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Ein Psychologe erklärt, warum sich Leute schlechte Tattoos stechen lassen

Klischee-Tattoos sind „ein bisschen wie eine Schmusedecke, die deinem Leben Bedeutung gibt", sagt Dr. Kirby Farrell.
Ein Tattoo wird gestochen

Foto: Lindsay | Flickr.com | CC BY 2.0

Tattoos sagen dir alles, was du über die Gesellschaft wissen musst, die sie hervorgebracht hat—und die Welt erlebt gerade eine Welle besonders schlechter Tattoos. Es gibt keine Zahlen, die das bestätigen, vermutlich weil noch niemand draufgekommen ist, eine solche Studie durchzuführen, doch es scheint definitiv der Fall zu sein, dass wir heute mehr schlechte Tattoos haben als jemals zuvor. Wo man nur hinsieht, tragen die Leute Klischeemotive, dumme Zitate, Namen von Exen (erinnerst du dich an „Winona Forever"?) oder Sätze, die falsch in andere Sprachen übertragen wurden. Und manche haben auch einfach willkürlich irgendwelche Buzzwords im Gesicht. Oder sogar die Namen von Pornoseiten.

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Um besser zu verstehen, was in einem Menschen vorgeht, der sich Stacheldraht an den Bizeps oder einen Schmetterlings-Arschgeweih stechen lässt, habe ich mit Dr. Kirby Farrell, einem Dozenten an der University of Massachusetts gesprochen, der auf Anthropologie, Psychologie und Geschichte im Hinblick auf menschliches Verhalten spezialisiert ist. Sein neuestes Buch, Berserk Style in American Culture, behandelt die Ausdrucksweise einer posttraumatischen Kultur in der amerikanischen Gesellschaft.

VICE: Hi, Kirby. Warum interessierst du dich für schlechte Tattoos?
Kirby Farrell: Ich interessiere mich hauptsächlich für das, was man vielleicht als „die Anthropologie des Selbstwertgefühls und der Identität" bezeichnen kann. Ich betrachte Tattoos also als eine Methode, mit der Menschen versuchen, sich in der Welt bedeutungsvoll zu fühlen. Ich arbeite viel mit den Werken von Ernest Becker—hast du je von seinem Buch gehört, für das er einen Pulitzerpreis gewonnen hat? Es heißt The Denial of Death.

Ja, ich habe davon gehört.
Sein Grundargument ist, dass wir unter den Tieren einzigartig sind, weil wir als einzige Spezies die Last des Bewusstseins der Zukunft, der Sinnlosigkeit, des Todes, und so weiter, tragen müssen. Wir erfinden ständig Abwehrmechanismen. Kultur ist ein Abwehrmechanismus gegen Gefühle der Überforderung, der Sinnlosigkeit und des bevorstehenden Unheils. Kulturen stecken voller Werte und Schönheit, die dir das Gefühl geben können, dass dein Leben wichtig ist und trotz seiner begrenzten Dauer eine nachhaltige Bedeutung haben wird. Man könnte also sagen, Tattoos sind ein Ausdruck des Heldentums oder der Individualität.

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Und wie schlägt sich das dann in einer Epidemie schlechter Tattoos nieder?
Ich schätze, viele Leute würden sagen, ihre Tattoos sind zum Andenken an jemanden oder etwas. Zum Beispiel eine Songtextzeile als Tattoo. Die Phrasen stellen sich natürlich als absolut unerträgliche Klischees heraus. Sie sagen dir also, du sollst ein starkes Individuum sein, indem du all die anderen Tiere da draußen imitierst, die sich die Haut mit Klischees verzieren.

Wo kreuzen sich also diese beiden Wege: Eigentlich wollen die Leute ihre eigene Bedeutung und Individualität zum Ausdruck bringen, und am Ende machen sie das genaue Gegenteil, indem sie sich das zulegen, was wir als „schlechtes Tattoo" oder „klischeehaftes Tattoo" ansehen?
Ich denke, die Fantasie, besonders und einzigartig und wichtig und heroisch zu sein, wird verkompliziert, wenn man in einer Kultur lebt, die diese Werte feiert. Wir bombardieren ständig andere Länder, um unsere „Freiheit" zu bewahren, was vermutlich so viel bedeuten soll wie Individualität. Doch gleichzeitig ist unsere Kultur extrem konformistisch. Firmen versuchen ständig, ihre Marken dem öffentlichen Bewusstsein einzuprägen. Wenn du dir also zum Beispiel ein dummes Klischee aus einem Popsong tätowieren lässt, wie „I'll love you forever" oder „Don't be an imitator" oder so, dann brandmarkst du dich im Grunde genommen mit industrieller Unterhaltung, denn Rockbands sind, wie wir wissen, eigentlich Profitmaschinen, vorne Modelgesichter und dahinter das Kapital der Unterhaltungsbranche.

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VIDEO: Was Kurt wohl zu deinem „I Hate Myself and Want to Die"-Tattoo sagen würde? Wir haben uns mit dem Filmemacher hinter der neuen Cobain-Doku unterhalten.

Aber warum tun die Leute das dann?
Eine Antwort darauf ist, dass wir extrem soziale Lebewesen sind. Du darfst bei all dem nicht vergessen, dass das Ich keine Sache ist, sondern ein Ereignis. Wenn du tief schläfst, dann existiert das Ich nicht wirklich. Die Neurochemie für das Ich ist nicht da. Aus dieser Perspektive betrachtet fühlen wir uns also am echtesten, wenn andere Menschen uns Bestätigung und Sicherheit geben und uns in unserer Identität bestärken. Denken wir mal an die sozialen Rituale, die wir durchführen. Wenn jemand „Hallo, wie geht's?" sagt und die andere Person „Gut, und dir?", dann erwartet niemand tatsächliche Informationen. Es ist einfach nur eine Bestätigung, dass ihr beide existiert und einander anerkennt. Tattoos funktionieren ähnlich. Sie lenken Aufmerksamkeit auf dich und geben dir das Gefühl, echt zu sein, selbst wenn dir die Aufmerksamkeit das Gefühl gibt, Teil einer riesigen Gruppe zu sein. Ein Tattoo sagt dir, dass du sozusagen zu einem Stamm der Tätowierten gehörst, die total schön und wichtig sind. Vielleicht hast du sogar mit einer anderen Person Symbole gemeinsam! Und wegen des ganzen Marken-Phänomens fühlst du dich schlauer als die anderen, die nicht genug wissen, um dein Produkt oder deine Mode zu kaufen.

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Kultur versucht, uns ständig mit Fantasien von Einzigartigkeit und Heldentum zu verführen.

Es klingt ein wenig so, als würdest du die Kultur selbst als Klischee bezeichnen. Wenn wir uns also an die soziale Kultur anpassen, holen wir uns schlechte Tattoos.
Kultur versucht, uns ständig mit Fantasien von Einzigartigkeit und Heldentum zu verführen. Du fühlst dich in Versuchung, einen neuen BMW zu kaufen, weil du dich damit auf der Straße heldenhaft fühlen würdest. Du stichst aus der Menge hervor. Die Menge—das sind nur normale Leute, die werden eines Tages sterben und vergessen werden. Doch dich sehen alle an, du bist im Rampenlicht, du bist der Held. Und wenn man die Perspektive ein klein wenig anpasst, dann sieht man, dass diese Dinge es gleichzeitig normalen Leuten erlauben, Heldenverehrung zu betreiben. Du wirst dazu angehalten, sie zu erkennen und zu bewundern, die Reichen, die Heldenhaften, die Prestigeträger, und wenn du sie bewunderst, dann wird daraus „meine Musik" oder „meine Frisur" oder „meine Produkte". Im Grunde nimmst du Teil am Zauber der fetischistischen Macht der Sache, die du bewunderst.

Also ist es eigentlich so, als würden die Leute mit Täuschung dazu gebracht, einer Bewegung der Heldenverehrung beizutreten.
Na ja, ob du „getäuscht" wirst oder nicht, das hängt wahrscheinlich davon ab, wie du die Bedeutung von Klischees und Zugehörigkeit einschätzt. Wenn du dir zum Beispiel eine Zeile aus deinem Lieblingssong stechen lassen willst, dann ist es fast schon sicher, dass du eine gewisse Emotionalität und Bewunderung für diesen Song hast. Eine Art warme, romantische Ekstase. Man hört oft, dass jemand sagt: „Es hat eine besondere Bedeutung für mich." Es ist eine Art emotionaler Nimbus, der das Objekt umgibt.

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Warum ist dieses Gefühl wichtig für unsere Identität?
Ich denke, die Leute haben Angst vor der Zukunft und klammern sich an ein vertrautes Ritual, einen vertrauten Spruch, oder ein vertrautes Klischee, das ihnen bedeutungsvoll erscheint. Es ist ein bisschen wie eine Schmusedecke, die deinem Leben Bedeutung gibt, wenn du eine Zeit lang schlechter Dinge bist oder auf etwas Positives hinarbeitest. Doch so oder so, das Klischee scheint kein Klischee zu sein. Es scheint eine besondere Bedeutung zu haben.

OK, ich wechsle mal ein wenig das Thema. Tätowierungen gibt es seit Jahrtausenden und wir finden sogar Hinweise darauf, dass frühe Menschen welche hatten. Glaubst du, dass es etwas Angeborenes im menschlichen Wesen gibt, das dazu führt, dass wir uns tätowieren wollen?
Auf jeden Fall. Die circa 5.000 Jahre alte Leiche, die gefroren und gut erhalten in den Alpen gefunden wurde—er ist in einem Museum in Italien, du kannst ihn dort besuchen—, hat neuesten Erkenntnissen zufolge eine große Anzahl Tätowierungen auf der Haut. Die meisten sind abstrakte Muster. Es gibt aufgrund ihrer Verteilung auf [Ötzis] Körper die Hypothese, dass sie dazu da waren, ihn von körperlichem Unbehagen wie Arthritis abzulenken. Oder sie könnten möglicherweise eine Art magische Bedeutung gehabt haben. Wenn man darüber nachdenkt, dann ist eigentlich fast unser ganzes Verhalten in gewisser Hinsicht magisch. Du fühlst dich stärker, kompetenter und wohler in deiner Haut, wenn du dir vorstellst, dass deinen Symbolen, deinem Slogan, deiner Marke eine besondere Bedeutung innewohnt. Es hebt die Stimmung.

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Hältst du das für angeborenes menschliches Verhalten?
Definitiv. Als Menschen sind wir ständig am Rande einer existentiellen Panik. Becker schrieb, wir würden verrückt werden, wenn wir die Welt realistisch sehen könnten und dadurch verstünden, wie verletzlich und aus kosmischer Sicht unwichtig wir wirklich sind. Also brauchen wir ständig Geschichten, die das Selbstbewusstsein aufbauen und uns das Gefühl geben, etwas zu bedeuten—und genau das ist es natürlich, was Kultur uns liefert.

Schlechte Tattoos sind also ein Ergebnis dieses Verteidigungsmechanismus.
Ja, genau. Sie sind eine physische und künstlerische Repräsentation von Werten, mit denen du dich identifizieren kannst. Im Moment leben wir in einer Welt, in der es immer wieder diesen aufbrausenden Rassismus gibt, wie wir ihn in den Staaten seit den 1960ern oder dem Bürgerkrieg [hundert Jahre zuvor] nicht mehr wirklich gesehen haben. Die Arbeitsbedingungen sind für die Leute im unteren Bereich der Hierarchie sehr brutal, anspruchsvoll und persönlichkeitsfeindlich. Du fühlst dich nicht wirklich so, als hättest du ein Anrecht auf eine eigene Identität. Also empfinden diese Leute einen besonders starken Druck, in Bereichen, in denen die Kultur ihnen nicht wirklich hilft, ihre eigene magische Bestätigung zu finden. Wir sehen Geld und Unfälle und Tode und Schuld, dabei wollen die Menschen sich sicher fühlen und das Gefühl haben, dass sie für ihre eigene Welt, für ihr persönliches Selbstwertgefühl und Wohlergehen, verantwortlich sind.

Viele Tattoos wirken ganz schön kurzsichtig. Wie vereinbaren die Leute innerlich die Permanenz eines Tattoos mit der eigenen Sterblichkeit?
Viele Menschen, vor allem sehr junge, stellen sich vor, dass sie für immer jung sein werden. Denn wenn die Magie, von der wir sprechen, wirklich funktioniert, dann kannst du dich sozusagen unverwundbar und unsterblich fühlen. Und es ist schon ein Klischee, dass Teenager denken, sie werden für immer leben; deswegen gehen sie verrückte Risiken ein und nehmen Drogen und so weiter. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie erwachsen werden und anders aussehen werden als das kulturelle Ideal. Sie müssen sich nie Sorgen um Krankheit oder Pflegebedürftigkeit oder andere Schwierigkeiten machen. Sie müssen sich nie ums Altwerden sorgen oder damit klarkommen, dass ihre Chancen, ihre Fähigkeiten und ihre Fantasien allesamt schwinden.

Glaubst du, dass es sich dabei um eine Reaktion auf Angst handelt, oder ist es tatsächliche jugendliche Einfalt?
Meinst du nicht, es ist beides?

Ich schätze schon.
Du hast Angst, doch du willst nicht zugeben, dass du Angst hast, denn das könnte deiner empfindlichen Verfassung schaden. Eine beschädigte Verfassung macht dich weniger effektiv, weniger sicher, weniger produktiv, und so weiter. Also streitest du ab, dass du Angst hast. Der wahrscheinliche Grundmechanismus unserer Kultur ist es, so zu tun, als sei alles in Butter und als hätten wir keine Angst.

Aber wir haben Angst.
Ja, absolut. Wir leben in einer Zeit, in der die Leute scheinbar so ein Verlangen nach Selbstwertgefühl und Anerkennung und Selbstbewusstsein haben, dass sie gewillt sind, wirklich bizarre oder dumme Dinge zu tun und zu sagen, einfach weil sie sich dadurch von der Masse abheben. Sie fühlen sich dadurch einzigartig und wichtig und lebendig.