„Ohne Fußball wären wir uns fremd”—wie ich meinem Vater nur über den BVB näher kommen konnte

Marlene* hatte immer große Probleme, von ihrem Vater respektiert zu werden und eine emotionale Bindung zu ihm aufzubauen. Ihre Beziehung war lange Zeit unterkühlt und versachlicht. Der Fußball bot ihr eine Chance, diese Distanz zu überwinden. Dies ist nicht nur ihre Geschichte:

Protokolliert von Jens Winter; Illustration: Sarah Schmitt

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Champions-League-Finale 2013 gegen Bayern: Es war das wichtigste Match für die Borussia, seit ich denken konnte. Das Spiel selbst habe ich mit Freunden geschaut und mein Papa mit seinen. Wir hatten jedoch ausgemacht, dass wir uns danach unbedingt sehen müssen—egal, wie es ausgeht. Diesen Moment mussten wir einfach zusammen erleben.

Dortmund verlor das Finale. Ich schaltete mein Handy aus und kam erst um fünf Uhr morgens nach Hause. Mein Vater war noch immer wach. Er saß am Küchentisch, vor ihm gefühlt 15 leere Bierflaschen. Sein Kopf war gesenkt und er stierte auf den Tisch, doch als ich hereinkam, schaute er auf. Sein Blick war leer. Dann schrie er mich an, wo ich gewesen war. Er war so wütend wie noch nie. Ich hatte Angst, dass er auf mich losgeht. Ich fing an zu weinen und entgegnete, dass das nichts mit mir zu tun habe und er nur so sauer sei, weil sein beschissener Verein verloren hat. Er sagte, „Ja, das stimmt”, und wir fielen uns um den Hals.

Irgendwie ist dieses Erlebnis symptomatisch für unsere Beziehung. Symptomatisch deswegen, weil er mich anschreit und weil wir uns am Ende in den Armen liegen. Und wegen der Borussia.

Die Borussia ist gleichzeitig auch die größte Konstante in unserem Leben. Alles fing damit an, dass er mich mit gerade mal vier Monaten in einen BVB-Strampler zwängte. Er zog sich sein heiß geliebtes Zorc-Trikot an und ließ uns beide dann von einem professionellen Fotografen ablichten. Das Bild ziert noch heute die Wand seiner Wohnung.

Ab diesem Moment waren die Weichen gestellt. Ich konnte nur Borussin werden. Als Alt-Hool und ehemaliger Allesfahrer nahm er mich früh mit ins Westfalenstadion. An die ersten Male kann ich mich gar nicht erinnern, so klein war ich. Allerdings müssen es die Kindheitsmomente der besseren Sorte gewesen sein, denn abseits von Fußball war unser Verhältnis mehr als schwierig.

Passend dazu: Mein Doppelleben als Hooligan ist anstrengend, aber ich würde nichts anders machen

Auf der einen Seite hatte er schon immer große Probleme damit, Nähe und Liebe zu zeigen. Er küsste mich fast nie, hat mir nie witzige Sachen beigebracht oder mich auf die Schultern gehoben. Auf der anderen Seite war er sehr konservativ und aufgrund seines Jobs als Anwalt so anspruchsvoll und rechthaberisch, dass er mich ständig maßregelte und mir vieles verbot.

Dabei bewunderte ich ihn sehr. Er hat es tatsächlich geschafft, nach seiner Assi-Phase als Dortmund-Ultra ein erfolgreicher Anwalt zu werden. Er hat ein sicheres, fast herrisches Auftreten. Er weiß sehr viel und wenn er mit seinen Jungs zusammen ist, macht er sogar Witze.

Doch alles, was ich machte, musste sinnvoll und nützlich sein. So musste ich in den Chor, damit meine Stimme geschult werde, und Volleyball spielen, damit ich Ehrgeiz entwickle. Ich hasste beides. Als ich in Mathe in der 4. Klasse mal mit einer 3 nach Hause kam, war er außer sich vor Wut. Ich genügte nie seinen Ansprüchen und er war ständig unzufrieden mit mir.

Unsere ganze Kommunikation spielte sich in dem Radius „Wie läuft es in der Schule? – Wann musst du zum Volleyball? – Lies doch mal ein Buch” ab. Alles, was er zu mir sagte, war sachlich und zweckgebunden. Das machte mich wahnsinnig traurig und ich hätte am liebsten gar nicht mehr mit ihm geredet.

Jeden Samstag haben wir zusammen Sportschau geschaut. Anfangs hat mich das nicht groß interessiert. Ich hatte hauptsächlich Mädchen-Freunde und wollte lieber wie sie Scoubidou-Bänder basteln oder mein Puppenhaus neu dekorieren.

Ich hatte ein wenig die Hoffnung verloren, jemals eine wirkliche Bindung mit ihm eingehen zu können. Das änderte sich jedoch, als sich meine Eltern scheiden ließen. Ich sah ihn nur noch an den Wochenenden, an denen ich zu ihm fuhr. Auf einmal musste ich mir Gedanken darüber machen, was wir mit unserer gemeinsamen Zeit machen. Und er auch.

Zu Beginn hat er sich haufenweise Unternehmungen für uns ausgedacht. Mal waren wir im Zoo, mal im Sea Life Oberhausen und einmal sind wir sogar ins Legoland gefahren. Das war alles schön, aber irgendwie auch sehr verkrampft. Davor war bei sowas ja immer meine Mutter dabei und mein Vater eher so Statist. Am meisten habe ich deshalb die Tage genossen, an denen er mich mit ins Stadion genommen hat oder wir einfach gemeinsam Sportschau geschaut haben—wie früher. Beim Fußball war er immer sehr gelöst.

Es war keine zwanghafte Beschäftigungstherapie, sondern er hat begeistert versucht, mir das Spiel sowie die Spieler und Vereinshistorie von Borussia Dortmund näher zu bringen. Er ist dabei richtig aus sich rausgekommen. Ich habe zum ersten Mal verstanden, wofür mein Vater brennt, und das hat mich begeistert. Ich habe daraufhin tatsächlich begonnen, mich für Fußball zu interessieren.

Und ich habe nicht nur angefangen, mich für Fußball zu interessieren, sondern mich auch wirklich damit zu beschäftigen. Ich habe regelmäßig den Kicker gelesen und meine Mädchen-Clique gegen eine Jungs-Clique ausgetauscht. Bald konnte ich richtig mitreden, wenn mein Vater zum Fußballgucken Freunde und deren Söhne eingeladen hatte. Und auch beim Fußball-Bingo (der Nachname eines Spielers wird genannt, den Vornamen gilt es zu erraten) wurde ich zur allseits respektierten Mitspielerin. Meinen Vater hat das richtig stolz gemacht, dass seine Kleine sich so gut auskennt. Ich glaube, das war das erste Mal, dass er wirklich stolz auf mich war.

Irgendwann hat er mich sogar zu seinen Yuppie-Freunden zum Fußballgucken mitgenommen. Die haben gedacht, ich würde nur mitkommen, um ein wenig Zeit mit meinem Papa verbringen zu können. Aber als ich den Mund aufmachte und angefangen habe, die Taktik des Trainers zu kritisieren, waren alle baff. Das hätte dem kleinen Mädchen von Papa niemand zugetraut.

Wir haben es sogar geschafft, richtig Spaß zu haben miteinander. Wir waren zusammen Skifahren und er hat abends auf der Hütte „Am Borsigplatz geboren” aufgelegt. Dabei lagen wir uns grölend in den Armen, er hat mich hochgehoben und durch die Luft geschleudert. Noch nie hatte ich mit meinem Papa so gelacht.

Ein anderes Mal waren wir bei einem Familienfest eingeladen. Gleichzeitig war dies der 4. Spieltag der Saison 2010/2011, es war das Derby gegen Schalke. Kagawa schoss uns mit einem Doppelpack zum Derbysieger und wir hatten im Gefühl, dass es eine gute Saison wird. Wegen der allzu spießigen Familie meines Vaters, in der kein Platz für Fußball ist, konnten wir unsere Emotionen nicht öffentlich zeigen. So schauten wir uns immer wieder nur verstohlen an und mussten grinsen. Und jeder wusste, was der andere gerade fühlt.

„Kagawa schoss uns mit einem Doppelpack zum Derbysieger und wir hatten im Gefühl, dass es eine gute Saison wird.” Foto: Imago/Sven Simon

Selbstverständlich konnten wir nicht jede Sekunde, die wir zusammen verbrachten, Fußball gucken. Außerhalb unserer Blase mussten wir eine ganz normale Vater-Tochter-Beziehung führen. Das wurde vor allem in der Pubertät, aber auch später, als es darum ging, wie ich meine Zukunft gestalte, sehr anstrengend.

Nach meinem Freiwilligendienst hat er dann tatsächlich das Bett aus meinem Zimmer entfernt—mit der Begründung, ich wolle nach meiner Afrika-Erfahrung jetzt sicher nur noch auf dem Boden schlafen. Er fand das furchtbar komisch, ich fand es einfach nur dumm und stumpf. Er hat mich nicht einmal gefragt, wie es war.

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Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich sofort nach meinem Abitur ein BWL-Studium begonnen, hätte währenddessen schon drei Praktika gemacht und danach sofort bei McKinsey angeheuert. Ich aber habe einen Freiwilligendienst in Uganda absolviert und danach Soziologie studiert. Das hat er nie verstanden und mir nie verziehen, dass ich nicht in seine von Erfolg durchtränkten Fußstapfen trete.

Ich war ernsthaft verletzt und tief enttäuscht. Danach hatten wir fast zwei Monate keinen Kontakt. Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, ob wir den noch hätten, wenn er nicht irgendwann angerufen und mich gefragt hätte, ob wir zusammen Champions League gucken wollen. Dortmund gegen Real. Wir trafen uns in der Kneipe und redeten eine Stunde darüber, wie geil Marco Reus ist. Bei der zwanzigsten Zigarette hat er es dann endlich geschafft, sich zu entschuldigen. Ich war so erleichtert. Einmal mehr war Fußball der rettende Anker in unserer Beziehung.

Ich glaube, viele Menschen finden meine Geschichte traurig. Sie meinen, dass ein Vater auch ohne Fußball in der Lage sein sollte, ein funktionierendes Verhältnis zu seiner Tochter aufzubauen. Doch ganz ehrlich: Ich habe eine Menge Freunde, die auf keinen einzigen bewegenden Moment mit ihrem Vater zurückblicken können. Meine stehen zwar alle in Verbindung zur Borussia, doch wenigstens habe ich welche. Ich finde es schön und auch irgendwie romantisch. Fußball hat tatsächlich die Beziehung zu meinem Vater gerettet.

*Name geändert