkung sind diese Medikamente sehr beliebt, um den Patienten schnelle Hilfe zu bieten. Jedoch sollten sie nur über einen kurzen Zeitraum eingenommen werden—häufig bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Psychopharmaka anfangen zu wirken—, da man schnell abhängig werden kann. Eine sogenannte Low-Dose-Abhängigkeit, bei der man immer ein bisschen high ist, um seine Störungen zu ertragen, ist weit verbreitet.

So eine unauffällige Sucht erscheint im Vergleich zu einer ausgewachsenen Angststörung wie ein kuscheliger Hundewelpe, glaubt mir. Stressig wird es nur dann, wenn man seine Medikamente zu Hause vergisst, der Arzt, der einem die Rezepte ausstellt, auf Urlaub ist oder die Apotheker anfangen, seltsame Fragen zu stellen. Nach ein paar Monaten der Abhängigkeit kennt man jedoch ein paar Tricks, passende Antworten und sämtliche Apotheken im Umkreis von zehn Kilometern. Ich habe mit dem Scheiß irgendwann aufgehört, was wirklich nicht leicht war.

Um meine psychische Abhängigkeit zu befriedigen, trage ich noch immer ständig eine Ladung Medikamente bei mir, die dazu ausreichen würde, die gesamte VICE-Redaktion für ein paar Tage in einen fröhlich-sabbernden Zustand zu versetzen. Auch am Schwarzmarkt sind Benzodiazepine sehr beliebt. Der Konsum von Opiaten, Benzodiazepinen und Alkohol wird liebevoll ​„Wiener Mischung" genannt. Also könnte ich meinen Vorrat auch an irgendeinem verdreckten U-Bahn-Ausgang verkaufen und die ganze Redaktion auf einen netten Kurztrip (haha) ans Meer einladen.

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Ich erwarte jedoch weder von ihnen noch von irgendjemandem sonst, der sich zu den glücklichen „Gesunden" unserer Gesellschaft zählt, die Gedanken eines Angststörungspatienten zu verstehen. Ich wünsche allen Außenstehenden, dass sie das niemals durchmachen müssen und somit auch niemals verstehen werden. Um es trotzdem irgendwie greifbar zu machen, will ich kurz erklären, wie das alles so abläuft und wie es sich ungefähr anfühlt.

Stell dir vor, du liest einen Zeitungsartikel über eine exotische Spinne, die in einer Schachtel Bananen beim Billa gefunden wurde und du würdest von nun an einen großen Bogen um jede Obstabteilung machen.

Stell dir vor, du hast vor etwas Angst, zum Beispiel vor Spinnen. „Normale" Angst wäre es, wenn du mit Spinnen eben nicht kuscheln willst oder deinen Papa holst, wenn ein freundlicher Achtfüßler über die Wand neben deinem Bett krabbelt, damit er das Spinnentier entfernt. OK wäre es auch noch, wenn du spinnenfreundliche Orte wie Keller meidest. Stell dir vor, du liest einen Zeitungsartikel über eine exotische Spinne, die in einer Schachtel Bananen beim Billa gefunden wurde und du würdest von nun an einen großen Bogen um jede Obstabteilung machen. Irgendwann siehst du eine Spinne in der U-Bahn und entscheidest dich, auch öffentliche Verkehrsmittel zu einer von Spinnen bevölkerten Gefahrenzone zu erklären, woraufhin du schon Angst bekommst, wenn du einsteigen musst. Diese Angst begleitet dich auch, wenn du etwas aus dem Keller holen oder sonst irgendetwas tun musst, dass du für dich als „gefährlich" eingestuft hast. So geht das weiter, bis dir nur noch ein paar wenige Orte oder Situationen übrig bleiben, bei denen du dich sicher fühlst.

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Spätestens dann werden dich alle für verrückt erklären. Aber eigentlich schränkt dich die Angst schon zu dem Zeitpunkt völlig ein, an dem du deinen Papa holen musst, denn selbstständig schaffst du es einfach nicht, das kleine Krabbeltier aus dem Fenster zu schmeißen. Es schränkt dich schon ein, wenn du nicht einfach in den Keller gehen kannst, um eine Flasche Wein zu holen, aber dafür wird dich noch niemand verurteilen, denn schließlich ist die Angst vor Spinnen und Kellern weit verbreitet und bekannt.

Wie man merkt, hat Angst auch immer etwas mit gesellschaftlicher Akzeptanz zu tun. So sind Flugangst, die Angst vor Spinnen oder Mäusen definitiv die Ängste, die mehr Leute nachvollziehen können als die Angst vor Knöpfen, Autos oder ungeraden Zahlen, weil sie einfach stark verbreitet sind und mehr öffentliche Zuwendung erhalten, auch wenn sie nur eine andere Ausprägung des selben Problems sind. Gerade diese Zuwendung braucht es aber allgemein in diesem Bereich, denn als wäre die Angst nicht schon schlimm genug für die Betroffenen, so wird auch noch von Seiten der Gesellschaft nur wenig Verständnis aufgebracht. Oft ist es jedoch nicht nur fehlendes Verständnis, sondern die Leute ​machen sich über die Betroffenen lustig oder konfrontieren sie absichtlich mit ihrer Angst. Es ist an der Zeit, Aufklärungsarbeit zu betreiben, denn die meisten Außenstehenden meinen es nicht böse, sie können es schlichtweg nicht nachvollziehen. Bei den Betroffenen können sie mit ihrem Fehlverhalten jedoch schreckliche und unerwartete Emotionen, Handlungen oder Gedanken auslösen.

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Obwohl man als Betroffener genau weiß, dass einem nichts passieren wird, hält man diesen körperlichen Zustand kaum aus, weil es sich einfach richtig ekelhaft anfühlt.

Was passiert, wenn man sich als Betroffener in eine „Gefahrensituation" begibt, ist schwer zu erklären. Das eine Mal passiert nichts, ein anderes Mal hat man das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen oder einen Herzinfarkt zu erleiden. Der Herzschlag erhöht sich, der Puls rast, Übelkeit macht sich breit, die Sicht verschlechtert sich gravierend und man bringt kein Wort mehr heraus, weil man damit beschäftigt ist, nach Luft zu schnappen. Diese einladende Kombination nennt man dann Panikattacke. Obwohl man als Betroffener genau weiß, dass einem nichts passieren wird, hält man diesen körperlichen Zustand kaum aus, weil es sich einfach richtig ekelhaft anfühlt. Dagegen machen kann man nicht viel, außer irgendwie zu versuchen, sich zu entspannen oder abzulenken. Beides erscheint in einer solchen Situation jedoch wie ein schlechter Witz, auch wenn Sekunden zuvor noch alles in Ordnung war und man sich dessen auch völlig bewusst ist.

Natürlich kann man sich auch Beruhigungsmittel einwerfen, doch bis die wirken, ist eine durchschnittliche Panikattacke auch schon wieder vorbei. Lange macht ein Körper eine solche Reaktion einfach nicht mit. Entweder man flüchtet vor der Situation, die einem Angst macht oder man steht es durch. Flüchtet man, gibt man dem Körper quasi recht und man kann sich schon auf die nächste Panikattacke freuen. Mir wurde von einem Psychologen empfohlen, herumzuspringen, zu laufen und mich im Kreis zu drehen, bis mir schwindelig ist. So würde ich die körperlichen Symptome einer Panikattacke vortäuschen und merken, dass mir dadurch nichts geschieht. In diesem Moment wurde mir klar, dass man studiert und gelernt haben kann, was man will—man wird das Gefühl trotzdem nie nachvollziehen können, wenn man es nicht selbst erlebt hat.

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Leider erlebt diesen Zustand aber, wie erwähnt, jeder fünfte Österreicher. Im Laufe der Jahre habe ich mit unzähligen Menschen über Angst gesprochen und das Gefühl bekommen, dass es sogar noch mehr sind. Fast jeder konnte mir eine Situation nennen, in der er anscheinend ohne Grund in Panik verfiel und auch danach noch von der Angst, wieder eine solche Situation durchleben zu müssen, geplagt war. Bei den meisten blieb es jedoch bei wenigen solcher Vorkommnisse, unter anderem weil sie die Symptome auf körperliche Ursachen wie Kreislaufprobleme zurückgeführt haben. Das ist eigentlich ein ziemlich geschickter Selbstschutzmechanismus, der einen davor bewahrt, gleich komplett in die Angst-Spirale hineingesaugt zu werden. Denn wird man sich dessen bewusst, dass es sich bei den ganzen unangenehmen Gefühlen um Angst handelt, fängt es im Oberstübchen unweigerlich an zu rattern. Und alleine dieses Rattern macht einem schon Angst. Man verwickelt sich so lange in die seltsamsten Gedankenstränge, bis man sich irgendwann daran erhängt.

Im schlimmsten Fall sitzt man dann irgendwann arbeitslos da, ohne Freunde, ohne Liebe und überlegt, wie man sich am besten umbringen könnte.

Dass unter einer solchen Angst- oder Panikstörung auch das Sozial- und Berufsleben leidet, ist klar. Gehört man zu den pflichtbewussten Menschen, wird man zuerst Abstriche an seiner Freizeit in Kauf nehmen. Je nach Angst verzichtet man auf Urlaube, Partys oder Waldspaziergänge. Wird die Angst stärker oder bezieht sich allgemein auf eine Situation in der Arbeit, lernt man schnell sich Krankenscheine zu ergaunern oder sich seltsame Ausreden einfallen zu lassen. Auch einen Partner zu finden, der mit einer solchen Krankheit umgehen kann, ist nicht gerade leicht. Im schlimmsten Fall sitzt man dann irgendwann arbeitslos da, ohne Freunde, ohne Liebe und überlegt, wie man sich am besten umbringen könnte. Spätestens dann wird einem hoffentlich klar, dass man dringend professionelle Hilfe braucht. Jedoch schaffen es nicht alle, sich aus dieser Situation zu befreien. Wie viele Menschen sich aufgrund einer Angststörung umbringen, ist nicht belegt, aber jeder einzelne von ihnen ist einer zu viel, denn es gibt Hilfe in verschiedensten Formen: Klassische oder alternative Therapieformen, Treffen mit anderen Betroffenen, Internet-Foren, Medikamente, stationäre Aufenthalte in Kliniken und vieles mehr. Was hilft, muss leider jeder Betroffene selbst herausfinden, was oft einen jahrelangen Prozess bedeutet. Ich habe in den letzten sieben Jahren Handpuppen, verschiedene Medikamente und unzählige Therapiestunden hinter mich gebracht, aber als „gesund" kann ich mich eindeutig noch immer nicht bezeichnen.

Ich versuche offen und möglichst selbstbewusst mit meiner Krankheit umzugehen, um anderen Betroffenen indirekt durch mehr Akzeptanz von Außenstehenden zu helfen und hoffe, dass Angststörungen irgendwann auch so offen behandelt werden wie Burnout in den letzten Jahren. Die vielschichtige Krankheit wird dadurch nicht bekämpft, aber erträglicher gestaltet, da Betroffene nicht mehr das Gefühl hätten, von niemandem verstanden zu werden oder sich verstecken zu müssen. Weiters würde ein öffentlicher Diskurs dazu beitragen, dass Betroffene sich frühzeitiger und ohne Schamgefühl in Behandlung begeben würden, was die Heilung deutlich erleichtern und beschleunigen kann.

​Soforthilfe des Psychosozialen Notdienstes
​Angst Selbsthilfe in Wien
​Selbsttest auf Angst- oder Panikstörung
​App zur Selbsthilfe der Universität Bristol


Titelbild: psyberartist via photopin cc