Zwei Tage lang nur Schlager zu hören, war die dümmste Idee, die ich je hatte

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Dumme Selbstversuche

Zwei Tage lang nur Schlager zu hören, war die dümmste Idee, die ich je hatte

Es steckt jetzt sehr viel mehr Liebe in mir, aber auch viel Schmerz, ein bisschen Rassismus und eine unerklärliche Lust auf Bobfahren.

Schlager ist der Krebs der Musikwelt. Nicht der nette Sternzeichen-Krebs. Nein, die bösartige Krankheit, die sich auf alles ausbreitet, mit der sie in Berührung kommt und in einen qualvollen Tod zieht. Will sagen: Ich mag Schlager nicht und du solltest ihn auch nicht mögen. Auch wenn in den Liedern viel von Liebe gesungen wird, steckt in darin genau so viel Liebe, wie in Marken-Sahnepudding. Also so gegen null.

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Jedes bisschen Anspruch an gehaltvoller Kunst wird dort gekonnt mit grinsenden Gesichtern und übertriebenen, aber nichtssagenden Posen überspielt. Es nennt sich nicht umsonst Schlager-"Industrie". Musik wird dort aus dem einzigen Grund gemacht, Geld zu verdienen. Verdammt viel Geld. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie unheimlich, gigantisch, wahnsinnig viel Geld. Selbst Pop-Giganten wie Herbert Grönemeyer oder Adele werden von Andrea Berg oder Helene Fischer zu ihren Bitches gemacht.

Wurde also Zeit für mich, der grässlichen Fratze des Schlagers ins Gesicht zu blicken und endlich zu verstehen, warum er unseren Musikmarkt so dermaßen dominiert. Ich muss zugeben, dass ich nicht glaubte, lange durchzuhalten, aber es war letztendlich weniger schlimm, als ich erwartete. Es war schlimmer. Mit-einem-Nino-de-Angelo-Ohrwurm-aufwachen schlimm.

PSA: Um den Text besser zu fühlen, sollte diese Playlist laufen, während er gelesen wird.

Basis für meinen Selbstversuch, von dem ich bis heute nicht weiß, warum ich ihn überhaupt auch nur angedacht habe, ist diese tolle Playlist der "Top 100 Schlager" auf YouTube. Die meisten Songs daraus bewegen sich in den 100.000 View-Sphären, wobei ich bei einigen keine Ahnung habe, wie sie dazu kamen. Dieser scheiß Song von einer Künstlerin namens Marilena wurde zum Beispiel ziemlich sicher in ihrem verdammten Garten mit einem iPhone 3GS gedreht und hat 1,7 Millionen Views. Was? Ein Blick in die Kommentare löst das Rätsel aber sehr schnell. Brüste bringen halt immer noch Views. Good for you, Marilena, aber halt dich vom Techno fern, sonst hetzt dir irgendwann wer die Berghain Secus an den Hals. ("Stundenlang nur Techno, ja wer will denn das schon hören?")

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"Ich wollte wissen, wie es ist, Hansi Hinterseers Arsch auslecken zu wollen, weil mich seine Musik so geil macht."

Die Playlist hat mehrere solcher schönen Beispiele, die ich in meinem Wahn, der nur als selbstzerstörerisch beschrieben werden kann, übrigens alle komplett durchgehört habe. Der erste Song der Playlist kommt von Sandro und war für mich klischeehaft genug, um guten Gewissens meine Zeit in sie zu investieren zu wollen. Denn ich war auf Schmerz aus. Ich wollte wissen, wie es ist, Hansi Hinterseers Arsch auslecken zu wollen, weil mich seine Musik so geil macht. Was genau mit Sandros Gesicht falsch ist, konnte ich bis heute nicht herausfinden. Ist aber auch nicht so wichtig, denn sein Song "Verliebt" hat mich gut darauf vorbereitet, was mir in den folgenden Tagen bevorstand: eine Mischung aus Selbsthass und Föhnfrisuren.

Ich wollte außerdem verhindern, dass die Musik zu sehr in den Hintergrund rückt. Das passiert schneller als man glaubt, vor allem bei seichtem Schlager. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit waren Werbeeinschaltungen zwischen YouTube-Videos hilfreich. Denn Werbung löst in mir einen ähnlich abstoßenden Effekt aus wie Ananas auf Pizza, also war ich dazu gezwungen, sie nach jedem Song aktiv wegzuschalten und mich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Selbst wenn die Werbesongs oft besser waren als jeder Song der Wiedergabeliste. Um das Ganze noch ein bisschen schlimmer zu machen, tauchte nach ein paar Stunden Selbstgeißelung plötzlich "Fit But You Know It" von den Streets in einer Werbung auf. Es erinnerte mich an eine bessere Welt. Ich verdrückte eine Träne und klickte auf "Werbung überspringen".

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Wie ihr euch wahrscheinlich vorstellen könnt, war mir nach ein paar Stunden die Lust vergangen, die immer selben abgenudelten Kadenzen zu hören. Also habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Themen der Songs ausfindig zu machen und mit dem modernen Mittel der Strichalliste aufzuzeichnen. Herausgekommen nach etwa drei Tagen Schlager ist diese schöne Grafik:

Seht sie euch genau an. Ja, da steht Bobfahren und ja, Zwillingsliebe ist Thema in mehreren Songs. Unter Meta-Schlager fallen Songs wie "Koana is so schee (wie Andreas Gabalier)" und von der selben Sängerin kommt der Song der "Liebe + App"-Kategorie: "Eine App zum Küssen". Ich verwende das Wort wirklich selten, aber Carina, du bist whack. Dass "reine" Liebe den größten Anteil ausmacht, war keine Überraschung. Damit berührt man die meisten Leute, wobei ich bezweifle, dass SchlagersängerInnen echte Gefühle entwickeln können. Bei ein paar Songs wusste ich außerdem wirklich nicht, was sie mir sagen wollten. Verantwortlich dafür waren hauptsächlich die Wildecker Herzbuben.

Bitte, schaut euch das an. Worum geht es da? Ein zu gut genährter Nikolaus und sein Gspusi tanzen in abgestimmten Hawaiihemden am Strand und singen "Wini wini wana wana". Kannst dir nicht ausdenken. Die Wildecker Herzbuben liebäugeln außerdem gerne mal mit Rassismus, aber sie tanzen dabei und haben wieder abgestimmte, schreckliche Hemden an, also muss es OK sein. Warte, hat er da grad wirklich den "Ich fick dich"-Beckenstoßmove gebracht? 270.000 Views gerechtfertigt.

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Als sich mein Körper langsam eine kapitulierende Masse Fleisch verwandelte, kam mir plötzlich ein Gesicht sehr bekannt vor. Es war Ross Antony von BroSis und dem nicht weniger prestigeträchtigen Dschungelcamp! Er macht jetzt Schlager, weil Kohle, und obwohl er eine eingetragene Lebenspartnerschaft mit seinem Freund Paul Reeves hat, singt er unter anderem "Ehrlich sagte ich 'I love you', sie sagte 'Sweetheart, I love you too'."

Ich kann mir gut vorstellen, dass sich das nicht gerade progressive Genre des Schlagers mit Homosexualität noch nicht allzu wohl fühlt. Dort werden ja immer noch die selben Werte, die wir schon vor 100 Jahren schätzten, hochgehalten. Er hätte es ja zumindest geschlechtsneutral singen können, wie das die offensichtlich schwer verliebten Pures Glück bei "Norderney" machen. Aber nein, Ross von BroSis hat das, was von seiner künstlerischen Souveränität übrig geblieben ist, lieber gegen bunte Scheine getauscht. Schlager ist ein hartes Business, aber das machte mich sehr betroffen. Ich denke, dass er das mit seinem Partner abgesprochen hat, und es OK für beide ist. In dem verkalkten Genre homosexuell zu sein, stelle ich mir aber trotzdem sehr beschissen vor.

Tag 2

Meine Moral hat einen Tiefstand erreicht. Irgendwann war ich mit den 100 Songs der Playlist durch, der Tag wollte aber noch nicht zu Ende sein. Ich klickte mich auf Spotify zu einer Schlagerplaylist durch. Es war ein Fehler. Erst jetzt wusste ich die YouTube-Liste zu schätzen. Erst jetzt erkannte ich den Unterschied zwischen gutem und schlechten Schlager. Das hier ist schlechter Schlager:

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Es gibt aber auch Schlager, den man hören kann, ohne einen Van Gogh bringen zu müssen (Eklärung: Vincent van Gogh hat sich sein Ohr abgeschnitten). Nach den zwei Tagen Schlagerhölle wachte ich mit einem Nino de Angelo-Song im Ohr auf und ich wollte mir deswegen nicht sofort meine Eingeweide rausreißen. Im Gegensatz zu den ganzen anderen Pseudo-Schlagerstars, kann mein Brudi Nino wirklich singen und echte Emotionen in seine Songs stecken. Wirklich, hört ihn euch an, ich liebe ihn. Wer zum nächsten Konzert mitkommen will, soll mir schreiben, ich organisier bereits den Fanbus.

Fazit

Ich bin aus den beiden Tagen mit einem besseren Verständnis für schlechte Musik herausgegangen. Außerdem weiß ich endlich, was es heißt, zu leiden. Und ich weiß, dass ich mich nicht mehr vorschnell auf irgendwelche dumme Ideen einlasse. Kommt zurück Mitte August, wenn ich davon berichte, wie es war, blind am Frequency-Festival herumzulaufen.

*Originalbilder via Flickr | bobbi vie | Rebekka Turner | Jerome Bon | Olof Werngren | Paul Friel | Ed Clayton | angelune des lauriers | CC BY 2.0 | CC BY-SA 2.0 |

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