Nur noch 48 Sekunden—Chronik des unwürdigen Großkreutz-Abschieds

Der Wechsel von Kevin Großkreutz vom BVB zu Galatasaray Istanbul ist perfekt. Doch, wie es jeder schon mitgekriegt haben sollte, darf der 27-Jährige wegen eines kleinen, aber schwerwiegenden Formfehlers erst ab dem 1. Januar für Gala spielen. Es klingt geradezu bizarr, aber Grund dafür waren technische Probleme bei der Einstellung des Transferantrags. Die notwendigen Unterlagen wurden wohl fristgerecht um 23:55:00 Uhr in das elektronische Transfersystem TMS hochgeladen, doch die Eingangsbestätigung war erst um 00:00:48 Uhr bei der FIFA. Und damit einfach 48 Sekunden zu spät. Galatasaray hoffte auf Gnade bei der FIFA, die aber keine walten ließ, da „nicht alle notwendigen Schritte zur Abwicklung dieses angedachten Transfers innerhalb des vorgeschriebenen Zeitfensters vollgezogen” wurden.

Großkreutz bleibt aber trotzdem ein Löwe, denn sowohl der Dortmunder als auch Galatasaray haben gegenüber dem BVB den Wunsch geäußert, den Wechsel zu vollziehen. Großkreutz hat seinen Dreijahresvertrag unterschrieben, kann allerdings zunächst nur am Training und Freundschaftsspielen teilnehmen und erst ab dem nächsten Transferfenster, das am 1. Januar 2016 öffnet, auch bei offiziellen Spielen auflaufen.

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Kevin Großkreutz gehörte im Juli letzten Jahres noch zum elitären Kreis der Fußballspieler, die in Brasilien die Weltmeisterschaft gewannen, fast 14 Monate später hat er so ziemlich alle Schattenseiten des Fußballgeschäfts durchleben müssen. Der Abschied von seiner Borussia wurde uns als harmonisch verkauft, doch im Verborgenen schlummert mehr—wie wenn Eltern ihren Kindern erzählen müssen, warum sie sich scheiden lassen. Was ist passiert, dass Kevin Großkreutz vom gefeierten Dortmunder Jungen mit Allrounder-Qualitäten und Kämpferherz zum eingekerkerten Türkeiurlauber wurde? Wir haben die traurigen Monate des Kevin Großkreutz dokumentiert:

13. Juli 2014:

Großkreutz wird, ohne eingesetzt zu werden, Weltmeister in Brasilien.

4. Februar 2015:

Am 19. Spieltag in der Bundesliga verliert der BVB zu Hause mit 0:1 gegen Augsburg und steht auf dem letzten Tabellenplatz. Großkreutz wird in der 60. Minute mit einem Müskelbündelriss verletzt ausgewechselt. Es war sein letztes Bundesligaspiel.

4. April 2015:

Großkreutz gibt sein Comeback bei der zweiten Mannschaft des BVB—sie verliert 0:2 gegen die Stuttgarter Kickers und Kevin wird in der 65. Minute ausgewechselt.

12. April 2015:

Großkreutz gewinnt mit der zweiten Mannschaft von Borussia Dortmund gegen Unterhaching mit 1:0. Es ist Großkreutz’ letzter Pflichtspielsieg im BVB-Trikot.

11. April 2015:

Großkreutz steht im Bundesligakader für das Spiel gegen Gladbach—wird aber nicht eingesetzt. Ohne die Hilfe von Großkreutz hat sich der BVB gefangen und steht auf dem zehnten Tabellenplatz mit nur noch vier Punkten Rücktand auf die internationalen Plätze.

30. April 2015:

Bei einer OP aufgrund anhaltender Kniebeschwerden wird dem gebürtigen Dortmunder eine Schleimhautfalte entfernt.

Screenshot instagram.com/fischkreutz/

21. Juli 2015:

Beim Testspiel gegen Luzern gibt er sein Comeback und spricht erstmals von einem Wechsel. „Ich bin einfach überglücklich. Zwischenzeitlich habe ich selbst gezweifelt, ob ich überhaupt zurückkomme. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob ich weiter bei Borussia Dortmund spielen werde oder nicht”, sagte er der Bild.

28. Juli 2015:

Der neue Coach Tuchel nominiert Großkreutz wegen seines Trainingsrückstands nicht für die anstehenden Europa-League-Quali-Spiele.

30. Juli 2015:

Großkreutz erklärt in einem Interview mit der Bild öffentlich, dass das Verhältnis zwischen ihm und dem BVB im Argen liege. „Ich bin tief enttäuscht, dass schon seit Wochen in Dortmund keiner mehr mit mir geredet hat. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob ich weiter für Borussia spielen werde oder nicht.”

30.Juli 2015:

Tuchel erklärt bei Sport1 nach dem 1:0-Sieg gegen Wolfsberg in der Europa-League-Quali, angesprochen auf Großkreutz’ Interview, dass er von ihm enttäuscht ist: „Da muss er von einem anderen Klub sprechen. Das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Da bin ich auch enttäuscht von ihm, dass er zum zweiten Mal den Weg über die &Oumlffentlichkeit sucht. Diesen Umgang miteinander hatten wir nicht vereinbart.”

31. Juli 2015:

Großkreutz antwortet noch in der Nacht auf Tuchels Interview. „Ich habe mir hier den Allerwertesten aufgerissen, ob als Fan oder Spieler! Das soll ich kaputt reden?! Niemals!”, schrieb er auf Instagram. „Es wurde gefragt, ob einer mit mir wegen meiner Vertragsverlängerung gesprochen hat? Meine Antwort: Seit Wochen hat keiner mehr mit mir gesprochen! Und natürlich bin ich enttäuscht! Ist dasselbe, wenn euch einer sagt, darfst nie wieder ins Stadion gehen! Nicht mehr und nicht weniger!” Die entscheidenden Sätze aber sind: „Natürlich kann es sein, dass ich wechseln werde! Ja, das kann passieren, aber wenn, möchte ich hier vernünftig gehen!” Das Tischtuch zwischen Tuchel und ihm scheint zerschnitten.

8. August 2015:

Dortmunds zweite Mannschaft verliert gegen Verl. Großkreutz schießt das entscheidende Eigentor zum 1:2.

25. August 2015:

Großkreutz läuft gegen seinen Ex-Verein Rot Weiss Ahlen das letzte Mal in Schwarz-Gelb auf. Das Spiel verlieren die BVB-Amateure mit 1:5.

31. August 2015:

Kevin ist in Istanbul und lässt sich mit Fans und Galatasaray-Fanschal fotografieren. Sein Vertrag mit dem BVB ist schon aufgelöst und der neue Vertrag in Istanbul unterschrieben.

1. September 2015:

48 Sekunden… Viele BVB-Fans hoffen noch, dass Großkreutz bleibt und sich in Dortmund durchbeißt.

2. September 2015:

Großkreutz gibt in einem rührenden Abschiedsbrief via Instagram bekannt, dass er nach Istanbul wechselt, aber erst ab dem 1. Januar spielberechtigt ist.

Er wünschte sich Gespräche mit dem Verein—auch für einen neuen Vertrag, jedoch wollte der BVB abwarten, was Neu-Trainer Tuchel von ihm hält. Spielerisch hatte er es als Verletzter unter lauter Hochbegabten im Mittelfeld schwer, Tuchel von sich zu überzeugen. Zudem wollte dieser unbedingt Gonzalo Castro holen, der ähnlich flexibel, aber erfahrener ist und subjektiv wohl stärker eingeschätzt wird. Spätestens seit den öffentlichen Aussagen und dem Zerwürfnis mit Tuchel, was alles noch von den Medien hochgebauscht wurde, war eine Trennung für alle Seiten das Beste. Tuchel mag keine Quertreiber, Großkreutz kein respektloses Hinhalten.

Der BVB zeigte bei der Personalie Großkreutz, dass der sportliche Erfolg oberste Priorität hat und ein neues Kapitel eingeläutet wurde, das ist legitim. Aber der Verein bewies auch, wie schäbig er nicht nur ein von den Fans geliebtes Idol, sondern auch einen verdienten, loyalen und aufopferungsvollen Spieler, der maßgeblich an den Erfolgen der letzten Jahre beteiligt war, einfach fallen ließ. Ein würdiger Abschied sieht anders aus.

Großkreutz wird sich das halbe Jahr Pause vom Fußball gründlich überlegt haben. Nach den turbulenten Monaten voller Verletzungen, Rückschlägen und seiner sportlichen Degradierung kann er sich wieder reinbeißen. Das zeichnete ihn als einen der unterschätztesten und authentischsten, aber auch polarisierendsten Spieler in Deutschland immer wieder aus. Um es im Fußballphrasendeutsch zu erklären: Er wird im Januar noch stärker zurückkommen. Und zur Not kann er sich in Istanbul den BVB ja im TV anschauen, denn eigentlich ist er Fan wie du und ich. Tränen lügen nicht.

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