Jeden Morgen gegen sechs Uhr wacht Alva neben ihren Kindern auf, 10, 9 und 3 Jahre alt. Die Mutter, die zwei Söhne und die Tochter schlafen auf handbreiten, gelben Schaumstoffmatten ohne Laken, die fast den gesamten Boden des Zimmers bedecken. Alva hat ein rotes Tuch vor das Fenster gespannt, damit nicht die Sonne ihre Kinder weckt, sondern sie selbst. Alva ist 36 Jahre alt, ihre Augen sind rot gerändert, zwischen ihren blonden Strähnen wachsen graue Haare. Früher habe sie 75 Kilo gewogen, sagt sie. Heute sind es 65. “Der Kummer ist meine Diät.”
Momentan lebt die Familie zu viert in zwei Zimmern auf 56 Quadratmetern. Auf dem Boden, Fließen aus Plastik, die an manchen Stellen abblättern, stehen Kartons, Kisten, Plastiktüten. In manchen Kartons liegen Aktenordner, in anderen Spielsachen, ein Barbie-Pferd, ein Rennauto, aus einem quellen T-Shirts und Hosen und in einem anderen stapelt sich Geschirr eingewickelt in Zeitungspapier. “Es lohnt sich nicht, das alles auszupacken”, sagt Alva. Wohin auch? Sie hat nur einen Schrank, keine Regale. Und sie muss hier wieder ausziehen, am besten so schnell wie möglich.
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Eigentlich heißt Alva anders, ihren echten Namen und den ihrer Kinder will sie nicht verraten, weil sie sich schämt. Im Mai verlor die Familie ihre Wohnung. Seitdem lebt sie in einer Unterkunft der Caritas im Norden Berlins, in der Gegend, über die Sido “Mein Block” schrieb. Es gibt viele Wohnblöcke, die weit in den Himmel ragen, doch an Alvas Haus laufen kaum Menschen vorbei. Der Regen hat die Fassade des Hauses grau gewaschen, es gibt einen Asia-Imbiss vor der Haustür und die Flure riechen, als wären sie lange nicht mehr gelüftet worden. Eigentlich ist das Gebäude ein Seniorenheim. Aber in eine Wohnung hinter einer roten Tür im Erdgeschoss quartiert die Caritas immer wieder Menschen ein, die sonst keinen Ort haben, an dem sie bleiben können.
Drei Monate lang, so erzählt Alva es, habe ihr Mann keine Miete bezahlt. Sie habe davon nichts gewusst, bis sie eines Tages zufällig einen Brief der Hausverwaltung fand. Fristlose Kündigung. Der Vermieter ließ sich davon nicht mehr abbringen. “Es kam ihm recht”, meint Alva. Jetzt lasse er die Wohnung renovieren. Danach, glaubt sie, soll dort jemand einziehen, der mehr Geld hat als sie. Alva lebt von Hartz IV, eine Ausbildung hat sie nie gemacht.
Fast 36.000 Menschen in Berlin waren Ende 2017 obdachlos
Immer mehr Familien in Berlin verlieren wie Alva ihre Wohnung und werden obdachlos. Der Verein Straßenfeger hat Anfang August gewarnt, dass er in seiner Notunterkunft jede Woche vier, fünf Familien abweisen müsse, weil nicht genug Platz sei. Genaue Zahlen, wie viele Menschen in Berlin obdachlos sind, gibt es nicht. Die Stadt erfasst nur die Menschen, die sie in einer Unterkunft einquartieren kann. Ende vergangenen Jahres waren das fast 37.000 Menschen, rund 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Fast ein Viertel der wohnungslosen Menschen sind Familien mit Kindern. Hinzu kommen jene, die auf der Straße leben oder nur vorübergehend bei Freunden unterkommen.
Alva dachte, ihre Cousins in Düsseldorf würden ihr eine Wohnung besorgen und sie könnte in einer neuen Stadt noch einmal von vorne beginnen. “Aber sie haben sich einfach nicht mehr gemeldet.” Freunde, die sie hätten aufnehmen können, haben sie nicht. “Ich habe gelernt, dass man selber kämpfen muss”, sagt Alva. “Die anderen machen alle nur: bla, bla. Versprechen viel, aber wenn man sie braucht, erinnert sich niemand mehr daran.” Sie hört sich nicht wütend an, sondern müde.
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Alva schiebt einen blauen Kinderwagen durch die Straßen Berlins, vorbei an einem Café, in dem Menschen Cappuccino mit Milchschaum in Herzform trinken und auf Stühlen sitzen, die aussehen, als hätte sie jemand vom Sperrmüll geholt. Jeden Morgen läuft Alva daran vorbei, wenn sie ihren Sohn in die Kita am anderen Ende der Stadt bringt, in dem Viertel, in dem sie die vergangenen zehn Jahre lang zu Hause war, in dem alle paar Meter irgendjemand stehen bleibt und grüßt. Mit Bus und S-Bahn ist Alva eine Dreiviertelstunde unterwegs, morgens und nachmittags. Weil Ferien sind und es niemanden gibt, der auf ihre anderen beiden Kinder aufpassen könnte, laufen sie nebenher: Mira, 10 Jahre alt, ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz, löchrigen Jeans und weißen Glitzerschlappen und ihr ein Jahr jüngerer Bruder, der einen Kopf kleiner ist. Manchmal hält er noch die Hand seiner Mutter fest.
Nachdem sie ihren Sohn in den Kindergarten gebracht hat, trinkt Alva einen Tee, aber nicht in dem Café mit den Sperrmüll-Stühlen, sondern im SOS-Kinderdorf. Hier kostet eine Tasse 50 Cent, hier trifft Alva Frauen, die auch Probleme mit ihrer Wohnung, ihrem Mann oder ihrem Kontostand haben. “Die Behörden, der Staat, da hilft dir keiner”, sagt eine. “Du musst dich selber kümmern.” Alva nickt. Sie schaut auf ihre Nägel, gestern lackierte sie eine Bekannte im Café rot, heute platzt der Lack schon wieder ab.
Alva hat Schulden – wie viel genau, weiß sie nicht
Mindestens einmal die Woche muss sich Alva mit einem Sozialarbeiter der Caritas treffen, das ist die Bedingung, damit sie in der Unterkunft wohnen darf. Er soll ihr helfen, eine Wohnung zu finden, Formulare auszufüllen und Schulden los zu werden. Wie viele sie hat, wisse sie nicht, sagt sie. Ein paar tausend Euro vielleicht. Weil sie eine Zeit lang vom Jobcenter Geld erhielt, obwohl sie gleichzeitig als Putzfrau etwas verdiente. Weil sie den Nachhilfeunterricht ihrer Tochter nicht bezahlte und ihr Mann eben die letzten Mieten nicht.
Der Sozialarbeiter ist um die 30 und trägt Flipflops. Als Alvas 10-jährige Tochter Mira “Hi” zu ihm sagt, fragt er “Wo?” und lacht. Mira lacht nicht. Ihr Bruder spielt mit anderen Kindern ein paar Straßen weiter beim SOS-Café Fußball. Mira sitzt in einem grün gestrichenen Gang unter Neonlicht und wartet, bis ihre Mutter und der Sozialarbeiter fertig sind. Miras Nägel sind abgekaut, in ihren Händen hält sie ein Glas Wasser, sie sagt viele Dinge, die klingen, als hätte sie ihr halbes Leben bereits hinter sich. “Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Behörden mit den Menschen spielen, als ob sie Marionetten wären.” Oder: “Heutzutage gibt es keine echten Freunde mehr.” Oder: “Man kann niemanden mehr vertrauen.” Mira erzählt, dass sie in der Schule gemobbt worden sei, dass sie zu viel esse und dass es ihr Herz gebrochen habe, als sich ihre Eltern trennten. “Aber jetzt verstehe ich Mami schon.”
Eine Viertelstunde später fällt hinter Alva und ihrer Tochter die braune Holztür der Beratungsstelle wieder zu. Der Termin ist vorbei. Und Alva muss weiter, zum Jobcenter, zur Polizei, zu der nächsten Beratungsstelle, die ihr helfen soll, ein Zeitschriften-Abo zu kündigen. “Ich bin so müde”, sagt Alva. “Das kommt davon, weil du zu viel Schwarztee trinkst”, sagt ihre Tochter.
Ohne die kleine Wohnung der Caritas ging es Alva noch schlechter. Dann hätten sie und ihre Kinder in eine Notunterkunft ziehen und diese jeden Morgen mit all ihren Sachen wieder verlassen müssen. Alva und ihre Kinder hätten sich das Zimmer mit Unbekannten teilen müssen. Denn die Notunterkünfte nehmen jeden auf, der kein Dach über dem Kopf hat. Wie es die Menschen verloren haben, fragt niemand. 140 solcher Plätze gibt es in Berlin. Vor fast einem Jahr hat die Stadt eine weitere Notunterkunft nur für Familien geschaffen – mit 30 Plätzen, einer Gemeinschaftsküche, Aufenthaltsräumen und Sozialarbeitern, die mit den Kindern kochen, basteln und spielen. Weil der Bedarf so groß ist, sollen noch 100 weitere solcher Plätze entstehen. Ein Gebäude dafür hat die Stadt aber noch nicht gefunden.
“Manchmal bin ich zu böse zu den Kindern”, sagt Alva
Es ist 12 Uhr Mittag und Mira und ihre Mutter laufen an einer Bäckerei vorbei. “Mami, ich habe Hunger.” Mira verstellt ihre Stimme und klingt zum ersten Mal an diesem Tag nicht älter, sondern jünger als 10 Jahre. “Du hast doch schon ein Brot gegessen und Zwetschgen. Du wirst nicht verhungern.”
Die 36-jährige Alva klingt genervt. Später sagt sie: “Manchmal bin ich zu böse zu den Kindern. Manchmal sage ich Dinge, die ich nicht so meine.” Und dann sagt Alva auch, dass sie so kaputt ist. Dass sie oft die ganze Nacht wach liegt. Dass ihre Kopfhaut manchmal so juckt und sie sich dann kratzt, bis es blutet.
Alva hat noch einen Euro in ihrem Geldbeutel. Sie sagt, sie wolle später eine Freundin anrufen, die ihr manchmal Geld leiht, mal 20 Euro, mal 50, zuletzt 100. “Ich gebe es immer gleich zurück”, sagt sie schnell, obwohl sie danach gar niemand gefragt hat. Für Alva ist es wichtig, ob die Milch gerade 55 Cent kostet oder 68. Sie geht lieber am Wochenende einkaufen, weil es da mehr Angebote gibt. Immer am 20. des Monats weiß sie, dass das Kindergeld kommt. Und ihr neunjähriger Sohn weiß das auch. Als er seine Mutter daran erinnert, antwortet sie: “Du sollst dir darüber keine Gedanken machen. Genieß deine Kindheit.” Er schweigt.
Alvas jüngster Sohn wird in ein paar Tagen drei. Wenn im Kindergarten jemand Geburtstag hat, bringt er für alle Süßigkeiten in kleinen bunten Päckchen mit. Ihr Sohn, meint Alva, freue sich schon so darauf. “Ich muss schauen, wie das mache.” Ein Geschenk jedoch könne sie ihm nicht kaufen.
Mit Anfang 20 kam Alva nach Deutschland, weil sie von einem besseren Leben träumte. Sie ist in einem Dorf in Mazedonien aufgewachsen. Mit acht Geschwistern, vielleicht 30 Häusern in der Nachbarschaft und einem Bus, der zweimal am Tag in die Hauptstadt fuhr. Sie sei die erste in ihrem Dorf gewesen, die Abitur machte. Darüber habe sogar die Zeitung berichtet, sagt sie. Und dann verliebte sie sich in einen zehn Jahre älteren Mann, der einen deutschen Pass hatte und einen Bruder in Mazedonien. “Ich habe zu viele Filme gesehen. Berlin – das habe ich mir vorgestellt wie New York.” Aber statt im Penthouse wohnten sie in einer kleinen Wohnung mit alten Möbeln. Er war Koch, sie putzte Büros. Jeden Morgen um 4 Uhr aufstehen, für 1.300 Euro im Monat. Dann waren da noch die Kinder, dazu kam immer mehr Streit. Ihr Mann habe nachts gearbeitet, tagsüber geschlafen und das meiste Geld, das er verdiente, am Automaten verspielt oder seiner Familie in Mazedonien geschickt. “Sogar ein Haus hat er ihnen gebaut”, sagt Alva. “Und seine Kinder schlafen auf dem Boden.” Er sei schuld, dass es der Familie so schlecht gehe. “Wenn wir eine Wohnung haben, wenn alles geregelt ist, werde ich mich scheiden lassen.”
Bei Alva beginnen viele Sätze mit “Wenn wir eine Wohnung haben”. Dann will sie sich eine Arbeit suchen, Schulden loswerden, zur Ruhe kommen, irgendwann in den Urlaub fahren. Auf einem Tisch in ihrer Unterkunft steht ein schiefer Turm von Pisa in Miniaturform aus Keramik. Der Mann einer Freundin hat ihn ihr geschenkt, er ist Taxifahrer. “Ich habe zu ihm gesagt, er soll mich da mal hinfahren”, sagt Alva.
Früher kamen die meisten Obdachlosen aus Osteuropa – heute haben viele einen deutschen Pass
Doch bis die Familie eine eigene Wohnung hat, kann es noch dauern. “Viele bleiben in der Unterkunft, mehrere Monate lang”, sagt Kai-Gerrit Venske, der sich bei der Caritas um das Thema Obdachlosigkeit kümmert: “Manche ein ganzes Jahr.” Früher seien obdachlose Familien in Berlin vor allem Roma oder Menschen aus Osteuropa gewesen. Inzwischen müssten sich er und seine Mitarbeiter immer häufiger um Leute mit einem deutschen Pass kümmern. “In den vergangenen sieben, acht Jahren hat sich die Wohnungssituation in Berlin in eine dramatische Richtung entwickelt.” Vermieter würden immer weniger Entgegenkommen zeigen, weil sie genau wüssten, dass sie für ihre Wohnung schnell jemand anders finden – der oder die bereit ist, mehr dafür zu zahlen. Die Caritas besitzt in Berlin 100 solcher Wohnungen wie die, in der Alva und ihre Kinder leben. Eigentlich, sagt Venske, bräuchten sie noch mehr, vor allem welche für Familien mit vielen Kindern.
Alva sitzt auf einer Parkbank und ihre Tochter ein paar Meter weiter alleine im Sandkasten. Die Mutter hat sie zum Spielen geschickt, weil sie nicht hören soll, was die Erwachsenen besprechen. Aber Mira gräbt nur die Finger in den Sand. “Was ist nur mit den Menschen los?”, fragt Alva. Sie trinke keinen Alkohol, nehme keine Drogen, sie versuche, eine gute Mutter zu sein, die ihren Kindern jeden Morgen Brote schmiert. Trotzdem hat sie Angst, dass ihr das Jugendamt eines Tages ihre Kinder wegnimmt. Für mehr als 100 Wohnungen habe sie sich beworben. Aber nur bei zehn sei sie zu einer Besichtigung eingeladen worden. Manchmal würden die Vermieter schon auflegen, wenn sie nur ihren ausländischen Namen hören. Am Freitag steht wieder eine Besichtigung an. Zweieinhalb Zimmer, 75 Quadratmeter, Charlottenburg. Alva sagt, sie habe ein gutes Gefühl.