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Occupy Turkey

Wir haben aufgehört, als Propaganda-Sprachrohr für Erdoğan zu arbeiten

Als Angestellter der offiziellen Nachrichtenagentur der Türkei ist man durch staatliche Anordnungen dazu verpflichtet, Lügen und nichts als Lügen zu verbreiten.

Eine Demonstration für Internetfreiheit im Februar (Foto von Charles Emir Richards)

„Journalisten gesucht für internationale Nachrichtenagentur“, hieß es in einem Stellenangebot im Guardian. In einer Branche, in der Jobs rar sind, bewirbt man sich für so ziemlich jede Vollzeitstelle, die man finden kann. Bereit, „Geschichte zu schreiben“, zogen wir ein paar Monate später nach Ankara, wo wir als die ersten internationalen Journalisten in die Agentur Anadolu (AA) aufgenommen wurden.

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Seit Januar waren wir dafür eingestellt, englischsprachige Nachrichten zu verfassen, doch schon bald wurde uns klar, dass wir zu englischsprachigen PR-Beratern wurden. Bezüglich der Innenpolitik—und insbesondere hinsichtlich Syrien—waren die Ansichten der Redaktion so regierungsnah, dass wir ebenso gut Pressemitteilungen hätten schreiben können. Zwei Monate später hörten wir die schwachsinnige Rede von Vize-Premierminister Bülent Arınç bei einer Veranstaltung im Londoner Chatham House. Er sprach über Pressefreiheit und spielte die Zahl der verhafteten Journalisten in der Türkei herunter. Kurz darauf hatten wir die Gelegenheit, geschäftlich nach London zu reisen. Wir ergriffen die Chance und reichten die Kündigung ein, sobald wir britischen Boden betraten.

Die 1920 gegründete Agentur Anadolu war einmal der Stolz des Landes. Heute repräsentiert sie nicht mehr als ein paar Fäden im Marionettenspiel der AKP. Die meisten türkischen Fernsehsender stehen unter staatlichem Einfluss. Die wenigen oppositionellen Sender müssen jederzeit damit rechnen, dass ihnen die Lizenz entzogen oder der Zutritt zu wichtigen Ereignissen wie zum Beispiel Wahlen verboten wird, die davon ablenken könnten, wie großartig die türkische Regierung ist.

Der türkische Medienregulator RTUK hat eine Geldstrafe über die Netzwerke verhängt, die Filmmaterial von den Protesten im Gezi-Park ausgestrahlt haben. Ironischerweise besteht dieser Überwachungsapparat aus neun „gewählten“ Mitgliedern, die von politischen Parteien vorgeschlagen werden. Je mehr Sitze im Parlament sie haben, desto stärker ihr Einfluss.

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Pressekanäle, die nicht vom RTUK schikaniert werden, können sich auf persönliche Interventionen von Premier Tayyip Erdoğan freuen. 2009 wurde der Mediengruppe des unabhängigen Medienmoguls Aydin Dogan, die sich aus mehreren Zeitungen und Fernsehkanälen, CNN Türk und einer Nachrichtenagentur zusammensetzt, wegen Steuerhinterziehung mit einer Geldstrafe von 4,5 Milliarden Euro belegt. Wie der Zufall es wollte, fand die Steuerprüfung statt, nachdem eine der Plattformen der Mediengruppe über den Spendenskandal der in Deutschland tätigen Hilfsorganisation Deniz Feneri berichtet hatte, bei dem drei türkische Geschäftsmänner 18 Millionen Euro veruntreut hatten und wegen Steuerbetrugs verurteilt wurden.

In einer kürzlich geleakten Aufnahme hört man, wie Erdoğan seinen ehemaligen Justizminister auffordert, Dogan eine Lektion zu erteilen. Seitdem ist dessen Medienimperium gefesselt und geknebelt.

Im Februar griffen Polizisten hart gegen Protestanten durch, die in Istanbul für Meinungsfreiheit demonstrieren. (Foto von Charles Emir Richards)

Bei Berichten über innenpolitische Themen verlassen sich internationale Medien zunehmend auf lokale Quellen. Abgesehen von den Gezi-Protesten, bei denen es beinahe so viele „Live-Blogs“ wie Demonstranten gab, stammt ein Großteil der Nachrichten von Today’s Zaman, der größten englischsprachigen Zeitung in der Türkei. Die Führung der Nachrichtengruppe steht in enger Verbindung mit dem islamischen Lehrer und internationalen Bildungsmogul Fethullah Gülen. Der ehemalige Mitstreiter der AKP lebt mittlerweile in seinem selbstgewählten Exil in Pennsylvania.

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Zur Zaman-Mediengruppe zählen auch die türkischsprachige Zeitung Zaman, die Nachrichtenagentur Cihan sowie verschiedene Zeitschriften, Publikationen und Webseiten. Today’s Zaman, eine Zeitung, die in gutem und zugänglichem Englisch verfasst war und westlichen Humor mit Sichtweisen aus Istanbul kombinierte, gab internationalen Lesern Einblicke in innenpolitische Angelegenheiten in der Türkei. Gleichzeitig stellte die Mediengruppe aber auch ein Sprachrohr der Regierung dar—zumindest bis Erdoğan und Gülen sich zerstritten und die Zusammenarbeit damit beendet war.

Ein paar Jahre und Leaks später wechselte die Zaman-Nachrichtengruppe die Seite und fing an, Erdoğan mit Schlamm zu bewerfen. Aus dessen Perspektive eignet sich die Zeitung nun natürlich nicht mehr als primäre Nachrichtenquelle für westliche Journalisten. Die Regierung brauchte eine neue Agentur, aus der die internationalen Medien ihre Informationen ziehen konnten und über die die Regierung die komplette Kontrolle hatte.

Hier kommt die Nachrichtenagentur Anadolu ins Spiel, und mit ihr die englischsprachigen Redakteure und der neue Generaldirektor Kemal Öztürk. Öztürk ist der ehemalige Presseberater Erdoğans, der gern Ministerrat wäre und angeblich stolzer Besitzer eines Viertels der Agenturanteile ist. Die restlichen 75 Prozent der Firmenanteile gehören dem Staat, sagt Aydın Ayaydın, Abgeordneter der Oppositionspartei CHP. Anadolu hingegen will weiterhin als Privatunternehmen gelten. Nach Angabe der Agentur gehören dem Fiskus weniger als 50 Prozent der Anteile. Obwohl das Unternehmen öffentliche Gelder zur Deckung der Personalkosten einstreicht, werden die Finanzen nicht überprüft. Und das obwohl, wie wir bei einem Treffen erfuhren, „niemand genau weiß, wem all die Aktien gehören—sie sind von [dem früheren türkischen Präsidenten Mustafa] Atatürk weitergegeben worden.“

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Da die Agentur über exklusive Kontakte zu Ministern verfügt, die sich zuweilen auf dem blauen Teppich der Agentur fotografieren lassen, können innenpolitische Angelegenheiten umgehend öffentlich gemacht werden. Der Umgang mit Quellen, oftmals der schwierigste Teil der journalistischen Arbeit, war dabei ein Kinderspiel: „Ich habe es vom Außenminister, also ist es wahr.“ Weitere Nachforschungen sind damit überflüssig. Der Grundsatz der Agentur war letztlich: Stell bloß keine Fragen.

Bei außenpolitischen Themen hatte die Agentur eine entspanntere Herangehensweise. Sie verfügt über Korrespondenten auf der ganzen Welt, die von wo immer sie wollten berichten durften. Natürlich gab es ein paar geringfügige Grundsätze zu beachten: Erwähne niemals den Völkermord an den Armeniern; britische Dschihadisten gelangen nicht über Istanbul nach Syrien; Russland sollte für die Unterstützung des syrischen Regimes verurteilt werden—aber nicht zu sehr, denn die Türkei mag russisches Öl und Gas.

Bei einer Demonstration für Internetfreitheit im Februar wirft ein Aktivist ein Geschoss auf Polizisten. (Foto von Charles Emir Richards)

Ein gutes Beispiel für die Methoden der Inlandsredaktion zeigte sich, nachdem Tonbänder an die Öffentlichkeit gelangten, auf denen man angeblich ein Gespräch zwischen Erdoğan und sein Sohn hört, die darüber sprechen, wie sie einen „erheblichen“ Geldbetrag beiseite schaffen können. Die Übersetzer gerieten in Panik und versuchten, die englischsprachige Welt über die wahren Zusammenhänge in Stand zu setzen—denn die Aufnahmen waren ja—wie sollte es auch anders sein—gefälscht.

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Die ausländische Presse hat bekanntlich Schwierigkeiten, von Innen über die Ereignisse in der Türkei zu berichten. Selbst die BBC hat nur einen einzigen offiziellen Korrespondenten in Istanbul. Am Tag, als das besagte Telefonat an die Öffentlichkeit kam, zitierte die BBC die „Nachrichten“ von Anadolu als „Stellungnahme aus dem Büro des Premierministers“—und verlinkte sie mit der Seite der AA. Trotz aller Ironie zeigt das Versehen, über was für einen Einfluss die Agentur verfügte.

Der National Union of Journalists (NUJ) zufolge gibt es noch immer 44 Journalisten in der Türkei, die für das ruchlose Verbrechen festgehalten werden, dass sie ihren Job erledigen. Der stellvertretende Premierminister Bülent Arınç behauptete demgegenüber, dass nur 26 Presseleute im Gefängnis sitzen—für „so unwichtige Verbrechen wie die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation [oder] Diebstahl“. Bei seiner Rede im Februar im Chatham House sagte Arınç: „Es liegt in der Verantwortung von Journalisten, sich von Verbrechen und Gewalt fernzuhalten, um in keine rechtlichen Verfahren verwickelt zu werden.“

Dementsprechend sollte man also lieber davon absehen, über Straßenkämpfe zwischen Demonstranten und Polizisten zu berichten.
Barry White, NUJ-Vertreter beim europäischen Journalistenverband, sprach ebenfalls über die Hang der türkischen Regierung, Journalisten einzusperren: „Es hat eine sehr einschüchternde Wirkung—Journalisten fürchten, dass, wenn sie etwas schreiben, ihre Redaktion von der Regierung angerufen wird, was bedeuten kann, dass sie gefeuert werden oder dass ihnen das Verfassen von derartigen Artikel sinnlos erscheint, weil sie ohnehin nicht gedruckt werden.“

Für die türkischen Medien ist jedoch nicht nur die staatliche Kontrolle der Pressekanäle ein Problem, sondern auch die Oppositionspresse. Seit Dezember 2013 arbeitet Gülens Presseteam bei Zaman wie verrückt daran, Premierminister Erdoğan als korrupten Diktator darzustellen, der versessen auf Kontrolle und Unterdrückung ist. Ebenso unermüdlich sind die staatlichen Medien damit beschäftigt, das Bild eines undurchsichtigen „Parallelstaats“ zu zeichnen, der unter der Oberfläche operiert, um die Ansichten und Gedanken der schutzlosen türkischen Öffentlichkeit zu manipulieren.

Eine Schlagzeile der AA lautete vor Kurzem: „Türkischer Premier über Gülen: Wir werden in ihre Höhle vordringen und sie schnappen“. Es ist eine derartige Polarisierung, die ein Niemandsland moderater Nachrichtenquellen und Anschuldigungen von Fehlverhalten und Terrorismus hervorbringt. Der Patriotismus ist tief in der kulturellen Psychologie der Türkei verwurzelt. In vielen Hinsichten identifiziert sich die Türkei durch ihre Fähigkeit zum Selbstschutz. Das Gefühl einer Bedrohung von außen oder einer „fremden“ Kontrolle ist seit der Geburt von Atatürks Republik im Jahr 1923 im nationalen Bewusstsein.

Als Außenstehende halten wir Meinungsfreiheit für selbstverständlich. Wir sind Journalisten geworden, weil wir die Ansicht vertreten, dass die Presse eine Verantwortung trägt, Wähler zu informieren, Gewählte zu hinterfragen und Lesern akkurate Informationen zur Verfügung zu stellen. Aus genau diesen Gründen haben wir die Agentur verlassen und erzählen nun diese Geschichte.