FYI.

This story is over 5 years old.

Indien

Auch auf dem Dach der Welt wird Eishockey gespielt

Normalerweise verbinden wir Indien mit tropischen Temperaturen. Doch eine Reise in den Norden des Landes zeigt, dass das Herz der Inder auch für Eishockey schlägt.
Foto: Jared Henderson

Als Andrew Wahba zum ersten Mal Ladakh—eine bergige Region ganz im Norden Indiens—einen Besuch abstattete, hat ein Eishockeyspiel in der abgelegenen Stadt Leh, die fast 5.000 m über dem Meeresspiegel liegt, ihn komplett in seinen Bann gezogen. Eine Gruppe junger Männer spielten bei eiskalten Temperaturen auf einem Outdoor-Feld mit äußerst behelfsmäßiger Ausrüstung. Anstatt eines Pucks benutzten sie einen Stein. Und mehrere von ihnen spielten mit geklebten Feldhockeyschlägern, während einer sogar nur auf einer halben Kufe auf Puckjagd ging.

Anzeige

Spät am Abend—als die Temperaturen noch weiter in den Keller fielen—sind die Männer dann mit großen Wassereimern im Schlepptau zurückgekehrt und haben das Wasser aufs Feld geschüttet, um so die Eisschicht zu erneuern. Dann haben sie sich verabredet, um zwei Uhr nachts eine zweite Schicht einzulegen. Das haben sie dann für den Rest des Winters—Nacht für Nacht—wiederholt.

Auf diese Weise erschaffen sie jedes Jahr aufs Neue ein—von den Ausmaßen fast olympisches—Eishockeyfeld, indem jeweils 20 Mann in drei Schichten (um 22 Uhr, um 2 Uhr und um 6 Uhr) und nur mit Eimern und Besen bewaffnet zu Werke gehen.

„„Es herrschten Temperaturen um minus 25 Grad. Meine Hände waren fast eingefroren. Und der bloße Gedanke, dann noch mit eiskaltem Wasser hantieren zu müssen…", so Wahba—ein kanadischer Unternehmer, der die Non-Profit-Organisation True Travellers Society, die Touristen und Einheimische zusammenführen will, gegründet hat—über seine Erfahrungen in Leh im Dezember 2013. „„Und trotzdem hat keiner von ihnen gefehlt. Wie ein kleiner fleißiger Ameisenhaufen gingen sie ihrer Arbeit nach und sangen und tanzten dabei."

(oben) SECMOL-Spieler während einer wohlverdienten Pause. (unten) Ein Spiel zwischen Lalok und Domkhar, zwei U-20-Teams aus Ladakh. (Fotos von Jared Henderson und Andrew Wahba)

Wahba erfuhr zum ersten Mal von der Existenz von Eishockey in einem Land, das normalerweise für sein tropisches Klima bekannt ist, als er James Turner kennenlernte. Der arbeitet seit 2009 jeden Winter 6 Wochen lang als Volunteer in einer SECMOL-Schule (SECMOL= Students' Educational and Cultural Movement of Ladakh) in Leh. Bei jedem seiner Aufenthalte hat er bisher Jugendlichen—die zwischen 16 und 21 Jahren waren und vom Boden aus gebannt ihrem Mentor zuhörten und sich emsig Notizen machten—Hockey-Lektionen auf einem Whiteboard gegeben. Ihre Ausrüstung war dabei dermaßen bescheiden, dass jedes Paar Schlittschuhe nur ein Mal pro Winter geschliffen werden konnte. Turner hatte von Einheimischen gehört, dass indische Soldaten in den 70ern zum ersten Mal im Himalaja Eishockey gespielt haben, indem sie sich Klingen unter ihre Schuhe schnallten.

Anzeige

In den letzten zwanzig Jahren war das alljährliche Eishockeyturnier des Ladakh Winter Sports Club das wichtigste Event weit und breit—eine Region, die vom restlichen Teil des Landes durch hohe Berge getrennt ist und nur über enge, unbefestigte Straßen erreicht werden kann. Hier gibt es weder fließend Strom noch Heizungen. Zudem ist die Gegend auch im schier endlosen Kaschmirkonflikt verwickelt. Als Wahba zum ersten Mal nach Ladakh kam und ein Eishockeyspiel vor dieser herrlichen Kulisse mit schneebedeckten Bergen erleben durfte, verschlug es ihm die Sprache.

Zwischen Dezember, wenn hier der erste Schnee fällt, und März, wenn das Eis wieder zu schmelzen beginnt, lebt ganz Ladakh nur für Eishockey. Indien hat seit 2008—dank der Hilfe des in New York lebenden Trainers Adam Sherlip—sogar ein eigenes Nationalteam. Und 2013 gelang Indien mit dem 5:1 gegen Macao endlich auch der erste Sieg auf internationaler Bühne. Im Februar dieses Jahres wurde in Ladakh zudem ein Freundschaftsspiel zwischen den London Fistfires und Geronimo—einem deutsch-finnischen Team—ausgetragen, das fast 3.000 Zuschauer—von denen es sich einige auf Bäumen „„bequem" gemacht hatten—sahen.

„„Das Gefühl, vor dem majestätischen Himalaja-Gebirge—dem Dach der Welt—Eishockey spielen zu können, ist einfach unbeschreiblich", so Viktor Pesenti, der die Dokumentation „„Hockey im Himalaja" gedreht hat, im Interview mit VICE Sports. „„Es war einfach nur pure Freude."

Anzeige

Dann hat sich Wahba aber mal die nahegelegenen Täler und Dörfer, wo die meisten der Spieler herkommen, angeschaut und dabei festgestellt, dass sich in einem Dorf rund 90 Kinder 30 Paar Schlittschuhe teilen mussten. Das war dann auch der Startschuss für eine großangelegte Spendenaktion in den kanadischen Städten Regina und Estevan. Insgesamt kam fast eine Tonne Ausrüstung zusammen, die für 8.500 Dollar—ebenfalls aus Spendengeldern finanziert—Richtung Kaschmir verschickt wurde. „Am Ende konnten wir 80 Paar Schlittschuhe, 77 Paar Handschuhe, 30 Helme, 38 Hosen, 150 Pucks, 44 Paar Schienbeinschützer, 120 Schläger sowie mehrere komplette Torhüterausrüstungen an die SECMOL-Schule schicken.

„„Als die Ausrüstung ankam, hätten die Jugendlichen glücklicher nicht sein können", so Pesenti. Und weiter: „„Ein paar der Jugendlichen hatten vier Jahre lang mit demselben Schläger gespielt. Die meisten davon waren kaputt. Und als sie dann einen nagelneuen Schläger in den Händen halten konnten, war das für sie wie ein Geschenk vom Himmel."

Demnächst sollen die Jugendlichen die Ausrüstung auch in ihre Dörfer mitnehmen dürfen. Außerdem ist geplant, dass Trainer aus Kanada und den USA den besten einheimischen Spielern grundlegende Trainerkenntnisse an die Hand geben—ehrenamtlich, versteht sich.

Einer der SECMOL-Mitarbeiter hat Wahba erzählt, dass er noch nie zuvor 100 Eishockeyschläger gesehen hat. „„Für uns hört sich das vielleicht nicht nach besonders viel an", so Wahba. „„Doch hier haben sie mir versichert, dass wir alle Eishockeyverrückten für die nächsten 20 Jahre glücklich gemacht haben."