Anonyme Kollektive wie die Hard Vapour Resistance Front sind ein Spiegelbild unserer verwirrenden Zeiten

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Thump

Anonyme Kollektive wie die Hard Vapour Resistance Front sind ein Spiegelbild unserer verwirrenden Zeiten

Sie mögen Bernie – und sie mögen Trump. Angeblich sind sie aus der Ukraine und produzieren ziemlich harte Musik. Immerhin geben sie Interviews.

Das Cover von 'WORLD WAR 2020 - EPISODE FOUR (2016 Version): WikiLeaks vs. DNC'

In einer Welt, in der Politiker erkennen, dass sie mit dreisten Lügen an die Macht kommen können, und Worte beliebig verdreht werden, ist totale Verwirrung die wahrscheinlich einzig sinnvolle Antwort. Du kannst dir noch so viel Mühe geben, dem weiten Netz aus Fake-News und weniger seriösen Verschwörungstheorien zu entkommen, aber mittendrin, gefangen im ständigen Strudel absurder Informationen, sind oben und unten nicht mehr so leicht auseinanderzuhalten.

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Keine Musik spiegelt dieses Gefühl der konstanten Fassungslosigkeit so gut wider wie Hardvapour – die brachiale und hochenergetische Antwort auf die affektierte Nostalgie und narkotisierte Glückseligkeit des Vaporwave. Seine Vertreter bedienen sich die scharfkantigen Ecken und der Unvorhersehbarkeit aggressiver elektronischer Genres wie Gabber, Industrial und IDM, um der Welt einen Spiegel vorzuhalten, der Ohren zum Bluten bringt.

An vorderster Genrefront steht das unfassbar-produktive Kollektiv und Label H.V.R.F. (kurz für Hardvapour Resistance Front). Laut ihrer BandCamp-Seite ist das Label in Prypjat ansässig, der nordukrainischen Geisterstadt gleich neben dem verunglückten Kernkraftwerk Tschernobyl. Natürlich stimmt das nicht wirklich, aber in solchen konzeptionellen Falschinformationen liegt auch der Reiz dieser lose gestrickten Gruppierung, die seit ihrer Gründung im Mai letzten Jahres über 80 Veröffentlichungen voll markerschütternder und dystopischer Beats rausgehauen hat.

Eindeutig echt ist jedenfalls das Gefühl von Furcht und Angst in ihrer Musik. Beim Anhören der neusten Ausgabe ihrer Compilation-Serie, World War 2020, die zu jedem 20. Release erscheint, stellt sich mir dann aber doch die Frage, ob hinter der Musik vielleicht mehr steckt als nur pures Chaos.

In einem Versuch, die Musik und Message von H.V.R.F. zu verstehen, habe ich einen E-Mail-Austausch mit dem offiziellen Account des Labels gestartet – mit wem genau ich aus der Gruppe spreche, wollte man mir allerdings nicht sagen. Ihre Antwort, die immer wieder angriffslustig und widersprüchlich waren, werfen fast so viele neue Fragen auf, wie sie beantworten. Aber gut, wie könnte es in einer Welt wie dieser auch anders sein? Hier ist ein Auszug und eine Zusammenfassung aus unserem Mail-Verkehr.

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Noisey: Die Idee von Widerstand ist mit "Resistance" schon im Namen eures Kollektivs verankert. Gab es bei eurer Gründung bereits das Vorhaben, eine politische Kraft zu werden?
H.V.R.F. Central Command: Da wir in der Ukraine leben und sich das Land im Kriegszustand befindet, war es durchaus sinnvoll, eine militärische Haltung zu adoptieren. Aber auch wenn einige unserer frühen Veröffentlichungen auf Kriegsschauplätze und Strategien verweisen, war es erst Release #20, bei dem ein Künstler mit dem ganzen World War 2020-Konzept an uns herantrat. Jede 20. Veröffentlichung ist eine neue Episode von World War 2020. Im Großen und Ganzen haben die meisten unserer Veröffentlichungen keinen politischen Hintergrund. Macht uns das zu einer politischen Kraft? Vielleicht tut es das in diesen besonderen Zeiten – vor allem im Vergleich zu all den komplett unpolitischen Labels. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die erste  WW2020-Veröffentlichung, die im Mai 2016 erschienen ist, die Trump-Präsidentschaft und einen Russland-Fokus vorausgesagt hat.

Gefällt euch das irgendwie auch, dass sich eure Vorhersagen bewahrheitet haben? Oder ist es ein komisches Gefühl, dass eure schlimmsten Befürchtungen Realität geworden sind? 
Wir waren jetzt nicht gerade hämisch in unserer Rolle als Prädiktor – avantgardistische Künstler verfügen typischerweise über ein seherisches Talent. Was allerdings die "schlimmsten Befürchtungen" angeht, möchten wir gerne widersprechen. Erstens wissen wir nicht, wie die Zukunft aussehen wird, aber in der Vergangenheit schien es so, als würde die globalistische Agenda der US-Politik direkt auf einen Dritten Weltkrieg zusteuern.

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Viele von uns haben sowohl Bernie Sanders, als auch Donald Trump bei der letzten Wahl gemocht. Wir sind also von Natur aus "oxymoronisch."

Wir waren jeden einzelnen Tag der Obama-Präsidentschaft in Konflikte verwickelt – kämpferische Auseinandersetzungen in insgesamt elf verschiedenen Ländern. Obamas Zeit war wohl kaum eine Zeit des "Friedens". Die Überwachung von Bürgern durch die Regierung hat zu seiner Zeit ebenfalls ein noch nie dagewesenes Hoch erreicht. [ Anmerkung des Autors: Diese Behauptung lässt sich nur schwer belegen, aber selbst die Privatunternehmen, die im Besitz unserer Nutzerdaten sind, geben zu, dass die Informationsanfragen der US-Regierung in den letzten Jahren zugenommen haben.] Vielleicht wäre diese "schlimmste Befürchtung" eine Clinton-Präsidentschaft gewesen. Vielleicht wird Trumps Sieg sogar einige der globalen Konflikte regeln. Wir müssen abwarten. Aber bevor du jetzt anfängst, H.V.R.F. in das "Alt-Right"-Lager oder ähnlichen Nonsens zu stecken, müssen wir sagen, dass viele unserer Künstler (ich inklusive) begeisterte Bernie-Sanders-Unterstützer waren. Die DNC-Leaks haben nur gezeigt, wie korrupt und manipulativ Hillary Rodham Clintons Maschinerie war. Nichts daran war auch nur ansatzweise ehrlich.

Bei der aktuellen Compilation und der über den damaligen republikanischen Präsidentschaftsbewerber Ted Cruz vom letzten Jahr scheint ein gewisser Sinn für Humor durch – vielleicht ist es auch Surrealismus. Könnt ihr beim Blick auf das aktuelle Weltgeschehen nicht anders als zu lachen?
Es wäre natürlich eine Ehre als Teil der surrealistischen / dadaistischen Tradition wahrgenommen zu werden. Eine ordentliche Portion Hyperrealismus ist aber auch enthalten. Bei der Ted Cruz-Compilation haben wir natürlich viel mit dem "Ted Cruz = Zodiac Killer"-Meme gespielt und viele von uns haben darauf Pop-Songs aus den 80ern gewürdigt, die politische Klangschnipsel verwendet haben – "5 Minutes" von Bonzo Goes To Hollywood zum Beispiel. Aber du hast schon richtig erkannt, dass das H.V.R.F. alles mit einer gewissen Komik betrachtet: Wo andere Schrecken sehen, stochern wir mit Stöcken nach Taschen voller Lachgas – wie die Surrealisten zur Zeit des Krieges.

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Damit wäre eine weitere Parallele angesprochen: Künstler wurden in Europa während des Zweiten Weltkriegs stark verdrängt. Diverse Hardvapour-Künstler sind aufgrund der Kriege in der Ukraine (aus dieser) vertrieben worden und operieren jetzt von neuen Standorten aus. Das ist also keine rein absurde/abstrakte Sicht auf das Weltgeschehen. Diese Kriege haben eine schlimme Auswirkung auf die Zivilbevölkerung und Menschen müssen aus ihrer Heimat fliehen. Damit wären wir wieder bei Wikileaks, das die Mechaniken und Schrecken dieser Kriege offenlegt.

Seht ihr es in eurer Verantwortung, eure politischen Ansichten in die Welt zu tragen? Ich habe das Gefühl, sie in den Konzepten eurer Veröffentlichungen lesen zu können, aber es ist alles recht mehrdeutig. Verfolgt ihr eine bestimmte Agenda? 
Unsere Ansichten sind unterschiedlich und es gibt keinen Konsens. Die Paradoxien sind zahlreich und gerade das macht es so spannend. Auch wenn wir nicht für alle unserer Künstler sprechen können, können wir sagen, dass viele von uns sowohl Bernie Sanders, als auch Donald Trump bei der letzten Wahl gemocht haben. Wir sind also von Natur aus "oxymoronisch." Wir haben auch bemerkt, dass die jüngsten Künstler bei uns Teil dessen sind, was wir die "Wikileaks Generation" nennen. Sie haben ein gesundes Misstrauen gegenüber der Mainstreammedien-(Propaganda?)-Maschine. Es ist aber nicht so, als würden wir auf die Straße gehen und für ein bestimmtes "Ziel" demonstrieren.

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Seid ihr angesichts der Trump-Präsidentschaft optimistisch? Was würdet ihr denjenigen sagen, die – nicht ganz unberechtigt – besorgt sind, dass er das Leben und Wohlergehen marginalisierter Menschen im In- und Ausland bedroht? 
Wir müssen optimistisch bleiben und hoffen, dass einiges von der "Wirksamkeit des Positiven Denkens" wahr ist. Was deine Anmerkung bezüglich "marginalisierter Menschen" angeht, können wir sagen, dass es einige "marginalisierte" (hispanische, LGBTQ, etc.) Künstler bei H.R.V.F. gibt, die Trump als weniger gruselige Option im Vergleich zu Clinton gesehen haben. Diese Haltung ist auch durch die Wikileaks-Enthüllungen entstanden. Das heißt aber nicht, dass wir "Trumper" sind. Überhaupt nicht. Wäre es zu Bernie Sanders VS Trump gekommen, hätten viele von uns wahrscheinlich für Ersteren gestimmt.

Ihr veröffentlicht sehr harte elektronische Musik, die stark von Genres wie Gabber, Hardstyle und Industrial beeinflusst ist oder direkt darauf aufbaut. Abgesehen von den politischen Kontexten, in denen diese Musik ursprünglich entstanden ist, was bedeutet es, diese Sounds mit einer Art "politischer" Message zu paaren? 
Von den über 80 Veröffentlichungen, die es bislang bei H.V.R.F gibt, haben vielleicht acht eine explizitere "politische" Message – 20-30 drehen sich um Science-Fiction- oder Cyberpunk-Themen. Wir sind wirklich nicht viel mehr als eine offene Plattform für Künstler, über die sie ihre Ideen und Konzepte verbreiten können. Es gab zum Beispiel keine Vorgaben für das Wikileaks-Album. Hätten wir 20 Pro-Clinton-Tracks bekommen, dann hätten wir die auch veröffentlicht.

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Überleben ist kein "linkes" oder "rechtes" Konzept.

Was uns an dieser Stelle aber noch wichtig ist: Angesichts eines möglichen Einsatzes von Nuklearwaffen gegen Zivilbevölkerungen – wenn und falls es zu einem weiteren Weltkrieg kommen sollte –, dann sind Gruppen wie Wikileaks ein extrem wichtiges Werkzeug für die Öffentlichkeit. Unsere politischen Führer spielen regelrecht mit unseren Leben in ihren Kriegsspielen und wir brauchen dringend Organisationen, die uns dabei helfen, die Menschen an der Macht "in Schach" zu halten. Überleben ist kein "linkes" oder "rechtes" Konzept.

Ihr möchtet ja nicht mit der "Alt-Right"-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Was haltet ihr vom sogenannten "Fashwave", der gerade im Internet rumgeht? Wie ist das Genre in Bezug zu eurer Musik einzuordnen? 
Wir bezweifeln, dass sich viele ernsthafte Anhänger der Alt-Right-Bewegung für Bernie Sanders begeistern könnten. Was Fashwave angeht, so ist das ein ziemlich neuer Begriff und ein neues Genre. Aus Neugier haben wir uns die Musik von CyberNazi [ Anm.d.R.: ein Fashwave-Act] angehört und fanden, dass sie gut komponiert und gekonnt produziert war – etwa wie Com Truise mit leichtem Wagner-Touch.

Seine Musik ist rein instrumental, also gibt es abgesehen von der visuellen Ästhetik keine Hassbotschaften, die damit transportiert werden. Es ist schon interessant, dass er von BandCamp und YouTube gesperrt wurde, wohingegen Nazipunk- und Metal-Bands mit eindeutig hasserfüllten Texten nicht von diesen Plattformen zensiert wurden. Musikalisch gibt es wenig bis keine Überschneidungen zu Hardvapour. Fashwave kommt aus einer ideologisch derartig unterschiedlichen Perspektive, dass wir da keinerlei Verbindungen sehen. Für diejenigen, die uns beschuldigen, dass das H.V.R.F.-Logo "nazimäßig" aussieht, sollte gesagt sein, dass die Vorlage für das Logo von einer chinesischen Baufirma stammt und es überhaupt viel mehr dem der NATO ähnelt als irgendwelchen faschistischen Symbolen.

Zieht ihr bei eurem Label denn irgendwo eine politische Grenze? 
Soweit hatten wir noch keine Einsendungen, bei denen wir Probleme sahen. Aber es hat einen Fall gegeben, in dem sich ein Künstler im letzten Moment doch dagegen entschieden hatte, uns sein fertiges Album zuzuschicken. Es war die Originalversion von  World War 2020: Episode 3 "ISIS". Der Künstler befürchtete, dass die Verwendung eines bestimmten muslimischen Gebets als respektlos und gotteslästerlich wahrgenommen werden könnte. Wir haben dann einen anderen Musiker kontaktiert, der bereits mit Klangkollagen über verzerrten islamischen Beats experimentierte. Die Person hat dann schnell ein Album für uns gemacht, um die zurückgezogene Version zu ersetzen.

Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.

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