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Popkultur

Kann man seinen Vater lieben, auch wenn er ein hochrangiger Nazi war?

Eine neue Doku folgt zwei Männern, deren Väter große Rollen im Nationalsozialismus inne hatten. Einer glaubt, sein Vater ist zu Recht hingerichtet worden, der andere glaubt, sein Vater sei einer „guter Nazi" gewesen.

Horst von Wächter (links) und Niklas Frank (rechts) schauen auf ein Massengrab in Schowkwa, Ukraine. Aus ‚What Our Fathers Did: A Nazi Legacy'

Niklas Frank kann sich nur an ein einziges Mal erinnern, dass sein Vater, Hans Frank, ihm so etwas wie Zuneigung zeigte. Das war, als er ihm als kleiner Junge einen Klecks Rasierschaum auf die Nase machte. Der Rest seiner Kindheitserinnerungen ist geprägt von Krieg, der kaputten Ehe seiner Eltern und der vereinnahmenden Karriere seines Vaters als Hitlers Rechtsanwalt und Generalgouverneur des besetzten Polen, genannt wurde er auch „Schlächter von Polen" oder „Judenschlächter von Krakau".

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Horst von Wächters Vater, Otto Wächter, war ebenfalls ein hochrangiger Nazipolitiker. Er war einer von Hans Franks Stellvertretern, Gouverneur von Krakau und später Gouverneur von dem von Nazis besetzten Galizien. Wenn Horst sich an seine Kindheit erinnert, denkt er vor allem an die Zeit in ihrem Haus am See in Österreich und an einen Vater, den er bewunderte. Nein, Horst gehört keineswegs zu den Nazi-Sympathisanten oder Holocaustleugnern—er weigert sich lediglich, seinen Vater als einen Massenmörder zu sehen. Für ihn war Otto Wächter ein guter Mann—ein „guter Nazi".

Jahrzehnte später werden beide Männer von Philippe Sands in der Dokumentation What Our Fathers Did: A Nazi Legacy zusammengebracht. Sands hat selbst eine Holocaust-Vergangenheit: Sein Großvater, ein ukrainischer Jude, war der einzige aus einer 80-köpfigen Familie, der überlebt hat. Zusammen reisen die Drei durch Europa, um sich mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren.

Am 20. November ist der 70. Jahrestag der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher, bei denen auch Hans Frank verurteilt und anschließend exekutiert wurde. Otto Wächter suchte Zuflucht im Vatikanstaat, wo er später verstarb.

Der Film fragt, wie wir unparteilich über jemanden urteilen können, der uns so nahe ist, und wie unsere Erinnerungen und unsere Moralvorstellungen von den Komplikationen der Verwandtschaft und Abstammung beeinflusst werden können. Wir haben uns mit dem Regisseur des Films, David Evans, über die Entstehungsgeschichte der Dokumentation, die unerwarteten Emotionen, die dadurch zu Tage gefördert wurden, und die Art unterhalten, wie zwei Männer mit der schrecklichen Vergangenheit ihrer Väter umgehen.

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Horst von Wächter, Philippe Sands und Niklas Frank

VICE: Du hast bislang vor allem bei Fernsehserien Regie geführt. Warum jetzt so ein Film?
David Evans: Das hatte eigentlich nur persönliche Gründe. Philippe kannte Niklas und Horst schon lange, bevor er sie mir gegenüber erwähnt hatte. Als er dann von ihnen sprach, sagte er wortwörtlich: „Ich kann wirklich nicht glauben, was für Geschichten diese Männer über ihre Eltern erzählen." Ich glaube, er hat mir auch davon erzählt, wie Nik ständig ein Foto von seinem gehängten Vater mit sich rumtrug. Philippe war von Niklas unglaublich fasziniert. Horst kannte er damals noch nicht so gut.

Er sagte dann quasi, dass wir sie filmen sollten, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Es müsse einfach jemand aufzeichnen, was diese Männer über ihre Väter sagen. Und da wir es nicht mit jungen Männern zu tun hatten, musste das sofort passieren. Als wir dann vor zwei Jahren mit den Dreharbeiten begannen, hatten wir keine Ahnung, was uns erwarten würde.

Es ist relativ klar, warum Niklas bei dem Film mitwirken wollte—er hat sich ja schließlich von der Nazivergangenheit seiner Familie distanziert. Aber was ist mit Horst?
Wir wussten, dass es zwischen Horst und Niklas einen Unterschied gab. Niklas hatte 1987 das Buch Der Vater. Eine Abrechnung veröffentlicht—im Endeffekt eine einzige lange Tirade gegen seinen Vater. Das war uns also bekannt und es war auch bekannt, dass Niklas das einzige Mitglied seiner Generation aus Nazikindern war, das so extrem war, so voller Hass gegen seine Eltern. Einige der anderen Kinder hatten sich ebenfalls schon zu Wort gemeldet. Es gibt einen sehr guten Dokumentarfilm des israelischen Regisseurs Chanoch Ze'evi, Meine Familie, die Nazis und Ich, in dem sich Nik neben anderen Vertretern seiner Generation schon zu Wort gemeldet hatte.

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Horst hingegen hatte sich dazu entschieden, darüber zu schweigen—wie so viele Menschen, deren Familien schwer in die Regierung der Nationalsozialisten verstrickt waren. Horst hatte nie ein öffentliches Forum gesucht, um eine Aussage zu machen, wie er sie schließlich am Ende unseres Films tut. Er wurde quasi von mir und Philippe auf diese öffentliche Bühne geführt. Es war ein Moment der Erkenntnis für Horst, als er quasi vor der Wahl stand, ähnlich wie Niklas über seinen Vater zu reden. Horst konnte—oder wollte—es einfach nicht.

Hättest du geahnt, wie weit Horst gehen würde, um seinen Vater zu verteidigen?
Diese Frage impliziert, dass Horst besser wusste, was in seinem Kopf vorging, als ich denke, dass er das tat. Während der 18 Monate andauernden Dreharbeiten wurde Horst immer entschlossener und immer festgefahrener, was seinen Standpunkt anging. Er war richtig entrüstet und resolut dabei, das Ansehen seines Vaters zu verteidigen. Nicht nur wussten wir im Vorhinein nicht, dass eine so aggressive Konfrontation zwischen den beiden Männern geschehen würde, sondern, und da bin ich mir sicher, wussten Niklas, Philippe und Horst das auch nicht.

„Wir dachten, dass Horst innerlich zusammenbrechen, weinen und sagen würde: ‚Ihr habt Recht. Es ist furchtbar. Ich fühle mich so schuldig.' Wir lagen falsch."—David Evans

Es gibt eine Szene, in der Philippe eine öffentliche Debatte zwischen Niklas und Horst moderiert. Man kann sehen, dass es das erste Mal ist, dass Horst mit der blutigen Vergangenheit seines Vaters konfrontiert wird. Es ist ziemlich schwer zu ertragen.
Hattest du Mitleid mit Horst?

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Vielleicht ein wenig. Es hat auf jeden Fall wehgetan, das mitanzusehen.
Horst ist so … er ist unglaublich empathisch. Horst umgibt diese Aura der Verletzlichkeit, was man auch in dem Film sehen kann. Bevor du dich also versiehst, bist du schon verunsichert, bei welchem der beiden Männer deine Sympathien liegen.

Als er [in der Debatte] angegriffen wird, sagt Horst so etwas wie: „Mir ist egal, was Sie denken. Ich stehe nur auf dieser Bühne, weil ich es als Sohn als meine Pflicht sehe, den Ruf meines Vaters zu verteidigen." Wir dachten immer, dass unser Film an dieser Stelle seinen Höhepunkt haben würde. Wir dachten, dass Nik Horst verbal etwas an den Kopf werfen würde und Philippe dann einschreiten und ihm mit ruhiger Mine eine Menge Beweise präsentieren würde, woraufhin Horst innerlich zusammenbrechen, weinen und sagen würde: „Sie haben Recht. Es ist furchtbar. Ich fühle mich so schuldig." Wir lagen falsch. So funktioniert Horst einfach nicht. Er ist niemand, der die Nazis verteidigt oder den Holocaust leugnet, aber er ist fest davon überzeugt, dass in der Führungsriege der Nazis auch gute Menschen gewesen sein können.

War der Film von Anfang an als Charakterstudie und weniger als Geschichtsdokumentation oder sogar Film über Nazis geplant?
Wir sahen keinen Sinn darin, diesen Film vor allem vom Holocaust handeln zu lassen, weil wir nicht wüssten, was wir den schon bestehenden Filmen darüber noch hinzufügen könnten. Man kann wohl davon ausgehen, dass niemand, der sich diesen Film anschauen wird, nicht weiß, was der Holocaust ist. Ist er eine Charakterstudie? Ich bin mir nicht sicher. Für mich geht es in dem Film um den Zusammenhang zwischen Erinnerung, Gerechtigkeit und Liebe. Es ist ein Film darüber, wie unser Verhältnis zu Menschen, die wir lieben—oder denken, dass wir sie lieben sollten—, uns die Fähigkeit nimmt, neutral über jemanden zu urteilen. Man sieht dort Philippe, einen hochprofessionellen Juristen für internationales Recht, der es nicht schafft, seine Unbefangenheit zu bewahren. Er kann nicht anders, als sich das alles zu Herzen zu nehmen. Sobald einem etwas wichtig ist, kann man nicht mehr gerecht darüber urteilen.

So sehr der Film auch diese unangenehme Reise zur Selbsterkenntnis dokumentiert, handelt er auch von einem jüdischen Anwalt, der versucht, Erinnerungen einzufangen und eine tiefe Beziehung zu einer verlorenen Generation zu finden, mit der er nur sehr leicht über seinen Großvater verbunden ist—mit dem er übrigens nie über das Thema gesprochen hat. Ich hoffe, die Stärke des Films ist, dass er einen reflektieren lässt, wie sehr das eigene Urteilsvermögen getrübt ist—wie viel leichter es ist, über die Fehltaten anderer Menschen zu urteilen, je größer die eigene Distanz dazu ist.

Philippes eigene Familiengeschichte spielt auch ein wichtige Rolle in dem Film.
Ja, das tut sie. Jedes Mal, wenn ich eine Vorführung des Films sehe, fällt mir wieder die Positionierung der Männer auf—wie die drei sich umeinander im Raum bewegen. Als sie an dem Grab stehen, fühlt es sich so an, als würden Horst und Niklas magnetisch von Philippe angezogen werden—als könnte er den beiden Männern dabei helfen, einen über ihnen hängenden Schatten zu bewältigen, der für sie ansonsten nicht greifbar ist. Das funktioniert nur, weil Philippe direkt bei ihnen ist. Der Film baut auf dieser Dynamik zwischen den drei Männern auf. Philippe sollte einem nicht aus dem Off sagen, was man zu denken hat—die Werte hier sind alle relativ.

Was sollen die Zuschauer aus dem Film mitnehmen?
Es gibt keine Botschaft. Ich habe während der Arbeit an dieser Dokumentation gemerkt, dass es vor allem mit der eigenen Vorstellungsgabe zu tun hat, einen Film zu sehen und sich auf einen Film einzulassen. Es geht um Empathie, und darum, sich selbst in die Lage einer anderen Person zu versetzen und Szenarien zu durchleben, die man hoffentlich nie wirklich erleben muss. Wie furchtbar muss es sein, solche Menschen als Eltern zu haben? Hier kann man diese Männer mitfühlend begleiten und versuchen herauszufinden, warum sie so sind, wie sie sind—und das ist es, worum es in dem Film wirklich gehen sollte.