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Popkultur

Cholombians

Klebrige Koteletten und Stoner-Cumbia in Nordmexiko.

  ENRIQUE „PELÓN“ OLVERA

Ein kleiner Puff und Händler, die raubkopierte DVDs, Heimpornos und gefälschte Polohemden feilbieten, bestimmen die direkte Nachbarschaft der „Kolumbianischen Botschaft“ in Monterrey, einem kleinen Stand auf der Avenida Revolución. Der Besitzer der „Botschaft“, ein Typ namens Mario Durán, hat jeden nur erdenklichen Schnickschnack im Angebot, der den Weg von Kolumbien nach Mexiko gefunden hat: T-Shirts, „I [heart] Barranquilla“-Autoaufkleber, Fahnen, Schlüsselanhänger, Airbrushbilder von tropischen Landschaften, Strohhüte, Trommeln und Guacharacas—aber vor allem Cumbia-Musik. Seit den 1960ern tanzen Monterreys Bewohner (vor allem die der Arbeiterviertel La Independencia und La Campana) zu kolumbianischer Cumbia. Wie genau die nördliche Industriestadt zu Mexikos Cumbia-Hauptstadt wurde, ist umstritten. Einer Theorie zufolge lud eine Gruppe Wanderarbeiter in San Antonio ein paar kolumbianische Kollegen ein, Weihnachten in Monterrey zu feiern, und diese brachten dann einen Stapel Platten von daheim mit, um die Party zu rocken. Eine andere Version, die allerdings von den meisten vehement bestritten wird, geht davon aus, dass die Platten zusammen mit Kokainlieferungen für die USA nach Mexiko gelangten. Gabriel, der inzwischen über 60 ist, hat immer noch einen Straßenstand, wo er T-Shirts, raubkopierte CDs und seine eigenen Mixtapes verkauft. Er erzählte, wie in den 60ern auf einer Party sein Kassettenrekorder heiß lief, sodass sich die Musik verlangsamte. Von da an wollten alle nur noch langsame Versionen seiner Mixtapes, die Cumbia rebajada war geboren. Laut Toy Selectah, der quasi Mexikos Antwort auf Diplo ist, waren diese Stoner-Cumbias der Ausgangspunkt für das, was DJ Screw in den 90ern in Houston betrieb. Jeden Sonntagnachmittag treffen sich ein Haufen mexikanischer Colombianos vor dem 7-Eleven am Fuß des Wolkenkratzers Edifício Latino in Zentrum Monterreys, nachdem sie das Wochenende in den Bars und Clubs der Stadt durchgetanzt haben. Inspiriert von den „Cholos“—Angehörigen der hispanischen Gang- und Hip-Hop-Kultur in L.A.—und irgendwelchen mythischen Vorstellungen von den kolumbianischen Tropen, besticht ihr Klamottenstil durch riesige karierte Shirts, Hawaii­hemden und Dickies, die der Bezeichnung „baggy“ alle Ehre machen. Dazu nach Möglichkeit farblich abgestimmte Chucks und Schnürsenkel (ein Typ kombinierte seine vier Paar Chucks abwechselnd mit sieben verschiedenfarbigen Schnürsenkeln) und auf dem Kopf ein selbst gestaltetes Basecap, das so eng gestellt wird, dass es ihnen nicht wirklich auf den Kopf passt, sondern eher locker auf den Haaren sitzt. Jeder Zentimeter des Caps ist übersät mit gesprühten und gestickten Schriftzügen, darunter der Name des Trägers, der seiner Freundin, seiner Clique, der Radiostation, die er hört, des Viertels, aus dem er kommt usw. Einige Colombianos tragen außerdem Escapularios, Halsketten mit auf Stoff aufgenähten Ikonenbildern von Schutzheiligen wie St. Judas Thaddäus, der Madonna von Guadalupe, der zunehmend beliebteren Santa Muerte und sogar Pancho Villa. Anfangs waren diese Ikonenbilder kaum von denen zu unterscheiden, die Mönche tragen, sie entwickelten sich aber schnell zu gigantischen selbst gemachten Bannern, die wie die Caps als Werbeflächen für eigene Botschaften genutzt werden. Cliquennamen wie Los Temelocos, La Dinastia de los Rapers, Foxmafia und Latinaz sind in riesigen Lettern auf 30 x 30 Zentimeter große Stoffstücke gestickt. Bei einem Typen entdeckten wir die Zahl 10.90 auf seinem Escapulario. Ich fragte ihn, ob das seine Lieblingsradiostation sei, und er klärte mich auf, dass die Zahl ein Code für Toluol sei, ein Stoff in Farbverdünnern, von dem man high wird. Der wichtigste Bestandteil des Colombiano-Stils ist der typische Haarschnitt, der sich zu gleichen Teilen beim amerikanischen Hip-Hop, puerto-ricanischen Reggaeton und antiken Darstellungen von Aztekenkriegern bedient. Der Hinterkopf ist bis auf einen Rattenschwanz im Nacken rasiert. Auf dem Kopf sind die Haare kurz und stachelig mit einem sorgfältig geschnittenen Emo-Pony, der an einen Romulaner erinnert. Das Wichtigste aber sind die langen, Snoopy-mäßigen Koteletten, die oben auf dem Kopf anfangen und mit ekelerregenden Mengen Haargel an die Wangen geklebt werden. Das Ganze nennt sich dann Estilo Colombiano. Abgesehen vom ein oder anderen Lösungsmitteljunkie, ist Monterreys Colombiano-Szene ziemlich entspannt. Zum Beispiel hängen die Jugendlichen vor dem 7-Eleven rum, weil ihre Lieblingsradiostation XEH 1420 AM aus dem 20. Stock des Gebäudes sendet, in dem sich der Supermarkt befindet. Aus einer Telefonzelle rufen sie den ganzen Nachmittag lang dort an, um sich Songs zu wünschen und Listen mit zig Namen ihrer Freunde und Freundinnen vorzulesen, die sie grüßen wollen. Im Gegensatz zu anderen nordmexikanischen Musikgenres, wie zum Beispiel den Narcocorridos, die unverhohlen die örtlichen Drogendealer und ihre Gewalttaten feiern, handeln die Songs der Colombianos von Liebe, Frieden und Freundschaft. Wie der Rest von Mexiko ist auch Monterrey von Konflikten geprägt. Die Drogenkartelle verbarrikadieren die Hauptstraßen mit Wohnwagen, Granatenexplosionen sind keine Seltenheit, und in einigen Clubs, hat sich die Drogenmafia breitgemacht. Die Atmosphäre ist spürbar geladen, und wenn, wie im Fall von Monterrey, noch eine ausgeprägte soziale Kluft dazukommt, werden Leute, die sich anders anziehen oder benehmen, nicht selten diskriminiert. Viele der Jungs erzählten uns Geschichten von Soldaten oder Polizisten, die sie geschlagen und ihre klebrigen Koteletten mit Scheren oder Messern abgeschnitten haben. Viele von ihnen haben sich inzwischen die Haare abrasiert und verzichten auf die Baggy Pants, um den Schikanen zu entgehen. Aber die widerspenstigeren Colombianos lassen sich auch von solchen Erfahrungen nicht unterkriegen, schmieren sich unermüdlich Gel in ihre Koteletten und tanzen zu den aufreizend langsamen Beats ihrer Stoner-Cumbias die Nächte durch. Unsere neue Show Picture Perfect präsentiert ab diesem Monat unsere Lieblingsfotografen, wie zum Beispiel Stefan. Besonderen Dank an Amanda Watkins.

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