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fußballromantik

Warum Europokal-Teilnehmer Timo Brauer lieber zu RWE in die 4. Liga zurückgeht

Zusammen mit Kultspieler Timo Brauer begaben wir uns auf Spurensuche nach dem Mythos Rot-Weiss Essen. Wir stießen auf Fußballromantik, Emotionen und genauso harte wie ehrliche Worte.
Alle Fotos: Lukas Vogt

_Timo Brauer, vor zwei Jahren noch Teilnehmer der Europa League-Qualifikation, kehrt zu seinem Heimatclub in die vierte Liga zurück. Was für Außenstehende eher uninteressant klingt, ist in Wahrheit ein kleines Fußballmärchen. Es geht um Fußballromantik und der Hoffnung auf bessere Zeiten. Brauers Viertligist ist Rot-Weiss Essen. Der deutsche Meister und Pokalsieger der 50er-Jahre kann ein Märchen gut gebrauchen: Nach Jahren der Viertliga-Mittelmäßigkeit spielte man in der letzten Saison gar gegen den Abstieg. Aber warum kehrt ein erfolgreicher Fußballer zu so einem Verein zurück? Und warum kommen zu den Spielen von RWE häufig über 10.000 Fans? Wir machten uns mit _Timo Brauer_ auf die Suche nach dem Mythos Rot-Weiss Essen._ Was hat es mit Stadt und Verein auf sich, dass Brauer nun wieder in Essen ist? Wir fragten zuerst Vereinspräsidenten Dr. Michael Welling, wie er Timo nach Essen locken konnte. Erste Vermutung: Es wurde viel Geld gezahlt. Aber: „Er verdient nicht unglaublich viel mehr als andere. Timo passt ins Gehaltsgefüge. Weil er eben mit dem Herzen entschieden hat, und nicht nach dem Geld. Timo ist definitiv nicht der Spieler, der bei uns am meisten verdient. Das würde ich unter Eid aussagen, weil es stimmt." Scheinbar zählt Timo Brauer also auch zu den Verrückten, die irgendwie nicht anders können, als diesem Verein auch in der „Schweineliga" (Zitat Brauer) die Treue zu halten.

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Als wir am Stadion ankommen und zurückdenken, dass bei Timos Abschied noch im abbruchreifen—wenn auch natürlich furchtbar charmanten—Georg-Melches-Stadion gespielt wurde, zeigt sich aber gleich die erste „richtige" Erklärung: Das Stadion, der Trainingsplatz, Geschäftsstelle, Logen: Alles ist am selben Ort, alles ist hochprofessionell. Timo ist eben nicht einfach irgendwie in die vierte Liga zurückgerannt, sondern ist zu einem professionellen Verein gewechselt. Den laut Präsident Welling nur die Ligazugehörigkeit und der Anteil an den TV-Geldern (0 Euro) von einem Zweit- oder Drittligisten unterscheiden.

Trotzdem ist es ungewöhnlich, sich gegen mehr Geld und eine höhere Liga zu entscheiden, um wieder „nach Hause zu kommen". Wir haben uns mit Timo über die Gründe für seine Rückkehr, die Stadt Essen und vor allem den Verein Rot-Weiss Essen unterhalten.

Anmerkung: Alle Antworten wurden von Timo Brauer in feinstem Ruhrpott-Dialekt gegeben, den du dir nach Wunsch bitte dazu denkst.

VICE Sports: Vom Teilnehmer an der Euro-League-Qualifikation in zwei Jahren wieder zum Viertligakicker—der Schritt mag vielen Leuten gewaltig erscheinen. Um das besser zu verstehen, holen wir etwas aus: Wie und wo hast du angefangen mit Fußball, und wie bist du dann bei RWE gelandet?
Timo Brauer: Als kleiner Timo habe ich hier direkt um die Ecke bei Ballfreunde Bergeborbeck angefangen und dann lustigerweise bei beiden Erzrivalen gespielt: Ich bin zum ETB (Anm. d. Red.: Schwarz-Weiß Essen) gegangen und war daraufhin ungefähr acht Jahre bei den Blauen (Anm. d. Red.: FC Schalke 04). Aus der U19 bin ich dann nach Essen in die Zweite gewechselt, anfangs mit Sascha Mölders, Mike Wunderlich und wie sie alle heißen. Dann kam die Insolvenz mit dem Zwangsabstieg, da bin ich mehr oder weniger als Einziger geblieben. Es hat natürlich einen guten Lauf genommen, mit allem drum und dran, mit den Fans und so weiter, so dass wir direkt wieder hochgegangen sind. Das ist so knapp und bündig, wie ich beim RWE gelandet bin.

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Wenn man in Bergeborbeck aufwächst, wie landet man dann bei Schalke?
Es wird halt einfach auf Jugendturnieren gescoutet. Das war damals in der Kreisauswahl vom ETB oder so. Da hat dann eines Tages Schalke angerufen und als kleiner Zwölf- oder Dreizehnjähriger ist das natürlich was Besonderes. So landet man dann doch da.

Autor Tristan (links) im Gespräch mit Timo Brauer im Stadion von RWE.

Herr Welling sagte mir, dass du dich unter Tränen von ihm verabschiedet hast. War das eine Entscheidung, zu der man dich vielleicht als Stimme der Vernunft auch ein bisschen überreden musste? „Deinen" Verein zu verlassen?
Ja, war schon so eine meiner schwersten Entscheidungen, weil die drei Jahre Senior in Essen, da lief nach der Insolvenz dann fast alles wie am Schnürchen. Ich war Kapitän, aufgestiegen, mehr oder weniger haben mich auch ein paar Leute gemocht. Dann ist man halt am entscheidenden Punkt gewesen, ob man was Neues macht, also höhergeht, oder seinem Verein für immer treu bleibt. Was natürlich auch ein cooler Gedanke ist, aber bei mir war's dann der Ehrgeiz. Damals war mit RWE für mich kaum noch was zu erreichen, wir sind im DFB-Pokal weitergekommen, aufgestiegen, irgendwann war dann die Zeit für einen neuen Schritt. Das war wie gesagt schmerzlich, ich hätte gern weiter hier gespielt. Ich hab einfach nur rational entschieden.

Wie kam es dann zur Rückkehr? Herr Welling sagte, dass der Kontakt dauerhaft bestand, aber wie wurden aus einem fußballromantischen Rückkehrversprechen konkrete Wechselgedanken?
Das stimmt halt alles, wie der Doc schon gesagt hat, dass der Kontakt immer geblieben ist. Beim HSV, in Aachen oder sonst wo. Weil es ist ja eigentlich mein Verein. Ich hatte auch nach dem ersten Verlassen ein gutes Verhältnis mit dem Doc und habe immer gesagt: Mich würd's freuen, wenn ich nochmal für den RWE spiele. Der Zeitraum war aber erstmal nicht vorhersehbar.

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Irgendwann stand fest, dass ich Österreich verlassen werde. Einmal weil der SV Grödig (Anm. d. Red.: Timos damaliger Verein) sich aus dem Profifußball zurückgezogen hat, ich wäre aber ansonsten auch gewechselt. Dann hat der Doc irgendwann gesagt, komm, wir gehen mal einen Kaffee trinken und hat mich dann ein bisschen emotionalisiert. Der Verein macht mir Spaß, hier sind meine Familie und meine Freunde, hier stehen halt ein paar in der Kurve, die ich schon, seit ich klein bin, kenne. Ich hatte auch andere Möglichkeiten, aber jetzt nochmal in die dritte Liga zu gehen und wieder 500 Kilometer von Zuhause zu wohnen, wäre mir schwergefallen. Waren aber auch die Vereine, wenn es jetzt Dynamo Dresden gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich auch nicht hier gelandet. Das Gesamtpaket musste für mich dann auch passen, da müssen wir ja nicht stillschweigend bleiben. So hat sich's ergeben, dass ich jetzt hier sitze.

Es wirkt tatsächlich ein bisschen so, als hätte sich „alles so ergeben", als wäre er spontan Hals über Kopf in die Heimat zu seinem Verein zurückgekehrt. Wir fahren zu seinem alten Bolzplatz, auf dem er zum ersten Mal gekickt hat der etwa einen Kilometer vom Stadion entfernt ist. Drumherum ist ein Spielplatz, Mütter passen auf ihre Kinder auf. Eine Arbeitersiedlung, wie sie im Buche steht. Durchaus grün, aber voller grauer Reihenhäuser. Den Weg dorthin legen wir mit einem älteren Kleinwagen von Timos Eltern zurück. Wir fahren an seinem Elternhaus vorbei, in dem er nun wieder wohnt, das ein genauso einfaches Reihenwohnhaus im Arbeiterviertel ist. Natürlich kommt sein eigener Wagen bald, natürlich ist er auf der Suche nach einer eigenen Bleibe. Trotzdem passt alles sehr schön in das Bild des heimkehrenden Sohns. Er vermittelt diesen Eindruck ja auch selbst. Unterwegs fragt er, wo man denn in Essen mittlerweile am besten feiern gehen könnte. Auf dem (sehr kurzen) Weg erzählt er immer wieder kleine Anekdoten, an denen man merkt: Er hat hier seine Kindheit verbracht.

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Gab es emotionale Momente, die dir in den Kopf gekommen sind, als du mit dem Gedanken gespielt hast, tatsächlich zurück zu wechseln?
Ich habe jetzt schon woanders gespielt und da habe ich es dann auch persönlich gemerkt: Klar, ich gebe immer 100 Prozent, aber es ist doch was anderes, wenn man für seinen Verein in der Heimat spielt. Da geht dann eben doch immer noch ein bisschen mehr. Ich kenne halt auch viele da draußen. Ich glaube, da tut die Kritik, wenn ich zu meinen Jungs komme und die mir sagen, ich habe scheiße gespielt, viel mehr weh, als wenn der Trainer mir das sagt. Und vor der Kurve wieder aufzulaufen, ist natürlich was, wofür jeder eigentlich gern Fußball spielen will.

Die Stadt Essen ist jetzt auch nicht als erholsames Urlaubsziel bekannt. Was hat diese Stadt, dass aus ihr so ein Verein entsteht, und dass du dich in ihr so heimisch fühlst?
Wir sehen ja, in welchem Teil von Essen wir uns hier befinden. Ich sag mal, die Arbeitslosigkeit ist hier höher als im Süden. Ich glaube, dass RWE eben ein typischer Arbeiterverein ist und viele Leute da draußen das einfach von der Mannschaft verlangen: dass gearbeitet wird. Dass gekämpft und kein Ball verloren gegeben wird. Das prägt halt den Verein.

Alles, was bisher passiert ist, ist ja eine Art modernes Fußballmärchen. Jetzt gibt es auch das Ziel Aufstieg, alles wie im Bilderbuch. Aber was passiert, wenn das nicht klappt, wenn RWE weitere drei Jahre im Viertliga-Mittelmaß versinkt?
Grundsätzlich bin ich ein positiv denkender Mensch und hab mich damit eigentlich gar nicht beschäftigt. Wenn ich rausgehe, will ich einfach vor der Kurve spielen und mir nicht in die Hose scheißen, dass irgendeiner mich als Arschloch beleidigt. Was in Zukunft passiert, kann man natürlich nicht wissen. Im Fußball passieren die kuriosesten Dinge. Ich bin fest davon überzeugt, dass es in drei Jahren klappt, sonst hätte ich das nicht gemacht. Und wenn's nicht klappt, wird's im vierten Jahr klappen. Wichtig ist, dass man den eigenen Charakter in den Hintergrund stellt und immer weiß, dass der Verein größer ist als irgendein Spieler.

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Auf der Suche nach einem dritten Ort, den wir gemeinsam besuchen könnten, nennt Timo wieder einen Fußballplatz: sein erster Verein, die Ballfreunde Bergeborbeck. Wir stehen also, nur 500 Meter entfernt, wieder auf einem Ascheplatz. Erst will ich Timo um mehr Abwechslung bitten, doch eigentlich passt es gut ins Bild: Jemand, der auf Geld und vielleicht ein wenig Karriere verzichtet, um wieder zu Hause und vor seinen Kumpels spielen zu können, muss ein bisschen fußballverrückt sein. Uns dann als drei markante Orte drei Fußballplätze zu besuchen, ist eigentlich logisch. Auf dem Platz seines ersten Vereins treten ein paar Kinder vor den Ball, es ist ja schließlich ein Sommerabend. Von den drei Jungs tragen zwei RWE-Trikots, eines davon ist das alte Trikot von Timo Brauer. Als sie uns sehen, posiert er gleich mit dem Rücken zu uns.

Für viele wirkt das wie der große Gegenentwurf zu allem, was am „modernen Fußball" so schlecht ist. Wie siehst du das denn selber? Wann ist ein Wechsel aus Karrieregründen vertretbar, wo ist die Grenze zum „Verrat am eigenen Verein" zugunsten des Geldes? Sind alle Profifußballer Söldner?
Nein. Ich denke, das ist subjektiv für jede Person unterschiedlich. Ich denke, dass die Leute immer viel zu viel persönlich nehmen. Klar, man darf auch nicht vergessen: Für viele ist das das Leben, der Fußball. Der Fall Mats Hummels zeigt das ja: Der geht im Endeffekt nach Hause. Trotzdem wär's natürlich schön gewesen, wenn er beim BVB geblieben wäre. Ich hätte ja auch zu Viktoria Köln gehen können oder sonst wohin, hätte ich wahrscheinlich auch mehr verdient. Das verstehe ich schon. Im Endeffekt ist es zwar ein blöder Spruch, aber das ist Fußball eben auch: Emotionen, Herz hin oder her. Wenn du woanders eine Million mehr verdienst, da überlegt jede andere Person auch zu wechseln. Ist ja wie bei einem normalen Job. Man muss halt einfach seine Situation abwägen, in der man selbst als Spieler gerade ist. Da muss man ehrlich bleiben.

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Wie könnte man diesen Konflikt denn lösen, der da auftritt? Zwischen Leuten, die wollen, dass Fußball etwas Emotionales, Traditionsverbundenes bleibt, und dem großen Fußballgeschäft?
Ich glaube, da gibt es keine Idee für. Das sieht man ja schon an den Nachwuchsleistungszentren: Ich bin von 1990, und damals musstest du nach der A-Jugend erstmal drei Jahre bei den Amateuren spielen für deinen ersten Profieinsatz. Jetzt spielt ein Sané nach 10 Toren in der A-Jugend in der ersten Mannschaft und wechselt für 50 Millionen nach England. Das ist inzwischen einfach nicht mehr realitätsnah. Es ist leider so, dass Tradition ausstirbt, aber naja. Deshalb ist Leipzig oben. Das ist einfach der Lauf der Zeit, ich glaube, da kann man sich nicht gegen wehren.

Lies mehr: Die Essener Karohemden-Sektion

Kleiner Dreh: Wie würde es dem Profifußball gut tun, wenn RWE zu ihm zurückkehren würde? Es passen ja nicht alle Traditionsvereine aus den unteren Ligen in die Profiligen. Warum gerade RWE?
Ist ja eigentlich eine Fangfrage, oder? Wenn ich jetzt sage, „RWE ist Kult, und die geilen Fans…" und so, das sagt Aachen ja auch. Die Antwort ist für mich relativ schwer zu geben. Nicht nur Essen, jeder Traditionsverein hätte es mehr verdient als Wolfsburg, Leipzig, Hoffenheim. Aber wie gesagt, die Gesellschaft ist leider so. Geld regiert die Welt, das ist nicht nur im Fußball so, sondern auch in der Berufswelt. Du kannst gerne schreiben „wegen den bekloppten Fans".

Was reizt einen an dem Fußball, der hier gespielt wird? Fußballromantiker feiern die vierte Liga ja gern für ihren geilen Kreisliga-Fußball ab, dass sich noch umgetreten wird im Mittelfeld. Findest du das auch besser, ein etwas ruppigeres Spiel?
Es kommt immer auf das Spiel an. Hier an der Hafenstraße werden Emotionen natürlich anders erlebt, als wenn ich jetzt wer weiß wo spielen würde. Klar, ich will auch super Fußball spielen, aber gerade in der dritten oder vierten Liga brauchst du vor allem Typen, die wissen, wie man gewinnt. Sah man bei der EM an den Italienern: Die sind alle 40 hinten drin, aber die wissen eben, wie man Spiele gewinnt. Die treten halt auch mal, ziehen mal und nehmen eine gelbe Karte in Kauf. Das ist in dieser Liga einfach wichtiger, als den schönsten Fußball zu spielen. Ich spiele lieber scheiß Fußball und gewinne. Hat Fortuna Köln ja auch gemacht, das war einfach eine richtige Truppe. Das sind geile Typen gewesen, und ich glaube, nur so geht's auch in dieser Schweineliga.

Der Essener Norden ist nicht die schönste Gegend des Ruhrgebiets. Viele Ecken, vor allem um das Stadion herum, sind mit „trostlos" wohl besser beschrieben. Die Arbeitslosigkeit ist höher als im Rest der Stadt. Für viele ist der Fußball alles; das stimmt vielleicht nicht, fühlt sich aber so an. Irgendwie gilt das aber auch für den Rest der Essener: Auch die besser Betuchten und Mittelständler halten dem RWE die Treue, obwohl er schon seit 2008 nicht mehr oberhalb der vierten Liga gespielt hat. Der VIP-Bereich ist im Schnitt mit 800-1.000 Leuten besetzt, das ist mehr als der Zuschauerschnitt anderer Stadien der Liga. Das mag damit zusammenhängen, dass RWE nach der Insolvenz ein neues Gesicht gezeigt hat: transparent, wirtschaftlich solide und seriös, gleichzeitig traditionsbewusst. Nach dem Schock kam die Erkenntnis: Wir wurden jahrelang verarscht. Die Essener werden nicht gerne verarscht. „Du Arsch" geht als Begrüßung unter Freunden locker durch, aber unter freundlichen Worten verschaukeln lassen will sich niemand.

Wie Timo es schon sagte: Die Leute hier sind Arbeiter. Die wollen, dass geackert wird. Im Verein, auf dem Platz, auf den Tribünen. Solange das passiert, ist es ihnen vermutlich sogar lieber, mit Timo Brauer in der vierten Liga herumzueiern, als mit einem Haufen unbekannter Profifußballer in Liga 2 oder 3 aufzusteigen.

*Alle Fotos: Lukas Vogt