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Obdachlose erzählen, wie sie sich gegen Gewalt auf der Straße wehren

Obdachlose erzählen, wie sie sich gegen Gewalt wehren

Jeden Tag begegnen mir Obdachlose, auf dem Weg zur Arbeit, vorm Supermarkt und auf dem Vorplatz des S-Bahnhofs. An den immer gleichen Stellen sitzen die immer gleichen Menschen. Ich habe mich an den Anblick der Obdachlosen gewöhnt. Sie fallen mir erst auf, wenn sie plötzlich nicht mehr da sind.

Ich frage mich dann meistens, warum sie ihren Stammplatz verlassen haben. Hat sie der DB-Sicherheitsdienst vertrieben? Stehen sie einfach an der nächsten Straßenecke? Liegen sie im Krankenhaus, weil sie letzte Nacht zusammengeschlagen wurden?

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So wie die drei Obdachlosen, die Anfang September von Unbekannten aus dem Schlaf geprügelt wurden. Die Täter verletzten zwei der Männer schwer, eines der Opfer verwundeten sie offenbar mit einer abgebrochener Glasflasche am Hals.


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Nur eine Nacht zuvor zündeten Unbekannte einem schlafenden Obdachlosen die Decke an. Das alles passierte in meiner unmittelbaren Berliner Umgebung. Mitbekommen habe ich es trotzdem nur dank kleiner Pressemeldungen.

Dass die Gewalt gegen Obdachlose zunimmt, erklärt auch die Berliner Polizei. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl der Angriffe fast verdreifacht. Im letzten Jahr dokumentierte sie 328 Fälle. 17 Menschen sind durch Gewalt in Deutschland im Jahr 2018 gestorben, so die Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V..

Ich will wissen, wer Obdachlose angreift, warum Menschen das tun und wie sich Betroffene wehren. Vier Obdachlose haben mir ihre Geschichten erzählt.

Heinrich, 53, hat keinen festen Wohnsitz mehr, seit er 16 Jahre alt ist

Heinrich hat keinen festen Wohnsitz seit er 16 ist
“Nach drei Tritten haben sie von mir abgelassen.” | Foto: Paul Schwenn

“Wenn du in der Obdachlosigkeit hängst, bist du Gewalt ausgesetzt. Mir passiert sowas ein- oder zweimal pro Woche. Die meisten Gewalt-Dinger sind sehr feige.

Vor ein paar Wochen sitze ich auf einer Bank in Neukölln. Da kommt plötzlich ein Typ mit einem Aggressionsproblem und Feuerzeug in der Hand an und – paaam! – der schlägt mir einfach so ins Gesicht. Ohne Ansage.

Ich saß also auf der Bank und habe geblutet wie ein Schwein. Den Bluterguss habe ich immer noch unter dem Auge. Ich hatte den Typen schon mal beim Arzt am Hermannplatz gesehen, wo viele Substituierte ihr Methadon bekommen. Keine Ahnung, was er wollte.

Ich ertrage es und weiß, dass ich nie so ein Gewaltficker werde

Wir Obdachlosen sind halt ganz leichte Opfer. Deshalb gehe ich ungerne irgendwo pennen, wo ich alleine bin. Am Bahnhof Zoo liegen die Leute im Abstand von fünf Metern nebeneinander. Da fühle ich mich wohler. Aber sicher bist du nirgendwo. Ich wurde auch schon am Zoo zusammengetreten.

‘Hört auf, ihr Wichser’, habe ich da geschrien. Nach drei Tritten haben sie von mir abgelassen. Ich frage mich immer, was das für ein faschistoides Gedankengut ist: ‘Da ist ein Obdachloser, dem können wir die Fresse einhauen’. Früher bin ich auch mal aufgestanden und habe zurückgetreten.

Besser habe ich mich danach nicht gefühlt. Ich wehre mich einfach, in dem ich es den Leuten nicht gleich tue. Ich ertrage es lieber und weiß, dass ich nie wie diese Gewaltficker sein werde.”

Paul*, 60, schlief zehn Jahre lang bei einer Rentnerin auf der Couch

Ein Passant hat Paul* gegen den Kopf getreten
“Zur Polizei rennen oder eine Anzeige machen bringt da gar nichts.” | Foto: Paul Schwenn

“Ich war früher Judokämpfer, habe sogar mal einen Monat in Japan trainiert. Wenn du keine Angst zeigst, dann greift dich eigentlich auch keiner an. Letzte Woche hat mir trotzdem jemand in einer U-Bahn-Station in Kreuzberg gegen den Kopf getreten. Ein blonder, großer Junge. Vielleicht 25 Jahre alt.

Der war nicht besoffen. Das schien ihm die angemessene Behandlung für Obdachlose zu sein. Ich habe ihm dann eine mit der Faust reingehauen. Ich kann ja auch schlecht wegrennen. Ich habe ein entzündete Wunde am Fuß. Meine beiden Beine sind unterschiedlich lang.

Die meisten Leute verachten dich. Sie haben aber eher Angst.

Zur Polizei rennen oder eine Anzeige machen bringt da gar nichts. Dass zwei Kripo-Männer zur Haltestelle fahren und sich die Überwachungsvideos anschauen, gibt es wirklich nur im Fernsehen. Solche Vorfälle passieren jeden Tag ein Dutzend Mal.

Ehrlich gesagt habe ich noch nie darüber nachgedacht, warum Leute Obdachlose angreifen. Die Leute schaffen einen Ausdruck für ihr eigenes Elend. Vielleicht suchen sie Bestätigung. Aber dass Obdachlose wie vor kurzem in Friedrichshain angezündet werden, ist wirklich eine Ausnahmesituation. Die meisten Leute verachten dich. Sie haben aber eher Angst.”

Christian, 38, besetzte früher leerstehende Häuser

Christian besetzte früher Häuser
Christian hat immer Pfefferspray dabei. | Foto: Paul Schwenn

“Gewalt habe ich weniger von normalen Leuten erlebt, sondern hauptsächlich von Nazis. Da reichten schon meine bunten Haare, um verprügelt zu werden. Es gibt viele Anfeindungen: ‘Du Assi, warum lebst du auf der Straße?’ Die denken, ich mache das mit Absicht. Ich habe aber auch schon gesehen, wie Obdachlose vor einem Asylbewerberheim angepisst wurden.

Das Traurige ist, dass die Menschen, die sich sowas rausnehmen, oft in genauso beschissenen Situationen sind. Ich habe natürlich versucht einzuschreiten, aber das hat nichts gebracht. Die wollten noch Stress mit mir anfangen.

Mich schützen meine zwei Hunde. Außerdem habe ich noch ein Pfefferspray dabei. Bei Stress musst du deeskalieren. Man sollte nicht zurückschlagen, lieber in ruhigem Ton sprechen. Wenn es zu viel wird, musst du zur Not über die Polizei gehen.”

Simon*, 35, wurde auf der Straße schon mit Steinen beschmissen

“Es gibt zwei Gründe, warum Menschen Obdachlose angreifen: Um uns zu demütigen oder sich selbst zu bereichern. Der zweite Fall ist aber viel häufiger. Neulich wurde mir meine Bauchtasche geklaut. Ich hatte eine Flasche Vodka getrunken und Diazepam geschluckt, also Schlaftabletten. Damit habe ich mich selbst zum Opfer gemacht. Das war meine eigene Schuld. Dann lenkt mich einer ab und der andere reißt dir die Bauchtasche ab.

Wenn 60 Euro oder das Handy weg sind, tut das weh, okay. Aber die Papiere, das ist wirklich schlimm. Die Täter müssen nicht immer Obdachlose oder Drogenabhängige sein, das sind einfache Kriminelle.

Mein Leumund ist nicht so gut wie deiner.

Wenn du sehen willst, wie oft ich verprügelt wurde, brauchst du nur mein Gesicht angucken. Ich lebe jetzt seit einem Jahr auf der Straße und bin drei Mal richtig verprügelt worden. Das eine Mal war echt heftig. Ein Anwohner hatte mich hier um die Ecke in einem Treppenhaus schlafen lassen. Morgens hat irgendein Nachbar so einer selbsternannten Polizei Bescheid gesagt, das war also kein richtiger Security-Dienst. Der Typ hat mich wachgetreten und sich Quarzsand-Handschuhe angezogen. Der dachte wohl, ich konsumiere Drogen. Ich hatte aber nur eine kleine Tasche dabei. Er hat mich trotzdem die Treppe heruntergeprügelt. Immer auf den Kopf. Unten stand eine zweite Person. Ich habe versucht, mit denen zu reden, aber das hat nichts gebracht. Die Polizei habe ich nicht gerufen.

Das waren zwei Leute, die brauchen der Polizei nur irgendetwas zu erzählen. Und ich habe ja auch meine Vergangenheit. Mein Leumund ist nicht so gut wie deiner.

Ich habe zum Beispiel im Supermarkt mal eine Flasche Schauma-Shampoo geklaut und wurde von der Polizei festgenommen, vier Kerle waren das. Im Streifenwagen haben sie mich mit einem Knüppel gehauen und bestimmten Druckstellen meines Körpers berührt. Dabei habe ich nur meinen Mund gehalten. Ich habe trotzdem kein Problem mit der Polizei, wie soll ein Rechtsstaat ohne sie funktionieren?”

Nicolas, 25, arbeitet als ehrenamtlicher Helfer bei der Berliner Obdachlosenhilfe

Die Obdachlosenhilfe verteilt Essen und Klamotten
Die Berliner Obdachlosenhilfe verteilt Essen und Klamotten. | Foto: Berliner Obdachlosenhilfe

“Nach meiner Erfahrung gibt es zwei Formen von Gewalt: die unter Obdachlosen und die von außen. Wenn Menschen auf der Straße leben, wollen sie Stärke beweisen und nicht schwach wirken. Respekt spielt eine große Rolle, ich würde das mit der Situation in einem Knast vergleichen.

Für einen obdachlosen Menschen ist es wichtig, seine Leute zu haben. Gerade Frauen suchen sich männliche Partner, um vor sexualisierter Gewalt geschützt zu sein. Oft sind die Gruppen nationalitätsgebunden, also nach Muttersprachen aufgeteilt. Das führt häufig zu rassistischen Tendenzen und Konflikten.

Die Polizei ist für viele Obdachlose kein Ansprechpartner

Mein Eindruck ist, dass die Gewalt von außen oft von Sicherheitsleuten kommt, zum Beispiel von Bahn-Securities. Die Polizei ist für viele Obdachlose kein Ansprechpartner. Sie werden häufig selber von ihr gesucht oder haben keinen festen Aufenthaltsstatus. Für viele Polizisten sind Obdachlose Bürger zweiter Klasse, ihre Belange interessieren sie nicht.

Ein Problem ist auch, dass viele Obdachlose bei Verletzungen nicht ins Krankenhaus gehen. Die meisten haben Angst, dass ihn der Aufenthalt in Rechnung gestellt wird oder das Krankenhaus mit der Polizei kooperiert. Deswegen wird Gewalt auf der Straße einfach ausgehalten.

Die Obdachlosen haben ein ganz anderes Schmerzempfinden. Sie sind sehr abgehärtet, bei vielen wirkt der Drogenkonsum betäubend. Wenn der Fuß gebrochen ist, dann humpelst du halt und gehst nicht ins Krankenhaus.

Damit die Gewalt gegen und unter Obdachlosen abnimmt, braucht es mehr Schutzräume. Also Rückzugsorte, an denen Obdachlose in Ruhe gelassen werden. In London oder Berlin gibt es ja mittlerweile diese menschenverachtende Abwehrtechnik, atonale Musik oder Strobolicht, mit dem Obdachlose vertrieben werden. Damit werden nur die Symptome bekämpft und die Betroffenen aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Dabei brauchen wir dauerhaft mehr sozialen Wohnraum.”

*Namen von der Redaktion geändert

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