Alle lieben den Tag der Deutschen Einheit, weil wir da nicht arbeiten müssen. Aber nach der vergangenen Bundestagswahl hatte der 3. Oktober dieses Mal einen komischen Beigeschmack. Schließlich war das Ergebnis alles andere als einheitlich: Mehr als jeder fünfte Ostdeutsche hat für die AfD gestimmt, im Westen war es rund jeder Zehnte. Seitdem steht die alte Frage wieder im Raum: Warum sind Ost- und Westdeutsche noch immer so verschieden?
Die Frage ist nicht neu, und die alten Antworten werden wieder rausgekramt: die zerklüftete Gesellschaft, die fehlenden Busverbindungen, der Frauenmangel. In einem sind sich die meisten Experten aber einig: Alles, was im Osten hakt, ist hauptsächlich auf die DDR zurückzuführen.
Videos by VICE
Der britische Germanist James Hawes ist anderer Meinung. Ostdeutschland, schreibt er in seinem schon im Juni veröffentlichten Buch namens The Shortest History of Germany, hat sich nicht durch die russische Besatzung verändert. Im Gegenteil: “Die Russen besetzten es, weil es schon immer anders gewesen war.”
Um seine These zu belegen, prescht Hawes auf knapp 230 Seiten einmal durch 2.500 Jahre deutscher Geschichte. Für ihn ist klar: Praktisch jede Katastrophe der deutschen Geschichte – der Nationalsozialismus, die Vertreibung fast aller Deutschen aus Osteuropa und die Teilung – ist das Ergebnis eines schicksalhaften Fehlers: nämlich, dass deutsche Siedler ab dem 12. Jahrhundert die Elbe Richtung Osten überschritten und versuchten, das Land dahinter den dort lebenden Slawen wegzunehmen.
Je weiter die deutschen Siedler nach Osten vordrangen, desto mehr verloren sie ihre Bindung an Europa. Das Ergebnis laut Hawes: das 1701 entstandene Königreich Preußen. Und Preußen war es dann auch, das den Westen im 19. und 20. Jahrhundert mit seinem Antisemitismus und Militarismus immer wieder in den Abgrund zerrte.
Mit dieser gewagten Theorie hat Hawes offensichtlich einen Nerv getroffen: Obwohl es noch nicht übersetzt wurde, steht das Buch in Deutschland auf Platz Eins der Amazon-Charts “Deutsche Geschichte”. Der britische Guardian lobte es als eine “umfassende und souveräne” Erzählung, die Süddeutsche kritisiert zwar die “monokausale Betrachtungsweise”, findet das Buch aber trotzdem “bemerkenswert”. Was sagt Hawes also zum Erfolg der AfD in Ostdeutschland?
VICE: Machen die Ostdeutschen uns alles kaputt?
James Hawes: Wenn dort 40 Prozent der Menschen für die AfD oder die Linke stimmen, ist das ein Problem. Ich glaube, es liegt auf jeden Fall eine große Gefahr darin – besonders, wenn man sich jetzt zu viel Mühe gibt, diese Leute zu umwerben. Man muss einsehen: Es gibt Leute, die nicht für die Demokratie zu gewinnen sind. Es ist nicht nur sinnlos, das zu versuchen, es ist sogar gefährlich. Denn das heißt, dass man sich zu viel von dem aneignet, was die wollen. Wenn die CSU jetzt vom Schließen der rechten Flanke spricht oder Merkel davon, die rechten Wähler im Osten wiederzugewinnen – man kann, soll und darf dabei nicht zu weit gehen. Das war auch in der Weimarer Republik das Problem: Es waren ja vor allem die Wähler östlich der Elbe, die Hitler an die Macht gebracht haben.
Wenn man Ihr Buch liest, bekommt man das Gefühl, alles Schlechte in der deutschen Geschichte kommt aus dem Osten.
Das ist zugespitzt, aber meines Erachtens auch die Wahrheit. Mein Ehrgeiz in dem Buch war auch, Westdeutschland endlich von der Verantwortung für die Weltkriege freizusprechen. Preußen hat es 1870 einfach erobert, das war keine Vereinigung. Deswegen finde ich, dass man auch viel länger über die sogenannte Wiedervereinigung hätte nachdenken sollen.
Sie glauben, dass Ostdeutsche grundsätzlich anders sind als Westdeutsche?
Absolut. Ich möchte aber betonen, dass das nichts mit den Genen oder ähnlichem zu tun hat. Das ist ein Charakter, der aus geschichtlicher Erfahrung gewachsen ist. Wenn man zum Beispiel die Gegenden anschaut, in denen die AfD am allermeisten Stimmen bekommen hat, dann ist das genau dieses Dreieck zwischen Tschechien und Polen – das ist eine klassische Kolonial-Landschaft.
Die Tatsache, dass man so dicht an der Grenze zu Völkern lebt, zu Slawen, die man seit Jahrhunderten versucht hat zu kolonisieren, die verändert einen. Das ist vergleichbar mit der Lage in Irland. Da haben die Engländer sich eingepflanzt, um es zu kolonisieren – und das hat die Engländer dort zu einem anderen Volk gemacht.
Das heißt, man hätte die Elbe nie überqueren sollen?
Richtig. Bis 1147 waren die Deutschen nur im heutigen Westdeutschland. Stellen Sie sich vor: In der Gegend um Berlin sind die Deutschen erst um 1200 ansässig geworden. Zu der Zeit waren Prag und Budapest schon seit 200 Jahren christliche Königreiche. Ostdeutschland ist sehr, sehr neu. Ich glaube, dass die Menschen sich dort unterbewusst noch an ihre Vergangenheit erinnern. Das erklärt diesen autoritären und fremdenfeindlichen Zug in Ostdeutschland.
Wie meinen Sie das?
Jeder Kolonist weiß, dass er sich eigentlich nur durch Macht behaupten kann. Wichtig ist, dass die Deutschen sich östlich der Elbe nie wirklich sicher fühlen konnten. Sie haben im Verteidigungsmodus gelebt, weil ihre Herrschaft prekär war. Das ist der große Unterschied zwischen der west- und der ostdeutschen Erfahrung: Seit Julius Cäsar hat niemand daran gezweifelt, dass die Deutschen in Westdeutschland leben sollten. Da gab es kein kolonisiertes Volk, die Deutschen waren unter sich. Aber östlich der Elbe waren sie immer unter den Slawen. Daher kommt das Misstrauen gegenüber Fremden, ob Polen oder “Asylanten”.
Aber wie kann das heute noch junge Leute prägen, für die die DDR teils nicht viel mehr als eine Kindheitserinnerung ist?
Solche Vorurteile können über Generationen weitergegeben werden, vor allem in ländlichen Gebieten. Ein Beispiel: Im Guardian hat ein Journalist aus der Lausitz berichtet, wie oft man ihm da von Banden polnischer Verbrecher erzählt hat, die über die Grenze kämen, um zu rauben. Die Polizei konnte ihm das überhaupt nicht bestätigen. Das heißt, man wird dort immer noch von diesem Gespenst des bösen Polen geplagt. Der autoritäre Charakter hat seine Wurzeln tief in der kolonialen Vergangenheit.
Auch bei VICE: Aufstand der Rechten: Unterwegs bei Europas größtem Nationalisten-Treffen
Das erklärt für Sie also die Erfolge der AfD?
Der Hang zum Autoritären tauchte dann nach dem Ende der DDR auch im wiedervereinigten Deutschland auf. Den Reflex sieht man heute sowohl bei der Linken als auch bei der AfD: Beide schauen nach Moskau. Das ist ein Reflex bei beiden politischen Extremen in Deutschland, der dem Westen eigentlich völlig unbekannt ist. Das ist ein preußischer, ostelbischer Reflex.
Ein Reflex?
Das kommt aus der Geschichte: Das Verhältnis zwischen Preußen und Russland war immer eng, auch wenn es nicht immer friedlich war. Die Russen waren eine Macht, die man entweder zu beschwichtigen oder zu besiegen hatte. Aber vor allem brauchte man Russland als Verbündeten gegen die Polen.
Sie schreiben, dass Konrad Adenauer selbst fand, dass Deutschland auf große Teile der DDR gut verzichten könnte.
Er wollte West-Berlin mit den Sowjets gegen Thüringen und kleine Teile Sachsens und Mecklenburgs tauschen. Damit wäre die alte Elbgrenze wiederhergestellt gewesen. Aber die Idee hatte er schon länger: 1919 wollte er Westdeutschland per Gesetz von Preußen wegbrechen.
Glauben Sie, dass der Osten gefährlich für Deutschland ist?
Vor allem für Europa, glaube ich. Die Gefahr liegt darin, dass die deutsche Aufmerksamkeit und das deutsche Geld vom Osten beansprucht werden und damit das europäische Projekt des französisch-deutschen Zusammenschlusses in den Hintergrund gerät. Zwei Billionen Euro hat man bisher im Osten versenkt. Das Geld hätte man besser in Westeuropa investiert. Stattdessen hat man das Geld in den Osten gesteckt, aber die Menschen verlassen Ostdeutschland immer noch!
Tatsächlich gehen Experten davon aus, dass die Deutsche Einheit bis jetzt an die zwei Billionen Euro gekostet hat. Trotzdem wird der Osten, so die Einschätzung von Experten etwa des Dresdner ifo-Instituts, “auf absehbare Zeit den Anschluss an den Westen nicht schaffen”.
Aber dass die Menschen Ostdeutschland verlassen, ist auch nichts Neues: Wenn sie die Wahl hatten, sind die Leute immer lieber in den Westen gegangen. Die DDR hat versucht, sie mit der Mauer daran zu hindern, Kohl mit dem Geld. Die D-Mark ist eingeführt worden, weil allein im Jahr 1990 200.000 Leute ausgewandert sind. Wenn man die D-Mark damals nicht eingeführt hätte, hätte es bis zum Millennium weitaus weniger Menschen in Ostdeutschland gegeben. Die wären einfach alle in den Westen gewandert.
Was wäre denn die Alternative zu finanzieller Unterstützung?
Ganz einfach: die ostdeutschen Bundesländer nach 27 Jahren zu den gleichen Bedingungen zu finanzieren wie jedes andere deutsche Bundesland. Das Saarland ist auch sehr arm, das Rheinland hat seine eigenen Probleme. Ostelbien sollte kein “Sonderfall” sein.
In einem Gutachten empfahlen sechs führende Wirtschaftsinstitute dem Innenministerium schon 2011, die Förderpolitik für die neuen Bundesländer zu beenden. Obwohl im Rahmen des sogenannten “Solidarpakts” immer noch jährlich 60 Milliarden Euro in den Osten flössen, würden die neuen Länder nach Meinung der Forscher “niemals vollständig zu den alten Bundesländern aufschließen”. Stattdessen empfahl die Studie, “alle strukturschwachen Regionen in Deutschland in gleicher Weise” zu behandeln.
Aber wie sieht das dann in ein paar Jahrzehnten in Ostdeutschland aus?
Verschiedene Bundesministerien glauben, dass die Bevölkerung in Ostdeutschland weiter sinken wird, und zwar drastisch: in den nächsten 20 Jahren um 14 Prozent. Das ist beispiellos in Europa. Man sollte deshalb einfach zurück zur alten Politik der deutsch-französischen Annäherung. Vor allem in Zeiten von Trump und des verfluchten Brexits. Man darf sich nicht vom Osten ablenken lassen.