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Musik

Ein offener Brief an Cem Özdemir

Cem Özdemir findet, dass konservative Politiker nicht auf Rock'n'Roll-Konzerte gehen sollten. Aber ist Rock'n'Roll nicht längst genauso konservativ?

Lieber Herr Özdemir,

ich treibe mich normalerweise nicht sehr häufig auf Ihrer Facebook-Seite rum, aber diese Woche tauchte plötzlich ein von Ihnen verfasster Post in meinem Sichtfeld auf.

Ich kenne Sie nicht persönlich, deswegen möchte ich nicht allzu groß spekulieren, was Sie veranlasst hat, in aller Öffentlichkeit so etwas zu verlautbaren. Aber ich kann mir denken, woher die Motivation kam: Es gibt für einen Fan (egal ob von Musikern, Filmen oder Fußballmannschaften) kaum etwas Schlimmeres, als zu erfahren, dass der Feind Fan derselben Sache ist.

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Ich gehe nun einmal davon aus, dass Sie gern Bruce Springsteen hören. Vielleicht mögen Sie auch AC/DC. Kann ich nachvollziehen, niemand, der sich jemals mit Musik beschäftigt hat, wird die Rolle bezweifeln, die der Boss in der Entwicklung des Rock in den letzten Jahrzehnten gespielt hat. Das gilt natürlich ohne Einschränkung auch für AC/DC.

Andererseits liegt ja genau da das Problem: Die Stellung der Musiker in der Entwicklung einer Musikrichtung in den vergangen fünf (Bruce) beziehungsweise vier (AC/DC) Jahrzehnten. Wir reden hier grob über ein halbes Jahrhundert.

Herr Özdemir, Sie haben ja durchaus Recht, dass Rock‘n‘Roll ursprünglich nicht gerade ein konservatives Weltbild verkörperte—und auch heute macht sich Springsteen öffentlich für die eher linksgerichtete Politik Barack Obamas stark.

Trotzdem gehe ich soweit und behaupte, dass das Genre im Jahr 2013 tendenziell eher konservativ ist. Innovation? Fehlanzeige. Jugend? Selten. Gibt es da draußen irgendwo genuine Rockmusik (damit meine ich eben nicht irgendwelche mit Synthies und Four-to-the-Floor-Bassdrum aufgeblasene Zwitter), die die Suche nach etwas Neuem, gar die Idee des Futurismus transportiert? Nein. Und wenn es mal ein jugendlicher Rocker wie Jake Bugg in die weltweite Aufmerksamkeit schafft, dann nur, weil er klingt wie der junge Bob Dylan vor mehr als 50 Jahren. Das ist noch nicht mal konservativ, das ist reaktionär.

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AC/DC klingen seit mindestens der Hälfte ihrer 40-jährigen Bandgeschichte gleich, Bruce Springsteen ist innovativer, aber auch er hat nachgelassen. Ich will das keineswegs verurteilen, diese Musiker haben ihren Stil gefunden, sie haben ein Genre geprägt und sie bleiben sich treu. Sie konservieren ihren Sound.

Und das ist genau das, worauf ich hinaus will: Rock‘n‘Roll im Jahre 2013, lieber Herr Özdemir, ist ein konservatives Genre. Was Ihnen vielleicht schwerer fällt zu akzeptieren, aber genauso wahr ist: Auch die Fans von Rock‘n‘Roll im Jahr 2013 sind konservativ. Lesen Sie einfach mal den Rolling Stone, unterhalten Sie sich mit dickbäuchigen Mitvierzigern, gehen Sie auf ein Turbonegro-Konzert. Diese Leute legen sich nicht mehr mit ihren Eltern, der Gesellschaft, der ganzen Welt an, weil sie sich unverstanden fühlen. Diese Leute sind größtenteils mit dem zufrieden, was sie haben. Jetzt geht es darum, den Status Quo zu bewahren (oder gar einen noch besseren Zustand aus der Vergangenheit wiederherzustellen—hups, das ist ja auch die Agenda der Grünen!).

Also, selbst wenn es Ihnen nicht gefällt, KT zu Guttenberg und Christian Wulff sind bei Konzerten von Bruce Springsteen und AC/DC—wenn es nur um ihre politische Ausrichtung geht und darauf reduzieren Sie es ja schließlich selbst—viel besser aufgehoben, als Sie es nach eigener Ansicht sein dürften. Es sei denn, Sie geben zu, dass Konservatismus und Reaktionismus ein wichtiger Teil Ihrer Politik sind.

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Lassen Sie doch den Konservativen ihre konservative Musik. Wenn Sie dagegen auf der Suche nach etwas Neuem sind, möchte ich Sie herzlich einladen, diesen Mittwoch mit mir zum Konzert von A$AP Rocky zu gehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dort kein CDU-Mitglied treffen werden. Bock? Ich kümmere mich auch um die Gästeliste!

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