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THE CROWN AND SCEPTER ISSUE

Tunesien will den Terror mit einer Mauer aufhalten

Elektronische Sensoren, Drohnen und Wachtürme: aber ist der Feind nicht schon längst im Land?

Tunesien errichtet Barrieren, Wachtürme und Gräben entlang der libyschen Grenze, um das Eindringen von Waffen und Terroristen aufzuhalten.

Aus der Crown and Scepter Issue

Meine Reise in die drittgrößte Wüste der Welt war lang und beschwerlich. Der Zug aus Tunis musste aufgrund von Gleisstörungen anhalten. Ich war gestrandet, doch zwei Polizisten erbarmten sich und nahmen mich mit in die nächste Stadt. Von dort brauchte ich mehrere Stunden in einem überfüllten taxi collectif nach Ben Gardane, eine Stadt, die ein wenig an den Wilden Westen erinnert.

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Die tunesisch-lybische Grenze beginnt 20 Kilometer von hier, am Grenzübergang Ras Adschdir. Sie ist insgesamt fast 500 Kilometer lang, ein von der Zentralregierung unkontrolliertes, riesiges Gebiet. Ein ausgeprägtes Schwarzhandelsnetzwerk operiert nahtlos zwischen den Menschen auf beiden Seiten, die in der Sahara zu Hause sind.

Über diese Grenze werden auch Waffen ins Land geschmuggelt. Terroristen wie Seifeddine Rezgui, der im Juni 39 Touristen tötete, überqueren sie mutmaßlich.

Und nun baut die tunesische Regierung eine Mauer, um sie aufzuhalten.

Manche Experten meinen, die Mauer werde wenig bringen, da viele Terroristen keine Grenzübergänge wie Ras Adschdir nutzen würden.

„Tunesien hat ein ernsthaftes Terrorismusproblem", sagte mir Mazen Cherif, ein Sicherheitsanalyst beim tunesischen Zentrum für globale Sicherheitsforschung. Der erste große Terrorangriff, Berichten zufolge von der tunesischen Terrorzelle Ansar al-Scharia verübt, traf 2012 die US-Botschaft.

Im März 2015 stürmten bewaffnete Männer das Nationalmuseum von Bardo in Tunis und töteten 23 Menschen. Wenige Monate später verübte Rezgui mit einer Kalaschnikow, die er zuvor in einem Sonnenschirm versteckt hatte, ein Attentat auf mehrere Hotels nahe Sousse. Beide Angriffe zielten auf Ausländer ab.

Laut Polizei wurden die Täter der Massaker von 2015 in Libyen ausgebildet und benutzten Waffen, die über die Grenze gekommen waren. Nach dem Anschlag bei Sousse verkündete die Regierung, sie werde eine Barriere zu Libyen bauen, um Terrorismus und Schmuggel zu bekämpfen.

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Der erste Teil der Mauer wird von Ras Adschdir 225 Kilometer nach Süden zum Grenzübergang Dahiba in Tataouine verlaufen. Die Regierung arbeitet seit Juli zusammen mit neun tunesischen Firmen und dem Militär an diesem Teil: eine Reihe Sandsäcke, die einen zwei Meter tiefen Graben schützt. Nächstes Jahr soll ein elektronisches Sensorensystem hinzukommen. Wachtürme und Drohnen werden die gesamte Mauer verstärken.

Laut dem tunesischen Premierminister Habib Essid ist Libyen Tunesiens „größtes Dilemma". Nach einem Bürgerkrieg, dem Sturz Muammar al-Gaddafis und einer Reihe NATO-geführter Luftangriffe ist Libyen in gesetzloses Chaos versunken, das Terrorgruppen ein gutes Mikroklima bietet, um zu gedeihen und Waffen zu schmuggeln.

Doch Tunesiens Sicherheitsprobleme sind genauso interner Natur. „Es ist leichter zu sagen, [der Terrorismus] käme aus Libyen, als zu sagen, wir hätten interne Probleme", sagte Abdel Karim Kebiri, ehemaliger leitender Berater bei der Internationalen Arbeitsorganisation der UN.

Wie in vielen anderen Ländern begann man in Tunesien in den 1980ern, den modernen Dschihad als ein Mittel zur Erreichung politischer und religiöser Ziele zu sehen. Die sowjetische Besatzung Afghanistans war hierzu ausschlaggebend: Dort machte der tunesische Terrorist Seifallah Ben Hussein (dessen nom de guerre Aboulyadh war) seine ersten Erfahrungen; er sollte einer der obersten Anführer von al-Qaida werden.

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Seit 2011 haben mehr als 7.000 Tunesier das Land verlassen, um sich im Irak, in Libyen und in Syrien dem Islamischen Staat anzuschließen. Terrorzellen sind innerhalb des Landes aufgetaucht—seit März hat die Polizei 16 davon entdeckt. 200 militärische Kämpfer, die mit dem IS in Verbindung stehen, operieren in der Region des Bergmassivs Djebel Chambi, wo regelmäßig Checkpoints mit Sprengvorrichtungen angegriffen und Waffen geschmuggelt werden.

Dann ist da die verbreitete Korruption, die den ohnehin schon schwachen Sicher­heitsapparat des Landes plagt. Mitte September wurden 110 Gesetzeshüter wegen Schmuggel- oder Terrorismusvorwürfen entlassen. Seit der Revolution 2011 hat die Korruption in Tunesien sogar zugenommen.

Wie kann eine Mauer all dem bei­kommen?

Zwar fliehen Tausende vor den Unruhen in Libyen, doch Hilfsarbeiter sagen, nur wenige seien 2014 über Landgrenzen nach Tunesien eingereist.

Der Großteil der Schmuggelware, die von Libyen nach Tunesien gelangt, ist banal: Haarmasken, Plastikfahrräder, ägyptische Kartoffeln, chinesische Turnschuhe. Der Süden des Landes wird von der Regierung in Tunis weitgehend ignoriert und leidet an Arbeitslosigkeit und Unterentwicklung, weshalb viele in Ben Gardane ihr Geld mit dem Schmuggel oder dem Verkauf der Ware verdienen. Menschen im ganzen Land wissen, dass es auf dem Freiluftmarkt Souk Libya reduzierte Waren gibt.

Seit der Revolution wissen sie auch, dass es hier Waffen gibt. AK-47 und Raketenwerfer werden im Schutz der Dunkelheit weitab von Grenzübergängen nach Tunesien gebracht. Ein Schmuggler fährt einen durch die Wüste. Er hat ein tunesisches Nummernschild und ist mit Essen beladen, im Fall einer Kontrolle.

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An der Grenze wartet ein zweites Auto, ohne Nummernschild und mit abgeschalteten Scheinwerfern. Die Fahrer tauschen Fahrzeuge und kehren in ihre jeweiligen Länder zurück. Einheimische erzählten mir, Fahrer könnten im Falle einer Kontrolle auf Bestechung zurückgreifen.

Der Waffenhandel hat ums Zehnfache zugenommen, seit dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali 2011. Zwar wurden bereits 1987 Waren durch die Sahara geschickt, nachdem sich das Verhältnis zwischen Ben Ali und Gaddafi normalisiert hatte, die dafür bekannt war, ihren luxuriösen Lebensstil auf größtenteils illegalem Wege zu finanzieren. „Nicht einmal eine Fliege kam über die Grenze", sagte mir Kebiri lachend.

Die meisten Sicherheitsexperten und Einwohner von Ben Gardane sind sich einig, dass die Mauer weniger Schmuggelware für Tunesien bedeuten wird. Für Bewohner der Grenzregion sind das schlechte Nachrichten.

Ein junger Verkäufer sagte mir: „Diese Mauer wird nicht nur eine Katastrophe sein, sie wird die Wirtschaft der Region buchstäblich zerstören … Die jungen Leute hier haben keine Hoffnung, keine Zukunft, keine Bildung, keine gesellschaftlichen Druckmittel. So haben sie kaum Ambitionen und sehen den Suk als ihre einzige Einkommensquelle."

Es erscheint plausibel, dass die Mauer dafür sorgen könnte, dass weniger Waffen die Grenze überqueren, doch nach Jahren des schwachen Grenzschutzes sind in beiden Ländern bereits viele Waffen gelagert. Weniger leicht zu beweisen ist, ob die Mauer die Zahl der Terrorangriffe reduzieren wird.

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Ahmed Ounaes, der ehemalige Außen­minister unter Habib Bourguiba sowie Ben Ali, sagte mir: „Die Mauer wird Wirkung zeigen … Ursprünglich war sogar ein riesiges, solides System geplant." Einwohner von Tunis sind ähnlich optimistisch. „Es ist eine logische Lösung", sagte ein Taxifahrer mittleren Alters. In Ben Gardane hingegen war der pensionierte Verkäufer Beshir der Einzige, der mir optimistisch mitteilte: „Die Mauer wird sehr effizient sein, und es wird keine Terroristen mehr geben."

Andere Einwohner waren ungläubig, wollten jedoch ungern über die Mauer und den Terrorismus sprechen. Sie sagten mir, die meisten Terroristen würden die Grenze im Süden überqueren, weitab von der Mauer. Karim Mezran, ein Analyst für Tunesien und Libyen des Washingtoner Thinktanks Atlantic Council, sagte: „Terroristen fliegen meist erster Klasse in ihre Zielländer."

Die Mauer könnte Tunesien vielleicht vor der Gewalt abschirmen, die in Libyen herrscht, doch als Verteidigungsmechanismus wirkt sie wie eine sehr oberflächliche Lösung. Wie ein junger Student aus Ben Gardane sagte: „Der Terrorismus ist größer als die tunesische Polizei. Diese Leute haben Waffen, die wir uns gar nicht vorstellen können. Außerdem ist die Ideologie an sich viel größer als die Mauer."

Sicherheitsanalyst Cherif stimmt ihm zu. „Das Problem ist in Tunesien. Wenn wir eine Barriere zwischen Algerien und Libyen errichten, gibt es immer noch Terroristen in Tunesien, die bereit sind, für ihre Mission und für Gott zu sterben."

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Flüchtlinge versammeln sich am Grenzübergang Ras Adschdir zwischen Libyen und Tunesien. Im nur 20 Kilometer entfernten Ben Gardane kaufen Einheimische reduzierte Schmuggelware aus Libyen.

Seit der Revolution von 2011 hat die Wirtschaft gelitten. Die Angriffe von 2015 haben dem Tourismus massiv geschadet, und das Bruttosozialprodukt ist gesunken. Trotz der Rezession baut Tunesien eine Mauer, deren Effektivität unsicher ist, für mehr als 75 Millionen Euro.

Die ersten 5 Millionen sollen mit Steuergeldern finanziert werden—ein großer Betrag in der aktuellen Wirtschaftslage. Quellen teilten mir mit, die Regierung versuche, für den Rest des Projekts Gelder aus Europa, vor allem aus Deutschland, zu bekommen. (Die deutsche Botschaft in Tunesien antwortete nicht auf Presseanfragen.) Der französische Militärzulieferer Thales Group soll Gerüchten zufolge mit der tunesischen Regierung zusammenarbeiten; die Firma lehnte einen Kommentar dazu ab.

Von der EU kommt allerdings keine finanzielle Unterstützung für das Projekt. Samia Boulares, Presserepräsentantin der EU-Delegation in Tunesien, dementierte jegliche Beteiligung der EU.

Es ist im Interesse der europäischen Länder, Tunesiens Terrorproblem in den Griff zu bekommen, da es sich übers Mittelmeer ausbreiten könnte. Doch mehrere Sicherheitsexperten wiesen darauf hin, dass der Entscheidung keine gründliche Untersuchung vorausgegangen sei. „Das ist keine wissenschaftliche Strategie", sagte Cherif. „Es ist lediglich materiell gesehen die einfachste."

„Es ist nur eine symbolische Geste, die nichts bedeutet", fügte Mezran hinzu. „Die Regierung versucht, den Einwohnern und der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, dass sie nicht untätig ist."

Physische Barrieren können vielleicht in manchen Bürgern und Bürgerinnen Zuversicht auslösen und die EU beschwichtigen, doch eine Mauer kann nur Teil einer umfassenden Strategie sein, welche die Ursachen des Terrorismus bekämpft, den schwachen und korrupten Sicherheitsapparat des Landes überholt und Mittel zur Verfügung stellt.

Wie Cherif seufzend sagte: „Was kann man mit einer Mauer schon machen? Eine Mauer ist gar nichts."

Erstes Foto von Tassnim Nassri/Anadolu Agency/Getty Images, alle anderen Fotos von Fredrik Naumann/Panos Pictures