“Es ist möglich, das Klima und die Grenzen zu schützen.” So fasste Sebastian Kurz am Dienstag zusammen, was er als alter und neuer Kanzler Österreichs vorhat. Direkt neben ihm stand Werner Kogler, Kurz’ neuer Vizekanzler und Chef der Grünen.
Noch in ihrem Wahlprogramm hatten die Grünen gefordert, legale Zugänge für Migration nach Europa zu schaffen, das Motto: “Solidarität kennt keine Grenzen.” Jetzt will dieselbe Partei also gemeinsam mit der ÖVP populistisch die Grenzen schützen? Ein Gedanke, der viele erschaudern lässt. “Ungewohnt, neu, schmerzhaft” sei vieles gewesen, ließ die Grünen-Verhandlerin und Vize-Klubchefin Sigrid Maurer prompt verlauten – für beide Seiten.
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Ein Blick in das Regierungsprogramm legt das allerdings nur bedingt nahe. Die 328 Seiten, die der grüne Bundeskongress am Samstag nun auch offiziell abgenickt hat, sind in weiten und zentralen Teilen ein ÖVP-Programm. Und sie zeichnen ein bedrohliches Szenario für andere grüne Parteien in Europa, vor allem aber für deren Wählerinnen und Wähler. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen, was in Österreich passiert.
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So zieht sich eine rigide Haltung in Sachen Asyl-, Migrations- und Integrationspolitik durch das ganze Programm. Hervor sticht dabei, dass ÖVP und Grüne eine Präventivhaft einführen wollen. Dies würde bedeuten, Menschen bereits dann in Haft zu nehmen, wenn Behörden zu der Einschätzung kämen, die Person könnte eine Straftat begehen. Auch die “Rückkehrzentren”, mit denen Asylsuchende zu einer freiwilligen Rückkehr in ihr Geburtsland gebracht werden sollen, finden sich im Programm. Erfunden hatte die eigentlich die gescheiterte schwarz-blaue Koalition.
Darüber hinaus ist das gesamte große Kapitel zu Asyl von einer Logik der Sanktionierung und des Verdachts durchtränkt. Der Tenor: Menschen, die ihn Österreich um Asyl bitten, sind ein Sicherheitsrisiko und am allerliebsten hätte man sie gar nicht hier.
Einige schöne Projekte, aber unklare Finanzierung
Das neue Klimaprogramm ist sicherlich das Herzstück der grünen Regierungsbeteiligung und der eigentliche Grund, warum die Grünen in eine Koalition gehen. Die Forderungen der ÖVP bei der Asylpolitik sollen hier ausgeglichen werden, und so finden sich viele Ideen der Grünen darin wieder. Österreich soll bis 2040 klimaneutral werden. Aber selbst dieses Kapitel ist bei Weitem kein rein grünes. So fehlt die von den Grünen so vehement geforderte CO2-Steuer.
Zumindest das Fliegen soll empfindlich teurer und das Öffi-Netz massiv ausgebaut werden. Woher das Geld für Letzteres kommen soll, steht allerdings nirgends.
Denn im Gegensatz zur losen Sammlung von Absichten wird im Finanzkapitel ganz konkret klar gemacht, dass es keine Mehreinnahmen über neue Steuern geben soll. Auch nicht über Vermögenssteuern. Im Gegenteil. Unternehmen etwa sollen mit der Senkung der Körperschaftssteuer sogar noch entlastet werden. Beschlossen hatten das bereits ÖVP und FPÖ, auch die Grünen bleiben dabei. Damit fallen 1,5 Milliarden Euro pro Jahr weg. Geld, das beim Kampf gegen den Klimawandel, für die Pflege und dringend notwendige Maßnahmen bei der Justiz fehlen wird.
Das Problem ist nicht die Zahl der Maßnahmen, die die Grünen in das Regierungsprogramm verhandelt haben, sondern die Qualität jener, die die ÖVP im Gegenzug weit über der eigentlichen Schmerzgrenze der Grünen durchgesetzt hat.
Neben den erwähnten Verschärfungen im Bereich Asyl ist das vor allem noch die Tatsache, dass die ÖVP die Chuzpe hat, schwarz auf weiß festhalten zu lassen, andere parlamentarische Mehrheiten zu suchen, falls die Grünen nicht mitstimmen wollen. Im Klartext heißt das: Die ÖVP kann, wenn sie will, im Asylbereich mit der FPÖ Gesetze beschließen. Mit dem Sanktus der Grünen.
Diese müssen dann zwar fürs Gewissen nicht mitstimmen, umsetzen und mittragen in der Koalition aber sehr wohl. Das grenzt an Selbstaufgabe und kann eigentlich von keiner Partei mit Selbstachtung umgesetzt werden. Für eine Partei wie die Grünen ist das besonders bitter, verstand sie sich bislang doch als Sprachrohr der Zivilgesellschaft. Sowohl bei Asyl-Initiativen als auch Fridays for Future genoss man hohe Glaubwürdigkeit.
Feministisch eine Enttäuschung, für die ÖVP kaum schmerzhaft
Dazu kommt, dass die ÖVP alle Schlüsselpositionen erhalten soll. Finanzen, Wirtschaft, Außen, Innen, Verteidigung sowie Arbeit und Integration sind dann in den Händen von Kurz’ Leuten. Das sind jeweils auch jene Ministerien, die im weiteren Sinne für Asyl- und Migrationsthemen zuständig sind. Dem einst großen Sozialministerium wurden die Arbeit-Agenden entrissen. Eine Demütigung für die Grünen, die sogar noch die Frauen-Agenden an die ÖVP abgetreten haben, weil diese unbedingt darauf bestanden hatte.
Dabei hätten die feministischen Grünen genau hier vieles aufholen können, was die äußerst rechte Vorgängerregierung verschlafen hat. Deren “Gewaltschutzpaket” für Frauen war schließlich ein Schnellschuss und wird von Expertinnen und Experten durchweg abgelehnt.
Mit dem Umwelt- und Infrastrukturministerium sowie dem Justizministerium sind immerhin zwei neuralgische Punkte in grüner Hand. Wenngleich in Ersterem nun ein ÖVP-Staatssekretär als Aufpasser sitzen soll.
Es scheint, als hätten die Grünen gewisse Themen fast komplett aufgegeben, um bei anderen zumindest ein ordentliches Verhandlungsergebnis vorweisen zu können. Im Bereich Asyl ist der Diskurs so nach rechts gedreht, dass hier offenbar jeder Widerstand fallen gelassen wurde. Beim Klima-Thema hingegen machen die Grünen brav, was von ihnen erwartet wird – konstruktive Lösungen zum Erreichen der Klimaziele. Richtig schmerzhaft sind diese für die ÖVP aber nicht. Schon gar nicht angesichts der Stimmung innerhalb der Bevölkerung.
So konnte der alte Kanzleramts- und neue Finanzminister, Gernot Blümel von der ÖVP, im ZIB 2-Interview keine einzige Maßnahme im Regierungsprogramm nennen, die der ÖVP größeres Kopfzerbrechen bereitet hätte. Die Schmerzgrenzen wurden nur auf grüner Seite getestet, die ÖVP darf in ihrer Komfortzone bleiben. Diese Komfortzone bewegt sich unter Sebastian Kurz nicht mehr nur hart am rechten Rand: Die ÖVP erweitert die Grenzen sowohl des Sag- als auch des Umsetzbaren immer weiter nach rechts. Nicht nur in Migrationsfragen, sondern auch sozialpolitisch. Das haben die Einführung des 12-Stunden-Arbeitstags, die Kürzung der Mindestsicherung als letztem sozialen Netz sowie die Entmachtung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Sozialversicherung dramatisch gezeigt.
All das hatte Kurz mit der rechtsextremen FPÖ durchgesetzt. Das neue Regierungsprogramm mit den Grünen würde das nun stillschweigend zementieren.
Es sollte eine Warnung sein, wie schnell die Grünen von Kurz’ ÖVP lernen
Mit der neuen bürgerlichen Koalition versucht Sebastian Kurz etwas, das schon lange vor seiner Zusammenarbeit mit Strache und der FPÖ begann: der extremen Rechten vermeintlich beizukommen, nicht zuletzt, indem man ihre Sprache spricht und ihre Politik selbst umsetzt.
Bei Kurz und der ÖVP haben wir uns daran längst gewöhnt. Dass dies jetzt auch mit grünem Anstrich und unter Einbeziehung des attraktiven Klima-Themas passiert, ist neu und passiert nicht zuletzt unter einer Teilaufgabe dessen, was die Grünen als Partei ausgemacht hat.
Sie geben für die Regierungsbeteiligung ihre Glaubwürdigkeit und Stärke in relevanten und umkämpften Politikfeldern schlicht auf. Das sollte Warnung für alle grünen Parteien in Europa sein, ihre Schmerzgrenzen nicht allzu weit zu verschieben. Denn damit werden sie den Nimbus der Alternative verlieren und langfristig auch Wählerinnen und Wähler verlieren, die sich einen Gegenpart zu rechtskonservativer Politik von den Grünen erwartet haben.
Welchen Einfluss die ÖVP schon jetzt auf die Grünen hat, zeigte ich in den Wochen rund um den Jahreswechsel. Immer mehr Details aus den laufenden Regierungsverhandlungen wurden bekannt: die Präventivhaft etwa und das Heraustrennen der wichtigen Arbeits-Agenden aus dem Sozialressort. Der starke linke Flügel der Grünen war schockiert.
Doch die Parteiführung ließ den Sturm der Entrüstung über die Feiertage vorüberziehen und verkündete an Neujahr die Regierung und am Tag darauf das Programm. Da hatten sich die Kritikerinnen und Kritiker in ihrer Wut und ihrem Entsetzen längst abreagiert. Das Spiel mit den Medien, das Sich-zunutze-Machen der Dynamiken der sozialen Netzwerken – das haben die Grünen schnell von Kurz und der ÖVP gelernt.
Es dürfte nicht die letzte Anpassung bleiben.
Update vom 04.01.2020, 17:45 Uhr: In einer früheren Version stand, dass der Koalitionsvertrag 164 Seiten umfasst. Das ist falsch. Er umfasst 328 Seiten.
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