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Blinde Passagiere auf dem Weg nach Europa

Auf meiner Fähre von Marokko nach Spanien gab es Stunden Verspätung, weil sich Flüchtlinge versucht haben aus dem Wasser an Bord zu schmuggeln.

Seit Jahrzehnten reisen nun schon selbsternannte Individualisten nach Marokko, um sich vom Fremdartigen inspirieren oder einfach nur volldröhnen zu lassen. Die Beatles, die Stones, Bob Marley und Jimi Hendrix sind schon in den 70ern nach Marokko gefahren. Auf dem Rückweg, auf der Fähre von Tanger nach Tarifa in Südspanien, wird einem allerdings klar, dass man Europa gar nicht wirklich verlassen muss, um etwas sehr Zutreffendes über die Situation dieses Landes zu lernen. Denn diese Fähren, die täglich zwischen den beiden Kontinenten pendeln, gelten als umkämpfte Archen—als die letzten möglichen Rettungsbote, die in Anbetracht eines vermeintlichen Untergangs des afrikanischen Kontinents nun deren Bewohner in ein gelobteres Land retten sollen. Als ich spätabends nach endlosem Warten, mit einer Diarrhoe im Gepäck und 15 gerauchten Zigaretten, nach der Passkontrolle durch den marokkanischen Hafen Tangers in Richtung der letzten Fähre nach Europa laufe, beginnt schon der Prolog zu diesem sich wohl täglich abspielenden modernen Drama: Zwei Männer sprinten aus der Fähre an mir vorbei, dicht gefolgt von zwei trillerpfeifenden und schwerfälligen Polizisten. Der Uniformierte gibt bereits nach wenigen Metern auf, zu oft schon muss er das erlebt haben. Der etwas filigranere in zivil, mit einer aerodynamischen Sportbrille ausgerüstet—wohl ein Zeichen guter Vorbereitung—, verschwindet den beiden Flüchtigen hinterherhechelnd im Dunkeln. Ich wundere mich, was da wohl los ist, doch zunächst kein Plan. Unter Deck angekommen warte ich meinen Kopfhörern lauschend auf das Ablegen der Fähre und das Ende meiner Reise. Doch der außerordentlich schrille Klang von Trillerpfeifen der marokkanischen Exekutive, inklusive deren arabischem Gebrüll, schallt konstant weiter durch die Nacht. Somit gehe ich genervt erneut an Deck und schließe mich einer Gruppe rauchender, sich unterhaltender Marokkaner an, die—schaulustig übers Geländer hängend—das Wasser beobachten. Unwissend darüber, was da vor sich geht, beginne ich, ihren Blicken zu folgen und was sich da unten im Meer abspielt, erinnert an einen nächtlichen Überraschungsangriff, an Kriegsspiele auf See. Ich zähle an die sieben Personen, die da im dunklen Meer um die mehr oder weniger beleuchtete Fähre schwimmen, schwarz, in Tauchermontur gekleidet, ständig abtauchend, auftauchend, sich immer wieder der Fähre nähernd, umkreisend und entfernend. Eine Choreographie der Verzweiflung, da an Deck und an Land der Gegner steht: Es sind an die fünf Polizisten, die überall verteilt versuchen, mit Schlagstöcken, Taschenlampen und frisierten Trillerpfeifen die Freibeuter abzuwehren und zu verscheuchen. Auf Nachfrage erfahre ich, dass es sich nicht um Piraten oder mögliche Drogentransporte, sondern um Versuche handelt, als blinde Passagiere mit der Fähre nach Europa zu gelangen. Das Deck dient den marokkanischen Landsleuten und einer Handvoll Touristen als Tribüne—wie eine Art Aussichtsplattform zu diesem sysiphalen Wasserballett. Viele von ihnen drehen Videos und machen Fotos von dem Spektakel. Es wird gejohlt, gewettet und gestaunt. Einer der Jungs mit abgeschnittenen Taucherflossen schafft es, sich irgendwo in der Maschinenkammer, die man durch einmal Luftholen und Tauchen erreichen kann, zu verstecken. Einer der Polizisten wiederum schlägt als Antwort über eine halbe Stunde mit seinem Stock durch eine Luke in die Kammer, bis sich der Eindringling ergibt und schimpfend davon schwimmt. Ein Anderer klettert gerade an der Reling hoch, als er von Weitem einen stockschwingenden Polizisten näherkommen sieht und sich nur mit einem Sprung in die Dunkelheit des Meeres retten kann. Natürlich kann die Schnellfähre, von so viel Leben umringt, nicht ablegen. Das ganze Treiben hat dennoch paradoxerweise etwas sehr Komisches. Die Gegner unterhalten sich miteinander, während sie versuchen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Manche kannten sich wahrscheinlich schon vorher, denn es wird teilweise sogar zusammen gescherzt. Irgendwann gehe ich aufs Schiffsklo, gelangweilt von so viel Realität. Am Waschbecken steht ein circa vierzigjähriger Marokkaner, der sich gerade mit Klopapier die Schuhe trocknet, ansonsten aber relativ frisch wirkt. Mir wird klar, dass die großen Bäuche der planschenden, potentiellen Immigranten nicht auf süßen Tee und Kuskuskonsum, sondern auf versteckte Plastiktüten mit frischen Klamotten zurückzuführen sind, die jeder unter seinem Taucheranzug trägt, um bei erfolgreicher Mission schnell wie ein normaler, trockener Passagier aussehen zu können. Der angenässte Mann sieht aus wie ein bürgerlicher Familienvater mit Brille und ist gut gekleidet. Es ist nicht zu übersehen, dass er sehr nervös ist. Ich lächle ihn an als Zeichen, dass er sich meinem Schweigen sicher sein kann und gehe wieder an meinen Platz. Einer hat es also tatsächlich an Bord geschafft und das Schiff geentert. Nach ungefähr zwei Stunden ist dann die Schlacht endgültig geschlagen und ein Trupp von schwarzen Schwimmflossen entfernt sich von der Fähre. Die versammelte Meute jubelt, die Kippen fliegen ins Meer, der Motor geht an und die Fähre legte ab. Wie viele weitere blinde Passagiere es nun letztendlich an Bord geschafft haben, bleibt unklar.

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