FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Darf ein Indie-Spiel die Kreditkarten seiner Spieler plündern?

​Cordial Minuet ist ein okkultes Online-Casino, in dem ihr nur nach Geldeinsatz mitspielen dürft und in dem ihr nur das Geld gewinnt, was andere verlieren.
Bild: Screenshot Cordial Minuet

Es gab Zeiten, da wurden Menschen von Jason Rohrers Spielen zu Tränen gerührt. Bekannt wurde er 2007 durch das Retro-Game Passage, eine gemeinfreie Lebenslaufsimulation über Liebe, das Leben und Partnerschaft. Seitdem hält er sich und seine Familie mit Kunstspielen über Wasser. Reich wird er dabei nicht. Er verkauft sie für wenig Geld an eine überschaubare Gemeinde zahlungswilliger Fans. Vielleicht auch deshalb hat Jason Rohrer nun ein Online-Casino eröffnent. Mit echten Geldgewinnen heizt er den Spielern ein und veranstaltet einen Wettbewerb zum Start der Spielbude. Ist das der Ausverkauf? Hat der renommierte Indie-Entwickler Rohrer sich in seiner künstlerischen Vision verzettelt? Zumindest ignoriert Rohrer damit einige ungeschriebene Regeln bei der Entwicklung von Kunstspielen. Unter den unabhängigen Spielemachern gibt es solche, die sich vor allem kreativ selbst verwirklichen wollen—die sind meist gemeint, wenn man von „Indie-Studios" redet. Solche Indies bringen ihre Titel in aller Regel zu fairen, übersichtlichen Bedingungen auf den Markt. Viel wird über Einmalzahlungen verkauft, Modelle wie Free-to-Play mit In-Game-Zahlungen werden nur sehr vorsichtig eingesetzt.

Anzeige

Viel Geld verdienen die meisten nicht. Sie freuen sich, wenn sie ihre fünf- bis sechsstelligen Budgets einigermaßen hereinholen. Hier hat man auch Rohrer bisher eingeordnet. Den großen finanziellen Erfolg hat eine andere Sorte Indie: Spitzenreiter wie Supercell verdienen mit Clash of Clans aktuell geschätzte 1,5 Millionen Dollar pro Tag, allein in den USA. Solche Studios funktionieren eher wie Start-ups. Sie arbeiten mit Fachleuten für Monetarisierung und Marktforschung und spielen mit der Psychologie ihrer Spieler, indem sie etwa Wartezeiten für kleine Geldbeträge abkürzen.

Du kannst in diesem Spiel nichts gewinnen, ohne dass jemand anderes etwas verliert.

Mit solchen Unternehmungen hat Rohrer wenig am Hut. Aber sein neues Spiel Cordial Minuet schlägt dennoch einen für ihn ungewohnten Ton an. Zumindest, wenn man auf das Anagramm kommt: Demonic Ritual. Zur Verdeutlichung hat Rohrer auch gleich noch einige Okkultismusbezüge eingebaut. Rohrer schlägt auf der Webseite zum Spiel den atemlosen Ton eines Verschwörungstheoretikers an, der erst einmal nur Aufregung verkauft. Zum Start hatte er Geldgewinne und Amulette aus Edelstahl unter den Spielern verteilt, doch wer die gewinnen wollte, musste zuerst die Kreditkarte zücken, wie auch ich bei meinem Testspiel erfahren durfte.

Tatsächlich kannst du Cordial Minuet nur spielen, indem du per Kreditkarte Geld einzahlst. Finanziell gibt es nach oben hin keine Grenze. Teuer muss es jedoch auch nicht sein. Zwei Dollar Mindesteinsatz ergeben nach Gebühren 1,64 Dollar auf dem Spielkonto. Der Mindesteinsatz für eine Partie ist ein Cent. Also 164 Spiele für zwei Dollar! Was kann da schiefgehen? Schauen wir uns mal an, wie Jason Rohrer sein Spiel erklärt.

Anzeige

Cordial Minuet ähnelt also tatsächlich Poker. Vor einer Partie wird der maximale Geldeinsatz ausgehandelt. Jeder Spieler kennt die eigenen Punkte und hat Indizien für den Punktestand des Gegners. Mit jedem Spielzug wird der Raum der Möglichkeiten enger und die Spieler können den Einsatz erhöhen.

Als ich die erste Partie starte, setze ich den Mindestcent und warte auf Mitspieler. Erst einmal passiert nichts, das Spiel wartet auf Gegner, das kann bei nur acht Leuten in der Lobby etwas dauern. Dann taucht eine neue Textzeile im Fenster auf: „Other Games: $3.00". Ich könnte jetzt sofort eine Runde spielen, wenn ich mich auf das dreihundertfache meines Einsatzes einlasse. Sind das schon unlautere Geschäftspraktiken? Zumindest spielt Cordial Minuet da schon mit meiner Selbstkontrolle. Es weist mich ganz unschuldig darauf hin, dass andere auch für viel mehr spielen.

Bevor die Versuchung größer wird, geht die Runde los; und schnell vorbei. Nach ein paar Runden verstehe ich: Um einen Cent spielen vor allem Anfänger, denn immer wieder zeigen sich die gleichen Fehler: ,All in' gehen und auf das Beste hoffen. Poker als Glücksspiel. Zu Beginn jeder Partie wird der Einsatz in einen festen Satz „Münzen" aufgeteilt, die dann mehr oder weniger Wert sind. Auch das müssen die Spieler im Blick behalten. Oder sie verlieren aus den Augen, wie viel sie in jeder Setzrunde eigentlich auf den Tisch legen.

Ich halte mich für klüger. Ich halte den Einsatz klein, spiele konservativ und nehme meinem Mitspieler ein paar Münzen ab.

Anzeige

Aber so zieht sich das Spiel, Runde um Runde. Nach ein paar Minuten verliere ich die Geduld, lasse mich mit fragwürdigen 78 Punkten auf immer höhere Einsätze ein und verliere den Gewinn wieder. Genau diesen inneren Kampf findet Rohrer faszinierend, wie er mir nachher erklärt: „Es ist schwierig, langsam Geld anzuhäufen. Aber es ist einfach, alles mit einem Fehler wieder zu verlieren. Im Idealfall ist so etwas kein Glücksspiel. Aber die Versuchung zum Glücksspiel ist immer da. Du musst deine menschliche Natur überwinden."

Ein spannender Kampf der anderen Art — NOISEY: KIZ vs. Die Welt: Die Angst vor dem kommenden Aufstand

Rohrer zieht selbst die Parallelen zu Poker. Ich frage ihn, ob sein Spiel dann nicht moralisch fragwürdig sei. „Absolut. Das war Teil meines Designs. Du kannst in diesem Spiel keine Siegessträhne haben, ohne dass jemand anderes eine Pechsträhne hat. Ein Freund von mir hat über 450 Dollar in dem Spiel verdient. Das klingt super. Aber ist es wirklich super? Er hat die 450 Dollar ja anderen Menschen abgenommen." Es geht Rohrer also diesmal darum, ein unbequemes Spiel zu machen. Er nennt es selbst „zwielichtig" und „fragwürdig". „Ich möchte dir eine Erfahrung geben, vor der die meisten Videospieldesigner Angst haben", erklärt Rohrer sein Ziel. Tatsächlich bin ich beim Spielen angespannter, als sonst. Aber genügt dieser Grenzübertritt als Selbstzweck? Es mag faszinierend sein, mit der eigenen Selbstkontrolle zu spielen und dabei wirklich etwas verlieren zu können. Natürlich bieten Indie-Games mit braven Bezahlmodellen keine vergleichbaren Spielerlebnisse. Doch ein vergleichbares Abenteuer bieten auch Online-Casinos—und die werden oft genug kritisiert, weil sie manche ihrer Besucher dazu einladen, sich in den Ruin zu treiben. Das kann man auch mit Rohrers Spiel. Und wenn jemand das tut, dann ist Rohrer genauso angreifbar, wie ein Casino-Besitzer. Auch, wenn er mit der absichtlich obskuren Präsentation sicherstellt, dass sein Spiel nie denselben Maßstab erreichen wird.

Cordial Minuet ist auch ein Spiel für Erwachsene. Wer eine Kreditkarte hat, der ist schlimmeren Versuchungen ausgesetzt, als einem obskuren, okkulten Online-Casino. Rohrer wirkt jedenfalls zufrieden: „Immer wieder habe ich bei mir gedacht, ‚ich kann nicht glauben, dass ich dieses Spiel mache'. Wenn ich das denke, dann weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.