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FIGHTLAND

Warum Kung-Fu-Meister nicht mehr lehren wollen

Immer weniger Menschen interessieren sich für Kung-Fu. Schuld daran sind die endlosen, knallharten Trainingsmethoden. Hobby-Kämpfer haben darauf wenig Lust. Noch weniger Bock haben die Kung-Fu-Meister auf lustlose Schüler.

In China hat die traditionelle Kampfsportart noch immer ihren kulturellen und sozialen Platz am Tisch, doch es ist ein rein zeremonieller Platz, dem es an Macht und Einfluss im echten Leben fehlt. Außerhalb von China ist der Kung-Fu-Boom—der zu 1001 und einem Dojo führte—längst Geschichte. Hier laufen ihm MMA und andere beliebte fernöstliche Kampfsportarten wie Taekwondo und Karate schon seit längerer Zeit den Rang ab.

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Die gängige Erklärung dafür, dass Kung-Fu nicht mehr so beliebt ist wie früher, hat in der Regel damit zu tun, dass es als nur wenig effektive Form der Selbstverteidigung gilt. Kung-Fu sei zwar großartig für Filme und akrobatische Performances, doch für echte Kämpfe tauge es nur wenig, so die Meinung vieler. Die dann außerdem gerne auf den Erfolg des MMA-Sports zu sprechen kommen und sagen: „Seht ihr? Das wollen die Menschen sehen!"

Damit wäre die Debatte eigentlich schon beendet. Doch die Wahrheit ist mal wieder komplexer. Denn Technikelemente des Kung-Fu finden sich sowohl in anderen fernöstlichen Kampfsportarten als auch im MMA. Ja, du liest richtig. Auch in der hochmodernen UFC kommen (natürlich!) traditionelle chinesische Kampfkunst-Elemente wie Side-Kick, Roundhouse-Kick, Ellbogenschläge und vieles mehr zum Einsatz. Schon chinesische Meister haben ihre Schüler gelehrt, die Hände oben zu halten, ihre Gegner mit Kniestößen zu malträtieren und auf den fleischigen Oberschenkelpart ihres Gegners abzuzielen. Und natürlich die Mutter aller guten Schläge: Fußarbeit und starke Hüften.

Es kann also nicht wirklich darum gehen, dass Kung-Fu im Kampf angeblich nicht effizient genug ist. Es muss andere Gründe geben, warum der Sport ins Hintertreffen geraten ist. Und einer davon sind zweifelsohne die archaischen Trainingsmethoden traditioneller Meister.

In einem jüngst erschienenen Essay beleuchtet Professor Ben Judkins das kulturelle Erbe hinter traditionellen Kampfsportarten und geht dabei auch auf eine Publikation von Patrick Daly ein. Daly hat sich mit der Doku „Needle Through Brick" über Kampfkünste auf der Insel Borneo einen Namen gemacht. Der Film erzählt davon, wie chinesische Meister im letzten Jahrhundert Festlandchina den Rücken gekehrt haben, um vor den Kommunisten zu fliehen. Gleichzeitig mussten sie aber feststellen, dass ihre Kampfkunst vom Aussterben bedroht war, weil sich die junge Generation zunehmend dem Kapitalismus und damit anderen Werten zugewandt hatte. Werte, die mit Kung-Fu nur schwer bis gar nicht zu vereinbaren waren. Sowohl die beiden Publikationen als auch der Film sind absolut empfehlenswert, wir wollen uns aber im Folgenden mit einem Abschnitt aus Dalys Aufsatz beschäftigen, der den Hauptgrund für den langsamen Niedergang von Kung-Fu zur Sprache bringt:

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„…Als ich wissen wollte, warum er selbst so wenig Unterricht gab, antwortete mir der Meister mit ernster Stimme:

Meiner Meinung nach hat sich die Welt verändert. Ich gebe weder meinem Sohn noch meinem Enkel Kung-Fu-Unterricht. Die Leute fragen mich, ob ich ihnen Kung-Fu beibringen kann, aber die Leute sind mittlerweile irre…

Ein echter Meister kann nur dann echtes Kung-Fu lehren, wenn ein Schüler bereit ist, mindestens zehn Jahre unter seinem Meister zu lernen. Das ist nötig, damit der Meister den Character seines Schülers gründlich erforschen kann, ansonsten würde dieser früher oder später Probleme bereiten. Wir geben unser Wissen nicht an solche weiter, die nur für zwei oder drei Jahre Kung-Fu lernen wollen. Das ist Teil unserer traditionellen Kultur. Darum sterben gerade so viele Aspekte aus. Aber nur so geht traditionelles Kung-Fu.

Als ich fragte, ob es nicht möglich sei, die Auswahl der Schüler und gewisse Trainingsmethoden zu ändern, meinten alle Meister einstimmig ‚nein'. Sie machten deutlich, dass die einzelnen Prozesse, die sie selbst durchschreiten mussten, um Meister zu werden, ein untrennbarer Bestandteil der Kampfkunst seien. Und dass man Kung-Fu nicht richtig vermitteln könne, wenn man es ‚einfacher' machen würde … Außerdem, so die Meister, könnten sie, selbst wenn sie wollten, die Methoden nicht ändern, weil sie einen Schwur abgelegt haben. Dieser Schwur sieht vor, genauso zu unterrichten, wie sie einst selbst unterrichtet worden waren. Ein Meister meinte zudem:

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Es wurde über unzählige Generationen von Meister zu Schüler tradiert. Wir können es also nicht einfach so ändern. Wir müssen die Tradition ehren und bewahren. Und damit auch unseren Meistern Respekt zollen."

Das klingt an sich plausibel. Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Methodologie beim Kung-Fu genau den Kern von dem ausmacht, was die Meister an ihre Schüler weiterzugeben hoffen. Darum würden auch schon minimale Änderungen der Trainingsmethoden das große Ganze verwässern und damit den höheren Zweck verfehlen. Darum muss man auch noch im 21. Jahrhundert eine Holzpuppe in seiner Kung-Fu-Schule haben. Und nur Schüler, die sich mit diesen archaisch wirkenden Trainings-Tools auseinandersetzen, sind in den Augen der Meister echte Kung-Fu-Schüler.

Totempfahl und Tradition: die Holzpuppe im Kung-Fu

Ein Blick zu aktuell florierenden Kampfsportarten zeigt uns, dass sich Trainingsmethoden mit der Zeit entwickeln müssen. Selbst die jüngste Verletzung von Cain Velasquez führt zu Diskussionen hinsichtlich altertümlicher Trainingsmethoden und negativer Auswirkungen für den Körper.

Trotzdem beharren chinesische Meister stur auf ihren Methoden, die sich um die Philosophie des „gestählten Körpers" drehen. Das sind natürlich nicht gerade einladende Argumente für all die, die nach einem halben Jahr Thai-Boxen schon große Fortschritte feststellen. Oder für die, die von Kung-Fu-Meistern hören: „Trainier zehn Jahre mit dieser Eisenstange und dann bist du soweit." Bei solchen Aussagen ist klar, dass Kampfsportinteressierte eher den Weg Richtung MMA-Studio einschlagen. Was natürlich keineswegs bedeuten soll, dass beim MMA oder Brazilian Jiu-Jitsu dem Körper nicht alles abverlangt wird. Doch im Gegensatz zum Kung-Fu ist hier etliche Jahre früher Licht am Ende des Tunnels zu erkennen.

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Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum Meister lieber zusehen, dass ihre Kampfkunst zugrunde geht, als eine verwässerte Form davon an ihre Schüler weiterzugeben.

Traditionelle Meister bleiben ihren traditionellen Methoden (und Zeitrahmen!) treu, weil sie davon überzeugt sind, dass ihr System moralisch integre, verantwortungsbewusste und mental gestärkte Kampfsportler hervorbringt. Aus demselben Grund gibt es auch im BJJ keine schwarzen Gürtel für Minderjährige.

Für viele Meister traditioneller fernöstlicher Kampfsportarten ist das Training ein essentieller Prozess, bei dem die Reifen von den Unreifen getrennt werden. Denn das eigentliche Ziel besteht darin, sein Qigong zu entwickeln und zu kultivieren. Und erleuchtete Verhaltensmuster zu erlernen, die von einer starken inneren Kraft ausgehen.

Darum ist auch für heutige Meister Kung-Fu im eigentlichen Sinne keine Kampfsportart, sondern ein Weg zur Erleuchtung. Für Traditionalisten ist Kung-Fu untrennbar mit taoistischer oder zen-buddhistischer Philosophie verbunden. Genau vor dem Hintergrund dieses holistischen Ansatzes haben Traditionalisten für MMA-Kämpfer nur Spott übrig. Aus ihrer Sicht sind die nämlich richtige Barbaren, die sich mit Sachen beschäftigen, die sie in deren Tiefe überhaupt nicht verstanden haben.

Darum akzeptieren traditionelle Meister auch nur blutjunge Schüler, die bereit sind, ihre Kindheit und Jugend einem brutalen Trainingsprogramm unterzuordnen, um dann ab 20 von der „harten" zur „weichen" Kampfkunst übergehen zu dürfen. Im Alter von 40 wird aus dem Schüler schließlich ein Meister, der im weiteren Verlauf seines Lebens einen immer höheren Grad der Erleuchtung zu erlangen versucht.

Alles andere ist für die Meister einfach nur Sport.