Aufwachsen in der Stadt Zürich
Foto von Hansueli Krapf

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Aufwachsen in der Stadt Zürich

Wie ist es, seine Kindheit und Jugend in der grössten Stadt der Schweiz zu verbringen? Nici Faerber erzählt.

Wir können uns nicht aussuchen, wo wir geboren werden. Dem sollte man sich im aktuellen Weltgeschehen sehr bewusst sein und nicht über Leute von anderswoher urteilen. Ich für meinen Teil bin sehr dankbar und glücklich darüber, vor über 27 Jahren in der Stadt an der Limmat das Licht der Welt erblickt zu haben. Dort, wo sich heute Medizinstudenten auf das Staatsexamen vorbereiten und angehende Juristinnen bis kurz vor den Prüfungen die öffentlichen Lernplätze in Beschlag nehmen, um danach den halben Tag nicht mehr dort aufzutauchen. Damals hiess dieser Ort aber noch nicht Careum, sondern Rotkreuzspital.

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Die meiste Zeit meiner Kindheit bis zum Gymnasium verbrachte ich mangels Smartphone und Social Media entweder mit Fussballspielen, dem Sammeln von irgendwelchem Schrott wie Pokémon-Karten oder dem Rumraufen im Wald mit Freunden—die Festnetznummer meines besten Freundes von damals kann ich bis heute noch auswendig aufsagen. Das mit dem Wald mag Aussenstehende erstaunen, da wir uns Zürcher ja jeweils gerne ach so urban geben—Downtown Switzerland. Doch obwohl Zürich die grösste Stadt der Schweiz ist, findet man sich erstaunlich schnell irgendwo im Gehölz wieder. Die Faszination dafür sollte in mir Jahre später wieder aufleben, als ich an der ersten Waldparty teilnahm.

Doch dazwischen ging es nicht ganz so unbeschwert weiter. Das erste Handy kam und schon bald war der Highscore bei Snake wichtiger als der Wald oder die unterschiedlichen Sammlungen. Es galt, in dieser Zeit zum ersten Mal auf eigene Faust Neues auszuprobieren. So erlebte ich auch meinen ersten Vollsuff, als ich Silvester mit Freunden oben vor dem Restaurant Sonnenberg verbrachte. Die Aussicht auf Zürich ist vielleicht nicht ganz so spektakulär wie jene bei der Waid, dafür ist der Ort um einiges schneller zu erreichen. Neben dem ekligen Geruch von Magensäure gemischt mit Bier und Moscato im Mund kann ich mich allerdings nur noch an die Scheisskälte dieser Nacht erinnern. Das Feuerwerk habe ich damals nicht mehr mitgekriegt. Das einzig Positive an diesem Abend war, dass wir uns sicher sein konnten, dass sich bestimmt niemand von unseren Eltern oder Bekannten in diesen kleinen Park dort beim Sonnenberg verirren wird.

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Solche von Erwachsenen geschützte Grünflächen gab es in Zürich mehrere und diese wurden von uns je nach Jahreszeit dankbar in Beschlag genommen, etwa so wie ein Bauer seine Felder wechselt. So war beispielsweise das "Pärkli" zwischen der Kantonsschule Stadelhofen und Hohe Promenade der place to be für all jene Schüler, die dem Cannabis frönten oder mal wieder eine Prüfung schwänzen mussten. Mein liebster Ort war jedoch das "Loch".

Wer jetzt an eine Höhle oder an eine Isolationszelle eines US-Gefängnisses denkt, irrt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Unter dem "Loch" verstehen in der Stadt Zürich Aufgewachsene jene kleine Wiese am See beim Bahnhof Tiefenbrunnen, auf welche sich neben ein paar Rentnern, deren Haut von der vielen Sonne ausschaut wie Leder, eigentlich nur Unter-20-Jährige verirren.

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Wir Zürcher sind im Sommer generell sehr gerne am Wasser und geniessen das Privileg, nicht zwischen See oder Fluss entscheiden zu müssen, da beides vorhanden ist. Im "Loch" jedoch brauchte man keinen Eintritt zu bezahlen und der Imbissladen Spuntino für die Pommes beziehungsweise die Tankstelle für das mit der gefälschten Legi erworbene Bier waren gleich um die Ecke. Zudem störte es dort niemanden, wenn von allen Seiten Bob Marley oder Manu Chao aus kleinen Boxen schepperte.

War man mutig genug oder hatte im pubertären Übermut das Gefühl, einem Mädchen imponieren zu müssen, lief man rasch 300 Meter weiter zum Bootshafen "Kibag" und schwang mit dem Seil vom stillgelegten Kran zehn Meter runter ins Wasser. Der Tag wurde im "Loch" schnell einmal zur Nacht, verschiedene einfache und komplizierte Beziehungen nahmen dort ihren Anfang oder ihr Ende und ich wünschte mir, das Leben sollte immer so unbeschwert und sonnig sein—wie man sich täuschen kann!

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In der restlichen Zeit des Jahres hingen wir am Wochenende in Bars wie dem Myplace beim Pfauen oder dem Liquid im Chreis Cheib ab und fanden uns dabei unglaublich toll und erwachsen. Später kamen dann sporadisch die Montage (Blaze up the fire) im Besame Mucho und die Dienstage (Jamaica's Finest) in der Kanzlei dazu. Diese Partys waren gratis und die Türsteher nahmen es mit dem Alter auch nicht so genau. Meine grosse Liebe zur elektronischen Musik entdeckte ich erst nach meinem 18. Geburtstag.

Mit zunehmendem Alter begannen meine Freunde und ich, uns für die Politik zu interessieren. So wurde bei unseren Barbesuchen öfters auch über das aktuelle Weltgeschehen diskutiert und wir nahmen regelmässig am 1. Mai-Umzug teil. Das Zusammengehörigkeitsgefühl an der spontanen Schülerdemo im März 2003 gegen den Irakkrieg der USA oder bei der Abwahl von Blocher im Jahr 2007 fand ich ungeheuerlich anregend und berauschend. Noch heute gehe ich an Demos, nehme an politischen Diskussionen teil und kann mit gutem Gewissen von mir behaupten, noch nie eine Abstimmung verpasst zu haben, seit ich 18 geworden bin.

Aufwachsen in der Stadt Zürich ist gar nicht so besonders oder einzigartig wie manche von uns dies Nichtstädtern oder Zugezogenen weismachen wollen. Die wenigen Unterschiede oder Eigenarten kommen eher davon, dass man sich hier früh für einen von zwei Fussballclubs entscheiden muss, mit 16 nicht gleich die Töffliprüfung, geschweige denn volljährig die Autoprüfung macht und unser Geröllhügel, den ein Gletscher vor langer Zeit hier liegengelassen hatte, von Kindesbeinen an liebevoll Üetliberg genannt wird.

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Titelfoto von Hansueli Krapf | Wikimedia | CC BY-SA 3.0