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Ernährung

Unser Eiweißwahn muss aufhören

Wenn es einen Begriff gibt, der in Gesprächen zum Thema Ernährung in einem Atemzug mit Schlankheit, Energie und Leistungsfähigkeit genannt wird, ist das zweifelsohne Eiweiß. Doch es stellt sich zunehmend die Frage der Nachhaltigkeit und des SInns.
Image via Flickr user stefanpinto

Die Botschaft von Ernährungsexperten lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Sorg für eine ausgewogene Ernährung! Also möglichst viel Gemüse, dazu ein bisschen Obst sowie eine gesunde Mischung aus Fetten, Kohlenhydraten und Eiweißen und dein Körper wird es dir danken. Aber all die regelmäßigen Hinweise scheinen nicht bis in die Tiefen unseres Gehirns vorzudringen. Denn wenn es ums Essen geht, verfallen wir Menschen in der westlichen Welt in eine Alles-oder-nichts-Haltung, die keinen Platz für Kompromisse zulässt. Ausgewogen reicht nicht aus.

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Ernährung lässt heute fast keinen mehr kalt und auch die Rollenverteilung von Bösewicht und Retter scheint weitgehend geklärt. Fette waren früher der Bösewicht. Der wurde dann von den Kohlenhydraten abgelöst. Heute verbreitet vor allem Zucker Angst und Schrecken. Aber wie in jeder mitreißenden Saga darf natürlich der Retter nicht fehlen: Eiweiß.

Wenn es heutzutage einen Begriff gibt, der in Gesprächen zum Thema ‚Ernährung' in einem Atemzug mit Schlankheit, Energie und Leistungsfähigkeit genannt wird, ist das zweifelsohne Eiweiß. Viele von uns haben eine prickelnde und heiße Affäre damit. Und die Marketingmaschinerie der Food-Industrie ist Hals über Kopf auf den Eiweißzug aufgesprungen. Den Beweis dafür finden wir in Pudding, Müsli und Chips.

Früher haben Unternehmen voller Stolz ihre Verpackungen mit Slogans wie „0% Fett" und „wenig Kohlenhydrate" bedrucken lassen. Nun lesen wir überall Versprechen wie „eiweißreich" oder „2 x mehr Eiweiß als in herkömmlichen Joghurts." Aber damit nicht genug. Der US-amerikanische Cornflakes-Riese Cheerios hat eine neue „Eiweißvariation" kreiert, um so die Aufmerksamkeit der eiverrückten Eiweißjünger zurückzugewinnen. Sie rühmt sich—dank Linsen und Soja—mit 11 Gramm Eiweiß pro Schüssel. Vergesst also euer Maissirup, Leute, denn nun pushen wir unsere Eiweißzufuhr mit Linsenmüsli!

Cornflakes waren mal eine Institution auf unserem gedeckten Frühstückstisch. Sie waren genauso allgegenwärtig wie Stefan Raab auf Pro7. Die Supermärkte boten eine Cornflakes-Auswahl an, die fast so umfangreich wie die Vitaminliste auf den Cornflakes-Verpackungen war. Und wir haben uns großzügig mit Familienpackungen eingedeckt. Diese Zeiten sind nun vorbei.

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Das Ernährungsbewusstsein in der westlichen Welt ändert sich, weil es sich ändern muss. Industriell verarbeitete Lebensmittel mit einem wahnsinnig hohen Zuckergehalt haben ohne Frage dazu beigetragen, dass wir immer dicker werden. Zweidrittel der britischen Bevölkerung ist schon übergewichtig und staatliche Maßnahmen gegen zu hohen Zuckerkonsum können nicht früh genug kommen. Das sind alles gute Nachrichten. Aber gleichzeitig wächst der Eindruck, dass wir mehr und mehr unter dem Einfluss von Schlagwörtern wie „glutenfrei", „milchfrei" und, neuerdings, „eiweißreich" stehen.

Eiweiß ist der Stoff, aus dem die meisten lebensspendenden Enzyme sind. Zudem hat es viele ernährungsbezogene Vorteile. So hilft die Einnahme von Einweiß dabei, unsere Muskelmasse zu halten (was beim Abnehmen äußerst praktisch ist), sorgt für ein längeres Sättigungsgefühl und ist eine echte Energiequelle. Aber gehen wir nicht ein Stück zu weit mit dieser Lobhudelei, die Eiweiß zu einem Nährstoff mit Wunderkräften macht? Tut es unserem Körper wirklich gut, uns bis zum Erbrechen mit Hähnchenbrust vollzustopfen?

Während wir Kohlenhydrate heutzutage mit bösen Blicken abstrafen—Brot ist der wahre Feind, vergesst das nicht!—überschlagen wir uns mit Lobeshymnen für ihren Widersacher. Viele Gesundheitsdoktrinen unserer Zeit brechen eine Lanze für Eiweiß. Ordinäre Sachen wie Brot und Pasta lassen vieles, aber bestimmt nicht unsere Brustmuskeln anschwellen. Also nicht zu viele Kohlenhydrate aufzunehmen ist sicherlich keine schlechte Idee. Aber wie so oft bei Ernährungsfragen haben sich viele von uns ganz schön reingesteigert.

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Staatliche Vorgaben empfehlen 55 Gramm Eiweiß pro Tag für Erwachsene zwischen 19 und 50 Jahren, abhängig von Alter und Gewicht. Wenn wir also zum Frühstück einen Joghurt, zum Mittag Hühnchensalat und am Abend dann ein Fleischgericht essen, haben wir die empfohlene Tagesmenge deutlich überschritten.

Die alte Ernährungspyramide ist mittlerweile eine Art Diamant geworden, und Lisa Blair, Ernährungsberaterin an der Food Doctor Clinic in London, ist glücklich darüber. Wenn auch mit Einschränkungen.

„Ich bin kein Riesenfan davon, was zum Thema ‚gesunde Ernährung' veröffentlicht wird. Vieles ist zu kohlenhydratlastig und berücksichtigt nicht ausreichend Eiweiße und gute Fette", so Blair. „Ich kann den Leuten nur dazu raten, sich über ihre tägliche Eiweißmenge Gedanken zu machen. Sie sollten dafür sorgen, dass das tierische Eiweiß aus magerem Fleisch kommt und dass sie viel pflanzliches Eiweiß zu sich nehmen. Ich rede nicht davon, sich mich Omeletts oder Eiweißpulver vollzustopfen—es geht vielmehr um eine vernünftige Zufuhr von Eiweiß und guten Fetten, die die stärkehaltigen Kohlenhydrate ausgleichen.

Wie steinzeitlich unsere Ernährung auch sein mag—hört zu, ihr Höhlenmenschen und Paleo-Jünger—so muss man sagen, dass unsere Liebe für Eiweiß nicht ganz unberechtigt ist. Es verlängert tatsächlich unser Sättigungsgefühl und hilft uns beim Muskelaufbau. Und dennoch schwingt mit dem Begriff ‚Eiweiß' etwas mit, das viele Menschen—vor allem Männer—dazu bringt, Eier palettenweise zu kaufen. Hört einfach mal einer Unterhaltung unter Männern um die 20 zu, und ich wette, dass sie spätestens nach ein paar Minuten auf ihre tägliche Eiweißmenge zu sprechen kommen. Der Klassiker: Eiweißgespräche unter Nike-Trägern.

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„Männer können sich da ein bisschen reinsteigern", sagt Blair.

Ein anderer Ernährungswissenschaftler, mit dem ich gesprochen habe, Jo Travers von The London Nutritionist, ist der Auffassung, dass Eiweiß fast einen Popstarstatus erreicht hat. Sie ist aber davon überzeugt, dass der aktuelle Hype um Eiweiß wieder nachlassen wird. „Ich denke, wir haben es mit einer Modeerscheinung zu tun", meint sie. „Unsere Kalorienzufuhr fast ausschließlich durch einen Nährstoff zu decken kann nicht gesund sein. Ich kenne viele Leute, die eine strenge Null-Kohlenhydrat-Diät fahren, hauptsächlich weil sie abnehmen wollen. Ich habe aber auch Leute kennengelernt, die zu viele Eiweißshakes getrunken haben, weil sie Muskelmasse aufbauen wollten, am Ende aber nur an Gewicht zunahmen."

Die Harvard School of Public Health hat den Rahmen für eine akzeptable Eiweißmenge sehr weit gesteckt—zwischen 10 und 35 Prozent der täglichen Kalorienzufuhr. Dennoch erleben wir immer mehr Extreme und bei einigen von uns quillt der Einkaufswagen mit Hähnchenbrust über. Blair fügt hinzu: „Riesige Omeletts und Proteinpulver sind nicht das, was man sich unter der richtigen Eiweißzufuhr vorstellt. Außer vielleicht bei Personen, die fünf Mal in der Woche Gewichte heben, die das Doppelte ihres eigenen Körpergewichtes ausmachen."

Ich bin ein Mann, oder sagen wir junger Mann, von 24 Jahren. Und obwohl ich keine Shakes trinke und auch Kohlenhydrate nicht verabscheue, nehme ich doch definitiv mehr Eiweiß zu mir, als von den meisten Ernährungswissenschaftlern empfohlen wird. Pizza steht bei mir nicht mehr so oft auf dem Speiseplan. Die neuen Cheerios-Cornflakes (die mit den Linsen) würde ich nie anrühren, aber zum Frühstück eine ordentliche Portion eiweißreichen Frischkäse mit Mandeln ist für mir durchaus normal. Ich esse es und denke währenddessen nur an die nahe Zukunft, wo schon am Abend ziemlich sicher ein Fischgericht auf mich warten wird. Und ich muss zugeben, dass ich mich nicht gegen die Welle von Thunfischsteaks und Kidneybohnen wehren konnte.

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Vor nicht allzu langer Zeit hätten stinknormale Bürohengste zur Mittagszeit in ein schönes Sandwich gebissen. Heute stehen Quinoa und magere Truthahnbrust auf der Speisekarte. Doch wenn Büros die Kirchen der eiweißhaltigen Ernährung sind, dann sind Fitnessstudios wahre Eiweißkathedralen. In meinem eigenen Fitnessstudio gibt es Leute, die entsetzt darüber wären, dass zu meinem Frühstück auch Honig gehört. Und die komplett ausrasten würden, wenn sie von meinen gelegentlichen Nudelsünden wüssten.

Ich kenne einen Typen, ein echt netter Zeitgenosse, der pro Tag nicht mehr als 1.500 Kalorien zu sich nimmt. Die Hälfte davon geht auf die Kappe von Ernährungsdrinks. Auch wenn ich mich selber nicht gerade eiweißarm ernähre, wird mir ganz anders bei dem Gedanken, die Hälfte meiner täglichen Kalorien durch pulverförmige Eiweißdrinks abdecken zu müssen. Außerdem würden mir das Gefühl, die Wärme und die Befriedigung fehlen, die ich mit einem echten Abendessen verbinde. Aber wie sollte es anders sein: Dieser Kerl ist dafür ein echter Adonis und sein Körper erinnert mich an den von—und das kommt mir echt nicht leicht über die Lippen—Ryan Gosling.

Unsere Eiweißbesessenheit hat natürlich auch damit zu tun, dass wir immer mehr auf steinharte Bauchmuskeln Wert legen. Edward Barrett-Shorttobsession, Herausgeber des GymMagazine, meint dazu: „Eiweiße brauchen wir für die Reparatur und den Aufbau von Muskelmasse." Dennoch gibt er zu bedenken, dass unsere Mütter Recht hatten, als sie uns lehrten, dass „alles in Maßen genossen werden sollte. Das gilt auch für die Ernährung. Und eine gesunde Ernährung hängt nicht von der Aufnahme von nur einem Makronährstoff ab, also Eiweiß, Kohlenhydrate oder Fette."

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Natürlich brauchen wir mehr Eiweiß, wenn es zum Training geht. Aber ein Blick in unser tägliches Leben zeigt, dass unsere Eiweißvorliebe schon längst über die Grundstücksgrenze unseres Fitnessstudios hinausgeht. Schließlich trainieren die meisten von uns nicht für die kommenden Olympischen Spiele.

Wir leben in einer Welt, in der sich sogar Brot—Brot!—dem Eiweißhype nicht entziehen konnte. Wir fühlen uns magisch von diesen Aminosäuren angezogen, vor allem natürlich von ihrem Versprechen, uns beim Abnehmen zu helfen. Aber dieser Hype muss und wird enden. Eiweiß ist in vielerlei Hinsicht ein teurer Spaß, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sich unsere Agrarlandschaft momentan im Umbruch befindet. Außerdem basiert dieser Hype zu oft auf tierischem Eiweiß, und schon bald werden wir uns nach alternativen Eiweißquellen umschauen müssen. Dies gilt dann nicht nur für die unter uns, die jede Woche eine Scheune voll Hühner verschlingen, sondern auch für die, die keine exzessiven Fleischesser sind.

Aber wer kann schon mit Sicherheit sagen, wann die entscheidende Wende eintreten wird? Denn obwohl sich mittlerweile auch Riesen wie Coca-Cola dem Gesundheitstrend beugen, scheint der Eiweißvormarsch vorerst nicht zu bremsen zu sein.

Und es sieht nicht danach aus, dass wir dadurch dünner werden.

Oberstes Foto: Stefan Pinto| Flickr | CC BY 2.0