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DIE MUSIKAUSGABE

Der Musikkritiker Robert Christgau weiß, was er mag (und was er hasst)

Wenn du heute anfangen würdest, täglich eine Musikrezension zu schreiben, hättest du in 40 Jahren immer noch nicht so viele verfasst wie Robert Christgau.

Porträt von Hiroyuki Ito

Aus der Musik Issue 2016

Wenn du heute anfangen würdest, täglich eine Musikrezension zu schreiben, hättest du in 40 Jahren immer noch nicht so viele verfasst wie Robert Christgau. Der legendäre US-Journalist hat 15.000 Kritiken geschrieben und sein Wissen über Musikgeschichte hat enzyklopädische Ausmaße.

Christgau war einer der ersten Musikjournalisten, die Rockmusik ernst nahmen und ihr kritisches Auge auf die Popkultur als Ganzes richteten. Sein "Consumer Guide" erschien mehr als 30 Jahre lang monatlich in der Village Voice und wurde für junge Musik-Nerds zur Bibel. Seine Kritik konnte Musikkarrieren starten und beenden.

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Er ist ein berüchtigter

Griesgram

und seine Fähigkeit, ein ganzes Album mit wenigen poetisch-präzisen Sätzen zu zerlegen, hat ihm sowohl Bewunderung als auch Zorn eingebracht. Der Song "Kill Yr Idols" von Sonic Youth erhielt auf einer Platte den Titel "I Killed Christgau With My Big Fuckin' Dick".

Lou Reeds Live-Album von 1978 enthält eine Tirade, in der er Christgau unter anderem als Idioten und "Zehenficker" bezeichnet. Christgau hat sich davon nie aus der Fassung bringen lassen. Inzwischen schreibt er für Noisey und tritt an jede neue Kritik mit Enthusiasmus, intellektuellem Elan und Präzision heran.

VICE: Wenn du gerade am Anfang deiner Karriere stehen würdest, wie würdest du vorgehen?
Robert Christgau: Ich hasse es, darüber nachzudenken. Es ist eine schreckliche Zeit, über die Künste zu schreiben. Als ich mit dem Journalismus anfing, waren meine Ambitionen in gewisser Hinsicht literarisch. Ich war tief geprägt von den New Journalists, vor allem Tom Wolfe und Gay Talese. Aber solche Arbeit braucht Zeit.

Ich bin 74 Jahre alt. Ich bekomme Rente. Ich besitze diese Wohnung und zahle geringere Betriebskosten, als die meisten Leute. Ich könnte heute nicht von dem leben, was ich als Journalist verdiene, selbst wenn ich noch härter arbeiten würde. Ich habe schon 2000 den Leuten davon abgeraten, Musikjournalisten zu werden. Aber sie machen es trotzdem.

Was hast du am Anfang deiner Karriere getan, um so gut zu werden?
Ich musste nicht gut werden; ich war schon gut. Sieh dir meine Esquire-Kolumnen an, die sind sehr ausgereift. Damals hatte ich eine Vorliebe für eine gewisse Prägnanz—die Fähigkeit, kurz und witzig zu schreiben. Ich schätze, das mache ich immer noch.

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Wie wählst du aus dem großen Stapel aus, was du anhörst?
Ich möchte, dass meine Sinne die Musik auf einer vorbewussten Ebene aufnehmen. Dann erst sehe ich nach, was genau ich da vor mir habe. Ich will mit Alben die Erfahrung des Radiohörens nachstellen, also nutze ich einen CD-Wechsler. Ich vergesse, was alles drin ist, und lasse einfach etwas laufen.

"Ich habe schon 2000 den Leuten davon abgeraten, Musikjournalisten zu werden. Aber sie machen es trotzdem."

Treibst du dich auch in der digitalen Welt herum? Gehst du manchmal auf Bandcamp oder SoundCloud?
Nein. Ich gehe auf solche Seiten nur, wenn ich muss. Spotify muss ich verwenden, aber es gefällt mir nicht. Es ist unmöglich, die Musik dort richtig zu organisieren. Ich müsste Playlisten erstellen, und das erfordert Geschick und ist langweilig.

Kannst du ein paar deiner Lieblingskünstler der letzten fünf Jahre aufzählen?
Die meisten sind Rapper. Ich bin ein großer Nicki-Minaj-Fan. Und Kanye ist eine echte Nervensäge, aber auch ein Genie. Im Alt-Rock-Bereich denke ich sehr oft an Vampire Weekend. Und dann die ganzen Frauen aus dem Nashville-Umfeld: Lori McKenna, Miranda Lambert, Brandy Clark, Angaleena Presley, Kacey Musgraves, Ashley Monroe—eine umwerfende Reihe erstklassiger Songschreiberinnen.

Du hast mal erwähnt, dass du dieses Gefühl in der Magengrube kriegst, wenn du etwas besonders Gutes zum ersten Mal hörst …
Ja. The Avalanches haben zum Beispiel gerade ein neues Album veröffentlicht. Ich habe es auf Spotify gefunden und der dritte Track scheint einen Calypso-Song zu samplen, den ich noch nie gehört hatte. Großartig. Ich habe den Verdacht, der Rest ist nicht besonders gut, aber ich liebe diesen Song so sehr, dass ich darüber schreiben muss. Ich kriege dieses Gefühl also immer noch.

Eine meiner Gaben als Kritiker ist, dass ich Musik wirklich mag; ich bin immer noch offen und begeisterungsfähig. Ich bin kein gelangweilter Mensch und habe das Leben auch nicht satt. Und ich finde es sehr schade, dass ich schon so alt bin, denn das bedeutet, dass ich nicht mehr so viel Zeit habe. Daran denke ich oft.

Wenn man dir kein Geld mehr zahlen würde, um Alben zu rezensieren, würdest du es dann noch tun?
Ich denke nicht. Ich brauche Bezahlung. Zwischen Aufträgen habe ich schon Kritiken geschrieben, aber nicht so viele, wie ich hätte sollen. Was ich tue, macht viel Arbeit.

Aber du liebst es auch, oder?
Ich finde dadurch meine Mitte, würde ich sagen.

Ich kann mir vorstellen, dass diese Sätze ganz natürlich zu dir kommen, selbst ohne den letzten Schliff für die Veröffentlichung …
Mach dir da nichts vor, Madame. Sie tauchen nicht einfach so in meinem Kopf auf. Ich denke darüber nach. Ich sitze und grüble. Fällt mir mal einer fertig ein? Ja, aber die meiste Zeit muss ich mich hinsetzen und überlegen: "Wie soll mein erster Satz lauten?"