Es ist zu spät. Seit den 1980er Jahren sind Eisbären das traurige Symboltier des Klimawandels, in Kampagnen und Umweltschützer-Folksongs. Greenpeace, WWF und andere Organisationen warnten als die Eisbären erst weniger und dann dünner wurden. Jetzt haben Forscherinnen und Forscher der Universität Toronto festgestellt: In maximal 90 Jahren werden sie vermutlich ausgestorben sein.
Wir haben mit dem Ökologen Ralf Seppelt über die Eisbären, die Studie und die Zukunft der Biodiversität gesprochen. Seppelt ist Leiter der Abteilung Landschaftsökologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung und auf terrestrische Ökologie und Landnutzung spezialisiert. Er untersucht also, wie wir Menschen die Artenvielfalt zerstören – und was das wiederum für unsere eigenen Lebensräume bedeutet.
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VICE: Forscherinnen der Universität Toronto behaupten, dass wir im Jahr 2100 in einer Welt ohne Eisbären leben. Ist es wirklich schon soweit?
Ralf Seppelt: Ja, das stimmt. Die Studie ist sehr gründlich gemacht. Es gibt sehr gute Evidenz, wie weit Eisbären auf Nahrung angewiesen sind, je nach Größe, Länge, Gewicht und Nachkommen. Wenn sie nicht mehr vom Packeis aus auf Jagd gehen können, wird die Nahrung weniger. Wenn die Klimaerwärmung zunimmt, werden die Eisbärenweibchen länger fasten, ziehen sich aufs Festland zurück und müssen von ihren Fettreserven leben.
Woher wissen wir das aufs Jahr genau?
Das sind Grundprinzipien der Ökologie: Wie viel Energie brauche ich, damit eine Population erhalten bleibt? Über Statistik und Stochastik kann man das ausrechnen. Der Energiebedarf der Eisbären wurde zum Beispiel angewendet auf die zu erwartende Eisverteilung aktueller Klimaprognosen. Wenn das Meer 120, 130 Tage eisfrei ist, geht die Wahrscheinlichkeit, dass Eisbären in diesen Regionen überleben, schnell gegen Null.
“Derzeit ist die Aussterberate menschengemacht etwa hundertfach höher als natürlicherweise.”
Wie retten wir die Eisbären, wenn das Eis verschwindet. Im Zoo?
Damit rettet man maximal das Genpotenzial, aber es ist sicher nicht die Lösung. Es ist ein bisschen so wie diese Mammut-Debatte. Es gibt Menschen, die argumentieren, man könnte mit genetischen Methoden das Mammut wieder auferstehen lassen.
Das geht?
Im Prinzip wahrscheinlich technisch schon. Nur haben wir die Habitate gar nicht, in denen das Mammut dann artgerecht überleben könnte. Das löst also nicht das Artensterben. Das arme Mammut müsste im Zoo stehen – warum sollte man das wollen?
Auch die Dinosaurier sind einst ausgestorben. Warum ist das Artensterben, das wir jetzt erleben so problematisch – die Dinos fehlen uns ja auch nicht?
Völlig richtig. Natürlich sind die Dinosaurier ausgestorben – und viele andere Arten mit ihnen. 0,1 bis 2 Arten pro 1.000.000 Arten sterben pro Jahr natürlicherweise kontinuierlich aus und werden ersetzt durch solche, die neu entstehen.
Derzeit ist die Aussterberate aber – menschengemacht – etwa hundertfach höher als natürlicherweise. Deswegen heißt es oft, dass wir vor einer sechsten Aussterbewelle stehen. Jetzt könnte man sagen: So what? Der Mensch ist ja ohnehin die dominierende Spezies auf diesem Planeten, uns kann niemand etwas.
Aber wir machen damit auch unser eigenes Lebenserhaltungssystem kaputt. Wir brauchen ein Minimum an funktionierenden Ökosystemen, um hier weiterhin gut leben zu können. Angefangen von sauberer Luft und sauberem Wasser, bis hin zu unserer Kultur: Draußen im Grünen ist es einfach schöner als in der Wohnung. In den nächsten 50 bis 200 Jahren könnte uns dieses Lebenserhaltungssystem verloren gehen.
Nervt es sie eigentlich, wenn es immer nur um Eisbären geht? Ich habe gelesen, noch vor ihnen werden die Südamerikanischen Grauwangenpipra, das Gelbfuß-Felskänguru und der Goldschultersittich aussterben. Von denen spricht aber niemand.
Nein, denn der Eisbär bringt eine Botschaft rüber. Und er ist tatsächlich eine Schirmart, wie die Ökologen sagen: Er steht am oberen Ende der Nahrungskette. Die Existenz des Eisbären ist ein gutes Signal für alles, was darunter passiert.
Solche Indikatoren haben wir auch in Deutschland: die Schmetterlinge und Feldlerchen zum Beispiel. Die sagen einiges über unsere Landschaft aus, die Art und Intensität der Nutzung. Schmetterlinge sind schön und ikonisch. Man freut sich, sie zu sehen, viele Freiwillige und Liebhaber liefern uns dazu Daten – und verschwinden sie, steht dahinter eine Geschichte.
“Im kommenden Jahrhundert werden wohl etwa 500.000 bis eine Million Arten aussterben.”
Sie sind zum Beispiel ein guter Indikator dafür, wie es anderen Insekten geht. Schmetterlinge stellen ähnliche Ansprüche an ihre Umgebung, an die Landschaft wie Bienen, sind aber einfacher zu finden als eine Biene die gerade Apfelblüten bestäubt. Vor drei Jahren gab es eine Studie, die besagte, dass wir bereits 75 Prozent der Insekten in den letzten 20 Jahren verloren haben. Viele von ihnen kennen wir gar nicht und wissen nicht, welche Funktion sie haben.
Wie viele Tiere und Pflanzen sind denn weltweit gefährdet?
Im kommenden Jahrhundert werden wohl etwa 500.000 bis eine Million Arten aussterben. Das ist die Kernbotschaft des UN-Berichts zur Lage der Natur von 2019, an dem ich auch als Autor beteiligt war. Natürlich ist es schwer zu beweisen, dass es etwas nicht mehr gibt. Aber man kann gut ausrechnen, wie viele Arten es potenziell gibt und dann hochrechnen, wie viele aussterben werden.
Hat sich seit dem Bericht etwas getan?
Die Verhandlungen laufen noch, aber der Bericht hatte ziemlich aufgerüttelt. Im Oktober findet die Weltnaturschutzkonferenz in China statt. Dort sollen Maßnahmen beschlossen werden, vergleichbar mit der Klimakonferenz in Paris. Die Beschlussvorlage hat einige klare Ziele: Beispielsweise sollen 30 Prozent jedes Bioms, also geografischen Lebensraums, geschützt werden.
“Subventionszahlungen für Landwirtschaft und Fischerei in der Form wie wir sie heute haben, sind tödlich.”
Aber nicht alles ist Umweltpolitik: Wir konnten nachweisen, dass viele der Mittel die die Industrie für den Sojaanbau in Südamerika aber auch den illegalen Fischfang finanzieren, aus Steuerparadiesen kommen. Es gibt eine schlechte Finanzkontrolle für solche Prozesse. Auch diese Hebel muss man sich anschauen.
Also muss sich Finanzpolitik ändern, um das Artensterben aufzuhalten?
Absolut. Da gibt es ganz klare Hinweise für Zusammenhänge. Letztlich braucht es ein grundsätzliches Umdenken: Wachstum – obwohl es natürlich für viele Staaten notwendig ist – kann nicht auf einem weiteren Ressourcenverbrauch basieren. Ein weiterer Punkt ist ökologische Landwirtschaft. Subventionszahlungen für konventionelle Landwirtschaft und Fischerei in der Form wie wir sie heute haben, sind tödlich.
“In Brandenburg zum Beispiel wandert ja gerade der eine oder andere Wolf wieder ein.”
Merkt man das Artensterben eigentlich schon im Supermarkt?
Ja. Man kann beim Einkaufen darauf achten, was es an Gemüse und Obst gibt. Da liegen vielleicht vier unterschiedliche Kartoffelarten und sechs Sorten Äpfel. In Peru oder in einem anderen Land, in dem es noch Subsistenzlandwirtschaft gibt, sind das deutlich mehr. Landwirtschaft mit einer hohen Artenzahl ist pfiffig, geschickt und intelligent – und weniger risikobehaftet. Es gibt Studien, die besagen, dass mit wenigen Kulturen gar keine stabilen Erträgen mehr gegeben sind – und wir unsere Ernährungssicherheit riskieren.
Gibt es etwas, dass ich als Einzelperson und Konsumentin tun kann, um die Biodiversität zu erhalten – sollte ich seltene Kartoffelarten auf meinem Balkon ziehen?
Das ist keine schlechte Idee. Man kann auch mal unübliche Produkte kaufen, um zu zeigen, dass daran Bedarf besteht. Also nicht immer nur die Kartoffelsorte Sieglinde, festkochend. Auch solidarische Landwirtschaft zu unterstützen, den eigenen Fußabdruck zu verringern und sich politisch zu engagieren sind sicher richtige Wege.
Aber die Frage hat natürlich keine befriedigende Antwort. Denn das, was jeder Einzelne tun kann, ist OK aber hat nicht den großen Hebel, den wir derzeit benötigen. Wir müssen ändern, wie wir produzieren.
Welche Ökosysteme sind denn derzeit besonders bedroht?
Der Regenwald in Südamerika. Durch die politischen Konstellationen, die fortschreitende Abholzung, die vielleicht auch dazu führen kann, dass das gesamte Ökosystem kippt, weil der Wasserkreislauf nicht mehr so stark ist, dass er den Regenwald erhalten kann.
Die nächsten großen Umbrüche finden wohl in Sibirien statt, durch das Auftauen des Permafrosts: große Methanemissionen und Erosion. Gefährdet sind auch Riffe und vulnerable marine Ökosysteme. Kalifornien hat Probleme mit Wasser – auch das spüren wir vielleicht wieder im Supermarkt, weil Kalifornien der größte Produzent von Mandeln, Nüssen und Obst ist.
In Europa hoffen wir dagegen auf positive Effekte: Durch das Freihalten von Flächen. Also wenn Landwirtschaft nicht mehr effizient betrieben werden kann und Boden leer bleibt. In Brandenburg zum Beispiel wandert ja gerade der eine oder andere Wolf wieder ein.